Historikerschule der „Annales“
Im Fach blieb das Klima stabil
Witterungsumschläge erlebte er nie als jäh, dafür spürte er sie zu
früh. Emmanuel Le Roy Ladurie, gerade 90 geworden, übertreibt im
autobiographischen Rückblick die Kontinuität der Historikerschule der
„Annales“.
Von
Thomas Kroll
Die französische Schule der „Annales“ prägte bis Mitte der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts weltweit die Sozialgeschichtsschreibung und erreichte ein beachtliches Lesepublikum. Ein Bestseller war „Montaillou“, die 1975 von Emmanuel Le Roy Ladurie publizierte Alltagsgeschichte eines Dorfes in Südfrankreich an der Wende vom dreizehnten zum vierzehnten Jahrhundert, die mit ihren Übersetzungen eine Auflage von fast einer Million Exemplaren erreichte. Das Buch traf den Nerv der Zeit, weil seine Leser eine in der modernen Industriegesellschaft längst verschwundene ländliche Welt wiederzufinden glaubten. Unter Historikern machte „Montaillou“ Furore, weil das Buch Antworten auf die Frage versprach, wie man die Geschichte der Gesellschaft ohne den in die Krise geratenen Marxismus oder soziologische Modernisierungstheorien erklären konnte. Le Roy Ladurie avancierte zum Haupt der „nouvelle histoire“, die mittels anthropologischer Theorien das Subjekt und dessen Erfahrungen in den Mittelpunkt historiographischer Betrachtung rückte.
Emannuel Le Roy-Ladurie
Allerdings lehnt er selbst
den Begriff der „nouvelle historie“ ab und zieht es vor, einfach nur von
der Geschichtsschreibung der Annales zu sprechen. Damit betont er die
Kontinuitäten sowohl in seinem Werk als auch in der französischen
Historiographie, wie eine jüngst publizierte Biographie von Le Roy
Ladurie zeigt, die in enger Zusammenarbeit des Protagonisten mit seinem
Biographen entstanden ist (Ştefan Lemny: „Emmanuel Le Roy Ladurie“. Une
vie face à l’histoire. Éditions Hermann, Paris 2018. 570 S., 22 Abb.,
br., 28,– ).
Le Roy Ladurie, der am 19. Juli seinen neunzigsten Geburtstag feiern konnte, ist ein Vertreter der dritten Generation der „Annales“. Er trat das Erbe von Ernest Labrousse und Fernand Braudel an, die bis in die sechziger Jahre die Fäden in der französischen Historikerzunft zogen. Da Braudel die Karriere von Le Roy Ladurie systematisch förderte, galt der junge Historiker schon früh als Kronprinz des Meisters. Als Braudel sich 1967 aus der Redaktion zurückzog, übernahm Le Roy Ladurie die Leitung.
Le Roy Ladurie, der am 19. Juli seinen neunzigsten Geburtstag feiern konnte, ist ein Vertreter der dritten Generation der „Annales“. Er trat das Erbe von Ernest Labrousse und Fernand Braudel an, die bis in die sechziger Jahre die Fäden in der französischen Historikerzunft zogen. Da Braudel die Karriere von Le Roy Ladurie systematisch förderte, galt der junge Historiker schon früh als Kronprinz des Meisters. Als Braudel sich 1967 aus der Redaktion zurückzog, übernahm Le Roy Ladurie die Leitung.
Das Neueste aus Alteuropa in Radio und Fernsehen
1973 folgte er seinem Mentor auf dem
Lehrstuhl am Collège de France, schließlich suchte und fand er sogar die
Nähe zur Staatsmacht, als er während der Präsidentschaft von François Mitterrand
von 1987 bis 1994 die Nationalbibliothek leitete. Diese herausragende
Position verdankte sich freilich nicht nur klassischer Patronage und
wissenschaftlichem Verdienst, sondern auch dem offenen Umgang mit den
Medien. Le Roy Ladurie wurde in den siebziger Jahren eine Art Star in
Radio und Fernsehen, wo er seine Ideen von einer Sozialgeschichte
ländlicher Gesellschaften verbreitete.
Bei genauer Betrachtung lassen seine Schriften der siebziger Jahre allerdings einen Bruch mit den Vorstellungen von Braudel und Labrousse erkennen. Die zweite Generation der „Annales“ verfolgte einen szientistischen Ansatz. Man wollte das „Soziale“ durch die Erhebung umfangreicher Datenreihen vermessen. Am Ende der sechziger Jahre galt Le Roy Ladurie zunächst selbst (ähnlich wie sein Freund François Furet) sogar als jüngerer Hauptvertreter der quantifizierenden Geschichtsschreibung, die er als die einzig wissenschaftliche Form der Historie feierte.
Bei genauer Betrachtung lassen seine Schriften der siebziger Jahre allerdings einen Bruch mit den Vorstellungen von Braudel und Labrousse erkennen. Die zweite Generation der „Annales“ verfolgte einen szientistischen Ansatz. Man wollte das „Soziale“ durch die Erhebung umfangreicher Datenreihen vermessen. Am Ende der sechziger Jahre galt Le Roy Ladurie zunächst selbst (ähnlich wie sein Freund François Furet) sogar als jüngerer Hauptvertreter der quantifizierenden Geschichtsschreibung, die er als die einzig wissenschaftliche Form der Historie feierte.
