Mittwoch, 25. Dezember 2013

Wer war schuld am Ersten Weltkrieg?

aus NZZ, 21. 12. 2013

Hineingeschlittert und nicht herausgekommen
Wichtige neue Bücher zum Ersten Weltkrieg werfen die Frage nach der Kriegsschuld noch einmal auf


von Cord Aschenbrenner 

Im kommenden Jahr wird der Erste Weltkrieg in den Fokus der Erinnerungskultur rücken. Nicht wenige Bücher sind bereits in den vergangenen Wochen und Monaten erschienen. Nachfolgend werden einige, die herausragen, vorgestellt. 

Es ist hundert Jahre her, da brachte im Dezember 1913 die sogenannte Liman-Krise die diplomatischen und politischen Kreise Europas in Wallung. Auf Bitten des Osmanischen Reiches hatte das Deutsche Reich eine Militärmission unter dem Generalleutnant Otto Liman von Sanders nach Konstantinopel geschickt, die die klapprigen osmanischen Streitkräfte reformieren sollte. Liman sollte zudem Kommandogewalt haben und Chef eines osmanischen Armeekorps werden. Das veranlasste die russische Presse zu einem kollektiven Wutschrei: Die Dardanellen und der Bosporus in deutscher Hand! Insbesondere im russischen Aussenministerium sorgte man sich, dass die Deutschen erstens fortan einen für die russische Wirtschaft immens wichtigen Seeweg kontrollieren würden und zweitens dauerhaft am Bosporus Fuss fassen könnten.

Christopher Clark, Herfried Münkler

«Die Liman-Episode löste eine gefährliche Eskalation der Stimmung unter den zentralen russischen Akteuren aus», schreibt der als souveräner Preussen-Kenner bekanntgewordene australische Historiker Christopher Clark in seinem neuen Werk «Die Schlafwandler». Deutschland lenkte schliesslich ein, Liman wurde aus der Schusslinie genommen, noch gab es keinen kontinentalen Krieg. Aber insgesamt hatte die Affäre gezeigt, wie kriegerisch man in Russland mittlerweile gestimmt war.

Die Liman-Krise ist eine von vielen in Christopher Clarks Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs; die finale war die «Julikrise» 1914, die nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares in Sarajevo ihren Lauf nahm. Der in Cambridge lehrende Historiker zeichnet detailliert ein überaus spannendes Panorama der Vorkriegszeit und betrachtet dabei auch die Mentalität, man könnte auch sagen: den Geisteszustand der Handelnden. Überwiegend geht es um einige hundert Menschen, «Falken» und «Tauben», in den Kanzleien, Ministerien, Botschaften und Herrscherhäusern West-, Mittel- und Osteuropas - um diejenigen, die die Geschicke ihrer Länder durchdachten, besprachen und lenkten, die also Geschichte «machten». Clark, ein brillanter Autor, der sich in die grosse Tradition der britischen Geschichtsschreibung mit nüchterner Darstellung und lebendiger Szenerie einreiht, zeigt die Politiker und Diplomaten des Dreibundes und der Entente bei der politischen Arbeit unter zunehmender Anspannung.

Clark nennt sie Schlafwandler: «wachsam, aber blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Greuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten». Für ihn ist der Kriegsbeginn «eine Tragödie, kein Verbrechen». Weil man nämlich nicht den einen Schuldigen wie in einem «Agatha-Christie-Thriller (. . .) über einen Leichnam gebeugt auf frischer Tat ertappen» könne. Sein Monumentalgemälde birgt Überraschungen, weil Clark neu erschlossene Quellen zitieren kann, die zeigen, dass Deutschland keineswegs der planvoll agierende Hauptverantwortliche für den Krieg war, wie es der Hamburger Historiker Fritz Fischer und seine Schule in den sechziger Jahren behaupteten. Fischer hatte in seinem Buch «Griff nach der Weltmacht» dem Kaiserreich ein bewusstes Hinsteuern auf den Krieg attestiert. Mindestens so viel Schuld wie bei Deutschland als Kriegstreiber sieht Clark bei Frankreich; Deutschland habe sich nicht ohne Grund von der Triple-Entente aus Grossbritannien, Frankreich und Russland eingekreist gefühlt, deren militärisches Potenzial immer grösser geworden sei. Das heisse nicht, «dass wir die kriegerische und imperialistische Paranoia der österreichischen und deutschen Politiker kleinreden sollten».

