aus nzz.ch, 13.7.2019
Samstag, 27. Juli 2019
Wie am Christentum die Antike unterging.
Die Londoner Historikerin und Journalistin Catherine Nixey über die Zerstörungswut der frühen Christen. Eine bis jetzt ziemlich unbekannte Geschichte.
von Peer Teuwsen
Wir treffen uns im Britischen Museum in London. Es gäbe keinen besseren Ort. Hier kann man Statuen sehen, denen Extremitäten fehlen, denen die Nase abgehackt worden ist. Die meisten Besucherinnen und Besucher dürften denken, dies sei einfach dem Zahn der Zeit geschuldet. Sie irren sich. Das ist das Werk der frühen Christen. Die Journalistin und Historikerin Catherine Nixey erzählt in ihrem Buch Heiliger Zorn von diesen barbarischen Taten. In einem «Rausch der Zerstörung» vernichteten die frühen Christen eine unfassbar grosse Zahl von antiken Kunstwerken. Aus einer Welt der Römer, die gelassen alle Götter akzeptierte und fremde Kulte ohne weiteres integrierte, trat man in eine fundamentalistische Welt von religiösem Ausschliesslichkeitsan- spruch ein. Was nicht passte, wurde entfernt. Die Klöster, deren Aufgabe es war, Wissen zu bewahren, liessen Texte löschen, überschreiben oder vernichten. Heilige der katholischen Kirche waren Eiferer, die Tod und Verderben gegenüber den Ungläubigen predigten und sich selbst als Zerstörer betätigten (man feierte Benedikt von Nursia als fanatischen Vernichter antiker Kunstwerke).
Leider wird dem Publikum im Britischen Museum diese Geschichte nicht erzählt – auch wenn man hier einen Germanicus stehen hat, dem die Nase fehlt und ein Christenkreuz auf die Stirn gemeisselt worden ist.
Deshalb seien die Tatsachen des damaligen Horrors nochmals in Erinnerung gerufen. 312 nach Christus konvertiert Kaiser Konstantin der Grosse zum Christentum, nachdem ihm Christen bei der Schlacht an der Milvinischen Brücke in Rom geholfen haben, seine Feinde zu besiegen. Ab 330 werden «heidnische» Tempel entweiht. 385 nehmen die Christen den Tempel der Athene in Palmyra ein und enthaupten die Göttin. 392 zerstört Bischof Theophilus den Tempel von Serapis in Alexandrien. 415 wird die griechische Mathematikerin Hypatia von Christen ermordet. 529 schliesst Kaiser Justinian Christen vom Lehrberuf aus. Im selben Jahr schliesst die Akademie in Athen ihre Tore, womit eine 900 Jahre alte philosophische Tradition zu ihrem Ende kommt.
*
Catherine
Nixey sitzt schon im Museumscafé, als ich die Stufen hinaufhaste. Ihr
Buch ist, zu ihrer eigenen Überraschung, ein Bestseller geworden, vor
allem in den lateinischen Ländern. Sie bestellt sich ein winziges
Zitronentörtchen. Los geht’s.
NZZ Geschichte: Frau Nixey, ist ein Mensch, der an einen einzigen, einen wahren Gott glaubt, ein dummer Mensch?
Catherine Nixey:
Nein. Es gibt viele gute Gründe zu glauben oder einer Religion zu
folgen. Obwohl es in vielen Religionen viele Aspekte gibt, bei denen man
sich schwertut, sie als aufgeklärt zu beschreiben. Wie auch immer: Ich
glaube, dass es extrem gefährlich ist, seinen Verstand jemand oder
irgendetwas auszuliefern – und das verlangt zweifellos jede Religion.
Also ich verlasse mich lieber auf meinen Verstand. Niemals wollte ich
diesen aufgeben für etwas anderes.
Haben Sie geglaubt, als Sie jung waren?
Unbedingt. Meine Eltern, die vor meiner Geburt als Nonne und Mönch gelebt hatten, gingen mit mir in die Kirche, und ich habe jeden Tag gebetet.
