Sonntag, 29. Dezember 2013

Die normative Kraft des Faktischen.

aus Der Standard, Wien ,29. 12. 2013

Hydraulik der Macht, komplexe Krisen
Drei bemerkenswerte Sachbücher des Jahres 2013 befassen sich mit Krisenphänomenen: vor dem Ersten Weltkrieg und in der Gegenwart

von Bert Rebhandl 

Im Jahr 1892 schrieb der österreichische Jurist Georg Jellinek ein Buch mit dem Titel "System der subjektiven öffentlichen Rechte", in dem er von der "normativen Kraft des Faktischen" sprach. Die Formulierung ist zu einer Redewendung geworden; sie verweist darauf, dass wir uns in der Regel auch an außergewöhnliche Umstände irgendwie gewöhnen und sie schließlich als normal ansehen. So ist zum Beispiel nicht so richtig klar, ob die Mittelschichten derzeit im reichen Zentrum Europas in einer Krise leben oder von dieser nur am Rande betroffen sind, etwa durch extrem niedrige Sparzinsen. Politiker argumentieren gern mit der normativen Kraft des Faktischen, während Politik doch eigentlich zum Ziel hätte, das Faktische mit dem Erstrebenswerten zu vermitteln.

In ähnlicher Weise war den Eliten und auch dem größten Teil der Bevölkerung in den Monaten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht klar, ob es Alternativen zu der internationalen Nervosität gab, mit der die europäischen Mächte auf die Katastrophe zusteuerten. Das Faktische schien zu übermächtig, die Zukunft war nur eingeschränkt offen, wie Christopher Clark in seinem Buch "Die Schlafwandler" schreibt. Auf 900 Seiten erschließt der britische Historiker darin die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs. Das Buch findet sich seit vielen Wochen ganz oben in den Sachbuch-Bestsellerlisten. Das ist ein Erfolg, der Fragen aufwirft, die auf das Lesen von Sachbüchern insgesamt zurückwirken.
Denn eine der Überlegungen zu der Attraktion von Clarks detailreichem Schinken weist in die Richtung, dass das Buch eben als ein historisches Beispiel für eine sich schließende Zukunft gelesen wird. Clark selbst spricht an einer Stelle von der Julikrise von 1914 als der "komplexesten und undurchschaubarsten Krise der Moderne".

Taktische Mittel

Er versucht dabei nun nicht, diese Komplexität und Undurchschaubarkeit aufzulösen, sondern ihr in seiner Darstellung gerecht zu werden. Geschichte wird für den in Cambridge lehrenden Historiker zu einer Erfahrung fehlenden Durchblicks. Die handelnden Personen sind allesamt zu sehr in die "Hydraulik" oder "Fluidität" der Macht verstrickt, als dass sie in der Lage wären, einen klaren alternativen Gedanken zu fassen, der die "normative Kraft des Faktischen" außer Kraft setzt. Clark erwähnt den staatsrechtlichen Klassiker von Jellinek aus dem Jahr 1892 nur am Rande, allerdings an zentraler Stelle seines Buches, nämlich im Zuge der Zwischenbilanz, die er zieht, bevor er zu dem Attentat von Sarajevo kommt.

Der Effekt, den Clark mit seiner Gelehrsamkeit beim Lesen erzeugt, ist dabei selbst ein Aspekt von Modernität. Denn er löst das historische Handeln mehr oder weniger in kleinteilige Horizontlagen auf. Ein kurzer Passus zum Schlieffen-Plan macht das sehr schön deutlich. Während meiner Schulzeit war das noch einer der zentralen Lerninhalte zum Ersten Weltkrieg. Er stand für die strategische Vorbereitung Deutschlands auf einen Zweifrontenkrieg, und zwar schon ein Jahrzehnt vor dessen Ausbruch.

Clark zitiert nun mehr oder weniger en passant eine Studie, dass der "Kriegsplan" von Schlieffen möglicherweise gar nicht als solcher gedacht war, sondern ein taktisches Mittel in den Bemühungen einer Fraktion um den deutschen Kriegsminister, den fiskalkonservativen Kanzler Bethmann Hollweg zu größeren Militärausgaben zu bewegen. Was mir in der Schule also noch als taktische Idee von hannibalischer Größe nahegebracht worden war, wird bei Clark zu einem Ereignis von sehr heutiger Resonanz: zu einem Detail in einem innenpolitischen Verteilungskampf.