Mit anderen Worten: Christopher Clark erzählt eine andere Geschichte, als sie wenigstens in Deutschland seit der «Fischer-Kontroverse» gängig gewesen ist. Am ehesten steht er aufseiten des ehemaligen britischen Kriegspremiers Lloyd George, von dem das Diktum stammt, keiner habe 1914 den Krieg gewollt, die Regierungen seien in ihn «hineingeschlittert». Eine der Erkenntnisse Clarks ist, dass es in Europa 1914 «keine Begeisterung für den Krieg an sich» gegeben habe, wohl aber einen «defensiven Patriotismus, denn die Zusammenhänge dieses Konflikts waren so komplex und seltsam, dass die Soldaten und Zivilisten in allen kriegführenden Staaten überzeugt sein durften, dass sie einen Verteidigungskrieg führten . . .»

Zeichnet Christopher Clark ein Bild der Aussenpolitik Europas vor 1914, so setzt der deutsche Politikwissenschafter und Ideenhistoriker Herfried Münkler in seinem bald tausendseitigen Opus mit dem Kriegsbeginn erst ein. Er wirft, anders als Clark, nur einen kurzen Blick auf Serbien und die «Krisenregion Balkan» und widmet sich dann der Welt von 1914 bis 1918: dem «Grossen Krieg» mit seinen zehn Millionen Opfern. So hiess der Erste Weltkrieg bisher nur bei Deutschlands westlichen Nachbarn. Es scheint sich die Idee durchzusetzen, dass der Erste nicht nur als Vorläufer des Zweiten Weltkriegs zu verstehen oder vom Zweiten her zu betrachten sei - was eine deutsche Perspektive war, die zudem zu sehr Deutschland als Hauptverantwortlichen sieht, was Münkler, so wie Clark, «keineswegs» tut. Man müsse vielmehr, so der an der Humboldt-Universität lehrende Autor, den ersten Krieg wieder als «für sich allein stehendes, komplexes Ereignis behandeln».

Sein Buch ist die erste deutsche Gesamtdarstellung seit über vierzig Jahren - eine, die nicht nur den Blick auf die Opfer lenkt oder den «Krieg des kleinen Mannes» beschreibt (dessen alleinige Perspektive nach Münklers Urteil zu viele deutschsprachige Historiker eingenommen haben, ohne damit wirklich erklären zu können, warum etwa der Krieg so lange gedauert hat), sondern auch die Perspektiven der Schlachtenlenker und die «komplexen Interaktionszusammenhänge» rekonstruiert.

War der Erste Weltkrieg zwangsläufig? Münkler ist überzeugt, er hätte vermieden werden können, hätte es auf allen Seiten mehr Weitsicht und Urteilsvermögen gegeben. Ähnlich wie Clark sieht er «ein Lehrstück der Politik (. . .), in dem das Zusammenspiel von Angst und Unbedachtheit, Hochmut und grenzenlosem Selbstvertrauen auf einen Weg führte, auf dem schliesslich keine Umkehr mehr möglich schien» - weder in den letzten Julitagen 1914 noch während des Krieges. 

Der Autor zeigt aber, welche Optionen den militärischen und politischen Protagonisten zur Verfügung standen, hätten sie anders gehandelt, als sie es taten - und auch, welche Rolle Zufälle und Unvorhergesehenes spielten.

Bewundernswert an Münklers Buch ist, neben seiner guten Lesbarkeit und dem gewissermassen zivilen Stil, der nicht nachlassende, bis ins Kleinste kenntnisreiche Zugriff des Autors auf sein Sujet: Der Krieg wird an allen seinen Fronten sichtbar, ebenso als politische Herausforderung, als Antrieb gesellschaftlichen Wandels, als Laboratorium kommender Konflikte. Ein umfassendes Standardwerk.