Eindringlich warb er für die Verwendung des Computers, weil dieser dazu in der Lage sei, große historische Datenmassen zu beherrschen. Zur Berühmtheit gelangt ist das 1968 von Le Roy Ladurie formulierte Diktum, der Historiker von morgen werde Programmierer sein, oder es werde ihn nicht mehr geben. Begeisterung für den Zauber der Zahl kennzeichnete auch seine Qualifikationsschrift über die Bauern des Languedoc von 1966, welche die Grundbesitzverteilung der Region vom vierzehnten bis ins achtzehnte Jahrhundert nachzeichnete.
Die demographische Blockade der vormodernen Gesellschaft
Obwohl Le Roy Ladurie Geschichte als
Prozess auffasste, war es keineswegs der historische Materialismus von
Marx, sondern die Bevölkerungslehre von Malthus, die Le Roy Ladurie als
theoretische Inspirationsquelle diente. So trieb den Historiker nicht
die Frage nach den Ursprüngen des Kapitalismus um, sondern das Problem,
warum die vormoderne Gesellschaft kein Wachstum hervorbrachte und
insofern demographisch quasi blockiert war. In mancher Hinsicht spiegeln
sich in diesem historiographischen Programm Erfahrungen des dynamischen
Wirtschaftswachstums und der aufkommenden Konsumgesellschaft
Frankreichs während der „Trente Glorieuses“, der in der
sozialdemokratischen Historiographie Westeuropas verklärten Boomjahre
der Nachkriegszeit.
Der Abschied von der quantifizierenden Geschichtsschreibung hat verschiedene Gründe. Le Roy Ladurie war schon in jungen Jahren historiographischen Moden gegenüber durchaus aufgeschlossen gewesen und witterte früh entsprechende Stimmungswechsel. Wichtig war die Erfahrung der Studentenrevolte von 1968, die er tief verabscheute, mehr noch die Ölpreiskrise von 1973, die Vorstellungen eines grenzenlosen industriellen Wachstums in Frage stellte.
Als Ursache denkbar sind ferner in der Biographie weiter zurückreichende politische Erfahrungen, da Le Roy Ladurie (wie Furet oder Maurice Agulhon) jener Generation von französischen Sozialhistorikern angehörte, die sich in den fünfziger Jahren in der Kommunistischen Partei engagierten. Der KPF war Le Roy Ladurie 1949 aus Begeisterung über die chinesische Revolution beigetreten, möglicherweise jedoch auch, um den Makel wettzumachen, dass sein Vater als Minister in einem Kabinett des Vichy-Regimes gesessen hatte, bevor er sich der Résistance anschloss.
Auch wenn ursächliche Zusammenhänge zwischen historischem Werk und persönlicher politischer Entwicklung methodisch schwer zu fassen sind, spricht einiges dafür, dass der Austritt aus der KPF nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands, die folgende Ablehnung der Ideologie des Marxismus, ein Zwischenspiel in der unabhängigen Linken und schließlich eine allmähliche Annäherung an den liberalen Antitotalitarismus bei Le Roy Ladurie wissenschaftliche Energien und Innovationspotentiale freisetzten. Eine Entpolitisierung ist darin allerdings nicht zu sehen. Darauf verweist nicht zuletzt das Alterswerk, in dem sich der immer noch produktive Historiker mit der Geschichte des Klimawandels befasst.
Der Abschied von der quantifizierenden Geschichtsschreibung hat verschiedene Gründe. Le Roy Ladurie war schon in jungen Jahren historiographischen Moden gegenüber durchaus aufgeschlossen gewesen und witterte früh entsprechende Stimmungswechsel. Wichtig war die Erfahrung der Studentenrevolte von 1968, die er tief verabscheute, mehr noch die Ölpreiskrise von 1973, die Vorstellungen eines grenzenlosen industriellen Wachstums in Frage stellte.
Als Ursache denkbar sind ferner in der Biographie weiter zurückreichende politische Erfahrungen, da Le Roy Ladurie (wie Furet oder Maurice Agulhon) jener Generation von französischen Sozialhistorikern angehörte, die sich in den fünfziger Jahren in der Kommunistischen Partei engagierten. Der KPF war Le Roy Ladurie 1949 aus Begeisterung über die chinesische Revolution beigetreten, möglicherweise jedoch auch, um den Makel wettzumachen, dass sein Vater als Minister in einem Kabinett des Vichy-Regimes gesessen hatte, bevor er sich der Résistance anschloss.
Auch wenn ursächliche Zusammenhänge zwischen historischem Werk und persönlicher politischer Entwicklung methodisch schwer zu fassen sind, spricht einiges dafür, dass der Austritt aus der KPF nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands, die folgende Ablehnung der Ideologie des Marxismus, ein Zwischenspiel in der unabhängigen Linken und schließlich eine allmähliche Annäherung an den liberalen Antitotalitarismus bei Le Roy Ladurie wissenschaftliche Energien und Innovationspotentiale freisetzten. Eine Entpolitisierung ist darin allerdings nicht zu sehen. Darauf verweist nicht zuletzt das Alterswerk, in dem sich der immer noch produktive Historiker mit der Geschichte des Klimawandels befasst.
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