Nun,
ich habe um bestimmte Dinge gebeten. Gesundheit für meine Familie, für
mich selbst. Das Gebet ist ja oft nicht mehr als eine Wunschliste für
sich selbst – und selten für andere. Man betet ja nicht für den Status
quo. Und, manchmal, in stillen Stunden, sehne ich mich auch nach dem
Glauben zurück. Wie schön es doch ist, wenn dir jemand oder etwas sagt,
was zu tun ist.
Ist das Christentum denn eine dümmliche Erscheinungsform?
«Dümmlich»
ist nicht das richtige Wort. Ich würde eher von einer Geisteskrankheit
reden. Wer seinen Geist abgibt für etwas Höheres, das ihm versprochen
wird, ist krank.
Also waren die frühen Christen, welche «die grösste Zerstörung in der Menschheitsgeschichte» begangen haben, krank?
Nein,
das ist zu extrem. Aber sie zogen eine grosse Befriedigung aus ihren
Taten. Das sagen die Quellen. Und wenn man einen omnipräsenten Gott hat,
der diese Kunstwerke als böse bezeichnet, ist es ein Leichtes. Dann ist
es eine noble Tat, ja geradezu eine Gefälligkeit, eine Statue zu
zerstören. Mein Vater sagt oft, wäre er jünger gewesen, er wäre wohl zu
einem Selbstmordattentäter geworden: «Es wäre mir nicht schwergefallen,
für meine Religion zu töten.» Er glaubte so stark.
Die
frühen Christen begingen, wie Sie im Buch einen Wissenschafter
zitieren, «die grösste Zerstörung von Kulturgut in der Geschichte der
Menschheit». Wie ging das vor sich?
Es
war vor allem harte Arbeit. Es ist nicht einfach, eine Statue zu
zerstören. Man braucht Äxte, Vorschlaghammer oder Schwerter. Zuerst aber
machten sie sich daran, die Statuen zu stürzen – dabei brach schon
vieles ab. Und dann machten sie dem Rest den Garaus.
Warum taten dies die frühen Christen?
Damals
glaubte man, in Statuen wohnten Dämonen, oder die Statue repräsentierte
selbst einen Dämon. Oder man sagte, Statuen würden den Menschen den
falschen Weg weisen – und müssten deshalb zerstört werden.
Nur
zehn Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner des Römischen Reichs waren
Christen, als Kaiser Konstantin 312 nach Christus zum Christentum
konvertierte. 120 Jahre später sind es 70 bis 90 Prozent. Was machte die
unglaubliche Anziehung dieser monotheistischen Religion aus, dass sie
eine polytheistische Kultur zerstören konnte?
Konstantin
war entscheidend. Dass ein so wichtiger Mann zum Christentum
konvertierte, war ein Fanal für eine Bewegung, die es ja schon vor ihm
gegeben hatte. Er erliess auch Gesetze gegen die «Heiden», und das war
der Anfang der Verfolgung. Ganz wichtig war, dass die Leute, die für die
christliche Kirche arbeiteten, wirklich gut bezahlt wurden. Wessen Brot
ich ess, dessen Lied ich sing. Die Hauptsache ist ja, dass man seine
Familie ernähren kann. Christen wurden also bevorteilt. Auch in der
Armee. Christliche Soldaten hatten, so nimmt man an, unter Konstantin am
Sonntag frei, die anderen wurden sonntags noch härter gedrillt.
.
War der Monotheismus also einfach der einfachere Weg?
In
diesen Zeiten schon. An sich ist Polytheismus natürlich eine
entspanntere Lebensweise. Für jedes Bedürfnis schafft man sich einen
neuen Gott, und da kann einer auch ruhig mal christlich sein. Man hat ja
noch andere. Es gibt viele Quellen, die besagen, dass auch die frühen
Christen damals noch andere Götter hatten. Man besuchte an einem Tag
einen «heidnischen» Tempel und am nächsten Tag einen christlichen.
Konstantin brachte dann die Wende.
Würden Sie das Christentum als Tyrannei bezeichnen?