Man riskiert wohl nicht zu viel, wenn man den Erfolg von "Die Schlafwandler" auch in einer bestimmten Ambivalenz begründet sieht. Denn bei Clark löst sich Komplexität letztendlich auf Detailliertheit hin auf, sein Buch liest sich stellenweise wie eine Meditation darüber, dass relativ hoch entwickelte Mächte 1912 ihre Politik aus Zeitungsartikeln herleiteten, die einander die Büros verschiedener Ministerien zuschickten, nicht selten in dem teilweise sogar begründeten Glauben, aus einem lancierten Text spreche die gegnerische Regierung. Die Gründlichkeit, mit der Clark dies alles erzählt, ist ermüdend, und auch ein wenig fatalistisch. "Die Schlafwandler" ist kein Menetekel, aber doch ein Abgesang auf die Idee von historischer Handlungsmacht. Die "undurchschaubarste Krise der Moderne" löste sich von selbst, und zwar höchst gewaltsam, und sie brauchte dazu ein halbes Jahrhundert.

Zum Abschluss seines Buches legt Christopher Clark selbst einen aktuellen Bezug nahe: Er sieht Parallelen zu der Finanzkrise in der Eurozone 2011/2012: "Die ganze Zeit über nützten die politischen Akteure während der Eurokrise die Möglichkeit einer allgemeinen Katastrophe aus, um sich bestimmte Vorteile zu verschaffen. So gesehen sind die Akteure von 1914 unsere Zeitgenossen." Allerdings sind die Unterschiede, wie er danach gleich einräumt, ebenso bedeutend wie die Gemeinsamkeiten. Eine wichtige Gemeinsamkeit entgeht ihm dabei sogar, obwohl er sie selber nahegelegt hat: Die Finanzkrisen seit 2008 sind Krisen, in denen es wesentlich um die "normative Kraft des Faktischen" geht.

Das Faktische ist in diesem Fall eine kapitalistische Wirtschaftsordnung, die als alternativlos gilt. Der Kapitalismus muss sich nicht mehr legitimieren, während er im Grunde in einer seiner größten "Legitimationskrisen" steckt. Das ist jedenfalls eine der Pointen des Buches "Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Sozialismus" von Wolfgang Streeck. Der in Köln lehrende Soziologe sucht darin nach einer historischen Verortung der gegenwärtigen Schwierigkeiten zwischen Geld- und Realwirtschaft. Er findet das Ursprungsszenario an der Schwelle von den Sechziger- zu den Siebzigerjahren, in einer Phase also, in der bestimmte Übereinkünfte aus den Wirtschaftswunder-Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg brüchig wurden. Der Kapitalismus als "gesellschaftliche Großformation" hatte sich in dieser Periode um eine "demokratische Lizenz" bemüht, nun aber brach "die alte Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie" wieder auf.

Streeck zieht aus der Beobachtung, dass die Kritische Theorie um Adorno und Friedrich Pollock das Kapital als Akteur unterschätzt hatte, einen konsequenten Schluss und setzt es mit Macht als Handlungsfaktor ein: Das Kapitalinteresse als solches revoltiert seit den Siebzigerjahren gegen die demokratisch eingehegte "mixed economy" der Nachkriegszeit. Die Politik reagiert darauf, indem sie Zeit kauft: durch Wohlfahrtsleistungen, die zu Staatsschulden führen; durch Privatisierung öffentlicher Güter; durch Vergrößerung der Geldmenge; durch Verschuldung der privaten Haushalte, die nun für Leistungen aufkommen müssen, aus denen sich der Staat zurückzieht. Streeck löst also eine Krise, die es an Undurchschaubarkeit durchaus mit der von 1914 aufnehmen kann, in einen einfachen Gegensatz auf: Kapitalismus und Demokratie gehen nicht Hand in Hand, sondern der eine treibt die andere vor sich her.