Damals
war das ohne Zweifel so. Konstantin war ein Tyrann gegenüber den
«Heiden». Er liess ihre Tempel schleifen, schliessen oder umwidmen. Und
folgten die «Heiden» der neuen Staatsreligion nicht, liessen sie sich
also nicht taufen, wurden sie exiliert, wenn nicht getötet.
Gibt es Quellen, die von Protesten gegen diese brutale Christianisierung berichten?
Es
gibt Schriftsteller, die sagen, man solle ihre Tempel in Ruhe lassen.
Es gibt Gedichte, die die Zerstörungen beklagen. Und es gibt Berichte
über die gewaltsamen Begegnungen.
Aber Massenproteste gab es nie?
Ich
habe keine gefunden. Wenn die Christen Tempel angriffen, gab es bei
diesen Tempeln Proteste. Sie waren aber nicht dauerhaft. Aber was kann
man denn tun, wenn man einen Regierungsstatthalter mit einer Armee gegen
sich hat?
Zudem hatte Konstantin auch noch seine «Hooligans», die Mönche.
Grauenhaft.
Was die veranstalteten, das war wirklich blanker Terror. Das
unterschied sich nicht vom Vandalismus, den wir vor ein paar Jahren hier
in London erlebt haben. Die liefen einfach durch die Strassen und
machten Sachen kaputt. Einfach weil sie Lust darauf hatten.
Es gibt eine Lust an der Zerstörung.
Unbedingt.
Ich kann mir sogar recht gut vorstellen, dass dies Spass machen kann.
Wenn man irgendjemand anderen hasst, die Reichen, die Regierung, die
andern halt.
Es geht immer zusammen mit Alkohol. Auch die Mönche damals waren betrunken.
Und sie haben dies als Entschuldigung benutzt. Wie kann man Alkohol als Entschuldigung benutzen?
War das Christentum vielleicht moralisch überzeugender als die römische und damals schon ziemlich verweichlichte Lebensweise?
Das
glaube ich nicht. Die Raubzüge in den Tempeln aber haben den Christen
finanziell sehr geholfen. Zudem konnten sie die Steine der Tempel
nutzen, um ihre eigenen Tempel zu bauen – so wie es während der
Reformation in England geschah. Die «Heiden» hatten auch die besten
Orte, das beste Land für ihre Gebäude – die frühen Christen hatten sich
mit kleinen Hauskirchen zu begnügen. Das änderte sich jetzt. Das ist
vielleicht nicht die aufregendste Geschichte, aber es ist eine
pragmatische Geschichte von Geld und Land.
Es begann eine «Tyrannei der Lust». Warum gehorchen Menschen einer solchen Tyrannei?
Das
tun die Menschen heute noch. Das ist aber eine Frage für
Psychologinnen, nicht für Historikerinnen. Warum entscheiden sich
Menschen für den schwierigeren Weg? In den Texten sieht man aber
immerhin, dass viele Menschen diese neuen, klaren Regeln willkommen
geheissen haben. Ich kann das verstehen. Wenn man weniger isst, wird man
heiliger – das schien vielen ein einfacherer Weg, um sein Ziel zu
erreichen.
Das Christentum war erfolgreicher als andere Religionen. Warum?
Die
Fakten sind beeindruckend. Viele Menschen gaben ihre Besitztümer auf,
die Klöster wurden riesig. Der Grund war wohl die scheinbare Sicherheit,
die diese Religion vielen Menschen gab.
Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?
Wann haben Sie diese Geschichte entdeckt?
Eigentlich
schon in der Schule und dann später an der Universität. Da wurde mir
zuerst eine heile, klassische Welt beigebracht, aber ich entdeckte
Brüche, andere Quellen, die von Gewalt berichteten – und ich sah das
Unwohlsein bei meinen Lehrern, wenn ich nachfragte. Dann las ich mehr,
Texte, die meine Lehrer nicht erwähnt hatten.
Haben Sie auch mit Ihren Eltern darüber gesprochen?
Ja, mit meinem Vater. Er hatte das nicht gewusst. Und er war interessiert. Aber da glaubte er schon nicht mehr.
Ist Ihr Vater heute ein Atheist?
Sogar ein sehr überzeugter. Wir beide sind überzeugte Atheisten.
Ihr Vater hat also in ein anderes Extrem gewechselt.
Warum soll es extrem sein, nicht mehr an etwas zu glauben, das man nie gesehen hat und für das es keinen Beweis gibt?
Nun, man könnte sich ja einfach nicht mehr um Religionsfragen scheren.
Er hasst die Kirche nicht, er hat auch den Kontakt gehalten zu einigen seiner früheren Mitbrüder, bis sie gestorben sind. Aber er hat sich nie mehr mit ihnen gestritten.
Dieses Buch ist also auch Ihre persönliche Aufklärung.
Ja. Aber das klingt mir ein bisschen pathetisch.
Entschuldigen Sie, ich bin auch Deutscher.
Schon gut, Ihre Frage ist ja berechtigt. Für mich war dieses Buch schon eine Art Befreiung. Ich brauchte ziemlich lange, mich vom Katholizismus zu lösen, von dieser Indoktrination. Ich ging lange noch regelmässig beten und habe auch noch in Weiss in der Kirche geheiratet. Das würde ich heute nicht mehr tun. Ich fühlte mich lange schuldig, nicht stärker zu glauben. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Und, Gott weiss es, ich habe lange versucht, zum Glauben zurückzufinden. Es ist mir nicht gelungen, zum Glück. Dieses Buch hat mir sehr geholfen dabei.
Sie erzählen also eine Geschichte, die in der Schule nicht erzählt worden ist. Sie sagen aber auch, dass die Verfolgung der Christen, wie Sie uns berichtet wurde, nie in diesem Ausmass stattgefunden hat. Das sei ein Produkt der Marketing-Techniken der katholischen Kirche. Es waren höchstens 1500 in den zehn Jahren der Verfolgung, die getötet wurden.
Es waren sogar nur ein paar hundert – aber auch ich kann da nur spekulieren, wie jede Historikerin, die sich mit diesem Thema beschäftigt. Die Quellen nennen keine exakten Zahlen. Was man aber weiss: Man stellte die Christen meist bloss unter Anklage, man verfolgte sie nur selten. Aber googeln Sie doch einmal «Anklage von Christen»! Das Suchprogramm wird Sie dann fragen, ob Sie nicht eher «Verfolgung von Christen» gemeint haben?
Das heisst, die wahre Geschichte ist immer noch nicht in unseren Köpfen angekommen?
Genau.
Ist das der Grund, warum Ihr Buch in Spanien, Portugal und Italien zu einem Bestseller geworden ist?
Ich habe von dort jedenfalls immer gehört: Dass wir das nicht wussten! Aber so ist das ja generell mit Geschichte. Bei uns in Grossbritannien erinnert man sich an den «Blitz», die Bombenangriffe der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, als eine heroische, wunderbare Zeit des Widerstands. Vor drei Jahren beauftragte man mich bei der Times, die Leserinnen und Leser zu fragen, wie sie sich an diese Zeit erinnern. Sie schickten ihre selbst niedergeschriebenen Erinnerungen ein. Ich erschrak. Die Berichte waren derart grauenvoll. Da war kein Quentchen mehr von Heroismus. Es gab einen Leser, der beschrieb, wie er nach einem Angriff aus dem Luftschutzkeller wieder an die Oberfläche kam. Und da rollte etwas durch die Strasse, er dachte, es sei ein Fussball. Beim Näherkommen sah er, dass es der Kopf eines Jungen war. Ich meine, dieses Grauen hätte schon früher beschrieben werden können – wenn man seinen Kopf eingeschaltet hätte. Wir leben ja nicht in einer Autokratie. Der «Blitz» konnte doch gar keine tolle Zeit gewesen sein. Aber ich glaubte, was man mir erzählt hatte – ich wollte es wohl glauben.
Es gibt doch gar keinen Heroismus.