Seine konkreten Vorschläge für einen "Rückbau der Währungsunion" und ein "europäisches Bretton Woods" (also ein reguliertes Wechselkurssystem) sind vergleichsweise pragmatisch. Der Vorzug von Streecks Buch liegt aber darin, dass er den demokratischen Kapitalismus als historische Formation konturiert. Ohne es so richtig zu begreifen, haben die heute Fünfzigjährigen einen Formationswechsel mehr oder weniger erlitten - ein Exempel für eine "normative Kraft des Faktischen", gegen die sich erst wieder eine demokratische Politik formieren muss.

Es gibt wohl nur noch eine historische Formation, in der sich das "Faktische" noch allgemeiner und normativer zeigt als in den verschiedenen Marktordnungen der Wirtschaft: in jenem wissenschaftlichen (modernen) Weltbild, das uns auf eine umfassende Naturordnung verweist, in der alles zusammenhängt. Die immer noch enormen Fortschritte, die auf diesem Feld erzielt werden, haben gerade in den letzten Jahren zu einem neuen "Naturalismus" geführt, der immer wieder auch auf die menschliche Handlungsfreiheit veranschlagt wird. Für eine solche gibt es in einem radikalen Szientismus keinen Raum.

Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel antwortet auf diesen Reduktionismus in seinem Buch "Geist und Kosmos" mit einer weitreichenden Revision des Stellenwerts des wissenschaftlichen Weltbilds. Der Untertitel enthält gleich zwei der wesentlichen Begriffe, und er zeigt bereits den Argumentationsduktus von Nagel: "Warum die neodarwinistische materialistische Konzeption von Natur so gut wie sicher falsch ist". Nagel zielt nicht auf eine neue Gewissheit, sondern zuerst einmal auf eine Relativierung alter Gewissheiten. Er legt geduldig dar, warum er es für unwahrscheinlich hält, dass der Geist (also die menschliche Fähigkeit, sich denkend auf sich selbst und auf die Welt zu beziehen) das Produkt evolutionären Zufalls* ist. Dass ein Wesen, das von den Bakterien abstammt, wie Nagel in einer schönen Zuspitzung einer der berühmten "Kränkungen" formuliert, auch über einen langen historischen Zeitraum durch Mutation und Auslese entsteht, ist für Nagel eine "Annahme" und eben keine wissenschaftliche Tatsache.

Dem hält er eine Beschäftigung mit "intelligent design" entgegen, also mit Versuchen, die Naturordnung als auf Geist hin aus- und eingerichtet zu begreifen. Das ist gemeinhin ein Argument, das von religiöser Seite kommt: Gott wäre dann derjenige, von dem dieses "Design" stammt. Nagel kann damit nichts anfangen, der Theismus erscheint ihm genauso verkürzt wie der Materialismus. Er will mit seinem Buch nur einen Raum für eine erweiterte Naturwissenschaft schaffen, in der der Geist zu einem zentralen Faktum würde - und nicht zu einem Epiphänomen wie in der Evolutionslehre. Das geht nicht ohne Zirkelschlüsse, schafft aber ein Gegengewicht zu der "normativen Kraft des Faktischen", das sich schließlich sogar bei der Lektüre von Büchern über Krisen von 1914 bis 2014 noch als bedeutsam erweist.

*Nota.

Na, allzuweit scheint er sich ja von der "wissenschaftlichen Weltanschauung" - so hieß der flache Materialismus im pp. Realexistierenden - nicht entfernt zu haben. Auf das 'Naturgesetz' von Anpassung und Selektion hat er wohl verzichtet; aber ganz ohne Naturgesetze mag er doch nicht auskommen. Wenn's nicht die Automatik von Ursache und Wirkung sein kann, dann muss es ein anderer -matismus sein, und notfalls ein allererster Beweger von Allem. Nicht in Frage kommt, dass die Dinge eben so sind wie sie sind und einen tieferen Sinn für sich gar nicht reklamieren. Sinn, Zweck, Logik, Verstand und Folgerichtigkeit sind sämtlich menschliche Erfindungen. 'Die Natur' weiß nichts davon, und wir haben kein Mittel, sie eines Besseren zu belehren.
JE 

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