Sie haben völlig recht. Schaut man genauer hin, ist da immer Schlamm, Lächerlichkeit und Tod.
Hat sich die Menschheit zum Besseren entwickelt seit der Zeit, über die Sie schreiben?
Fragen Sie das im Ernst?
Ich stelle nur eine Frage.
Zum Glück haben sich unsere Regierungen, unsere Gesellschaften verändert, aber die Menschen an sich? Ich bitte Sie!
Man muss ehrlich sein: Die Geschichte, die Sie erzählen, wurde vor Ihnen nur von ganz wenigen Historikern geschildert.
Das stimmt leider. Auch Historiker erzählen die Geschichte, die man hören will.
Muss die Konsequenz also sein: Vertraue nie einem Historiker!
Das hätten Sie gerne, dass ich diesen Satz sage.
Wenn er stimmt.
Ich sage nur: Vertraue nie einem Historiker allein, lies mindestens zwei.
Haben Sie aggressive Reaktionen bekommen?
Natürlich, viele. In christlichen Publikationen wurde ich arg zerrissen. In Spanien wurde ein Interview abgesagt, weil der Chefredaktor den Ton des Buches nicht mochte. Aber ich kann das verstehen, es ist auch nicht weiter schlimm. Sie müssen mich ja widerwärtig finden angesichts dessen, was ich schreibe – es stört ihren Glauben. Kürzlich sah ich im New Yorker einen Cartoon. Die Ehefrau kommt zu ihrem Mann, der vor dem Computer sitzt, und sagt: «Komm jetzt endlich ins Bett.» Er antwortet: «Das geht nicht, jemand im Internet hat unrecht.»
Es gab auch ernsthafte Kritik. Einer bezichtigte Sie der Übertreibung. Von den 700 Tempeln der damaligen Zeit seien nur 10 wirklich geschleift worden.
Das ist unfair. Erstens wissen wir nicht genau, wie viele Tempel es gab. Und, ja, vielleicht wurden nur rund zehn total zerstört. Aber man muss ja einen Tempel nicht total zerstören, da reichen auch ein paar zertrümmerte oder auch nur beschädigte Statuen, um den Leuten Angst und Schrecken einzujagen. Wenn man sagt, es seien nur zehn Tempel zerstört worden, dann ist das, als würde man bei einem Fund von zehn menschlichen Gebeinen darauf schliessen, dass in dieser Gegend nur zehn Menschen gelebt haben.
Wer Ihr Buch liest, wird, ob er will oder nicht, an die Gegenwart erinnert. Ging Ihnen dies auch so?
Es ist bemerkenswert, dass der IS den Statuen in Palmyra 600 Jahre später exakt dieselben Verletzungen zufügte wie die frühen Christen. In den Statuen würden Dämonen wohnen, sagt der IS, die zerstört werden müssten.
Sie zeigen, dass Intoleranz, Ignoranz und Feindseligkeit gegenüber kultureller Diversität nichts Neues ist.
So ist es, leider. Wer ignorant und feindselig ist, findet leicht ein Opfer.
Haben Sie durch Ihr historisches Wissen ein Rezept, was gegen diese Dreifaltigkeit der Ignoranz getan werden könnte?
Es ist so langweilig, aber wir müssen unsere guten, aber gleichzeitig so unattraktiven Werte verteidigen: Demokratie, Bildung, freie Meinungsäusserung. Da hat es die Rechte so viel einfacher, wenn sie sagt: Tut das, glaubt dies!
Sind wir die Griechen und die Römer von heute, die überrannt werden von den Engherzigen und Geistlosen?
Das denke ich nicht. Ich sehe, dass der Pluralismus gewinnt und der Atheismus auch. Was man hingegen beobachten kann, ist, dass der Kern der Strenggläubigen härter und zahlreicher wird.
Wir treten nicht in ein neues Mittelalter ein?
Nein, aber in ein neues Zeitalter der Kommunikation.
An dem Sie nicht teilnehmen. Sie sind weder auf Twitter noch auf Facebook.
Ich kommuniziere nicht gerne in ein schwarzes Loch hinein. Als das Buch herauskam, habe ich Twitter probiert. Aber was da kam, war so aggressiv und verletzend, dass ich es wieder sein liess. Ich glaube halt nicht daran, dass man die Menschen umerziehen kann. Wenn einer glaubt, dann glaubt er. Egal, was ich auf Twitter schreibe.
In Ihrem Buch nehmen Sie eine stark moralische Position ein. Ihr Text ist nicht einfach eine Beschreibung dessen, was passiert ist. Das tun Historikerinnen und Historiker normalerweise nicht.
Tue ich das? Darüber habe ich noch nie nachgedacht.
Das tun Sie, ja. Sie schreiben zum Beispiel: «Kunstliebhaber sahen mit Schrecken, wie einige der grössten Skulpturen der Antike von Menschen zerstört wurden, die zu dumm waren, diese zu schätzen – und sicher zu dumm, sie wiederherzustellen.» Das ist eine moralische Aussage.
Würde ich jetzt mit einem Vorschlaghammer in dieses Museum laufen und beginnen, Statuen zu zertrümmern, dann hätte die Weltöffentlichkeit doch jedes Recht, mich «dumm» oder gar «wahnsinnig» zu nennen. Nur weil jemand in der Vergangenheit gelebt hat, gibt ihm dies nicht das Recht, sich meinem Urteil zu entziehen. Ja, ich weiss, es gibt diese Ansicht, man solle sich als Historikerin jedes Urteils enthalten. Ich teile diese Ansicht einfach nicht.
Und deshalb schimpft man Sie dann eine Journalistin.
Damit kann ich leben. Hauptsache, ich kann, gestützt auf Fakten, eine interessante, überraschende Geschichte erzählen. Im Übrigen ist dies doch scheinheilig. Natürlich kann man all sein Wissen ausbreiten und alle Adjektive weglassen – und trotzdem urteilt man. Indem ich weglasse, urteile ich. Wer eine Foto macht, entscheidet sich für einen Ausschnitt der Wirklichkeit. Das ist aber nicht die ganze Wirklichkeit.
Catherine
Nixey, Jahrgang 1980, hat Geschichte in Cambridge studiert. Sie
arbeitete als Geschichtslehrerin, bevor sie ins Kulturressort der Times
wechselte. Heute ist sie freie Journalistin und schreibt vor allem für
den Economist, die New York Times und eben die Times. Sie lebt mit ihrem Mann, der das Wissenschaftsressort der Times leitet, in London. Ihr Buch Heiliger Zorn. Wie die frühen Christen die Antike zerstörten ist bei DVA erschienen.
Nota. - Das ist eine Apostatin, die sich den Zorn über ihre belogene Jugend von der Seele schreibt. Wir sind nicht alle so. Ich z. B. bin atheistisch getauft, mit Spreewasser, und in einer sprichwörtlich gottlosen Stadt groß- geworden. Ich habe keine Rechnungen zu begleichen, ich kann ganz gelassen Abstand halten. Und ich bin heil- froh, dass ich im christlich geprägten Abendland lebe, weil ich woanders nicht hingehöre. Es ist nämlich nicht eine Religion so gut und schlecht wie die andere. Es kommt schon darauf an, was sie lehrt.
Auch dies sei nicht verhohlen: Wirklich untergegangen ist die Antike nur in Europa - während der Völker- wanderung, die zur Christianisierung der Germanen führte. Und da waren es die verbliebenern Rudimente der römischen Kirche - die Bischofssitze, einige Klöster -, die einen Grundbestand antiker Bildung in die Neue Zeit hinüberretteten.
In Vorderasien und Nordafrika war das anders. Da war keine Völkerwanderung, das oströmische Reich hielt stand, und als der Islam aufkam, konnte er lückenlos ans antike Erbe anschließen. Er hat es mehrere Jahr- hunderte ehrenvoll bewahrt. Doch Anlass zu einem Neubeginn fand sich nicht. Nach den Kreuzzügen gab es nurmehr politischen Zerfall und kulturelle Stagnation.
JE
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