Oliver Janz, Adam Hochschild

Das Zeug zum Standardwerk hat auch das deutlich schmalere Buch von Oliver Janz, Geschichtsprofessor an der Freien Universität Berlin. Janz hat eine schlankere, aber dennoch kraftvolle Darstellung verfasst, in der er die These aufstellt, dass der Krieg, den man als den ersten globalen betrachten müsse, nicht 1918 beendet gewesen sei, sondern erst um 1923, durch seine Folgekonflikte im Osten - zuvörderst den russischen Bürgerkrieg -, in Ostmitteleuropa und Südosteuropa. Zudem habe der Krieg bereits Züge eines «entgrenzten» Konflikts getragen, es sei also die völkerrechtlich bestimmte Grenze zwischen Militär und Zivilbevölkerung immer wieder verwischt worden. Auch dies geschah überwiegend im Osten; dort waren die Opfer des Krieges auch wesentlich höher als an der Westfront - die dennoch das kollektive Bild vom Ersten Weltkrieg wesentlich stärker geprägt hat.

Schliesslich korrigiert Janz auch das Bild der angeblich so kriegsbegeisterten Deutschen: «In keinem Land sind im Juli 1914 mehr Menschen gegen den Krieg auf die Strasse gegangen als in Deutschland.» Die Führung der Sozialdemokraten nutzte die Ablehnung des Krieges vor allem in der Arbeiterschaft jedoch nicht ausreichend, um Druck auf die Reichsregierung auszuüben, sondern stellte sich vielmehr hinter diese.

Eine Geschichte der Kriegsverweigerer hat, wenigstens teilweise, der amerikanische Journalist Adam Hochschild geschrieben. Er beschreibt den Krieg fast überwiegend aus britischer Perspektive - derjenigen der Befürworter des Krieges und der seiner Gegner und Gegnerinnen, von denen es in Grossbritannien mehr als in anderen Ländern gegeben habe. Dem Krieg zu widersprechen, sich gegen seine Familie, seine Freunde, seine gesellschaftliche Klasse zu stellen, erforderte grossen Mut in einer in England genauso wie in Deutschland vor Nationalismus glühenden Gesellschaft.

Hochschild beschreibt fesselnd und anschaulich, dabei geschickt die Quellen nutzend, Angst, Leid und Tod ebenso wie den Wahnsinn und die Verblendung der Befehlshaber während dieser vier Jahre dauernden Katastrophe. Eine Geschichte des Grossen Krieges ist es nicht, wie der deutsche Titel suggeriert; wohl aber eine seiner Schrecken - etwa der Sommeschlacht.

Ernst Piper

Mit der Haltung der Intellektuellen beider Seiten beschäftigt sich die «Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs» von Ernst Piper, unter anderem. Pipers Interesse gilt auch den Werken der Kriegsteilnehmer, so dem des fast vergessenen Expressionisten August Stramm, der 1915 an der Ostfront fiel, oder dem des ebenfalls im Krieg, aber durch Kokain umgekommenen Georg Trakl. Piper geht es vor allem, wie er schreibt, um «die jeweiligen diskursiven Anstrengungen zur Legitimation des kriegerischen Handelns beziehungsweise des Handelns in Kriegszeiten, also der umfangreichen Literatur im Kontext der geistigen Mobilmachung». Ähnlich akademisch ist mancher Satz in diesem Buch geraten, andererseits geht es dann wieder ganz handfest um Propaganda, um die Kriegsziel-Diskussionen, mit anderen Worten: um die Ideen und ihre ganz unterschiedliche Materialisierung. Immer wieder bettet Piper dies gekonnt und kenntnisreich in die Geschichte des Kriegsverlaufs in Ost und West ein, wobei er nicht nur die Mittelmächte, sondern auch ihre Gegner in den Blick nimmt. Und das Land, das intellektuelle Kriegsgegner aller Länder bei sich duldete: die Schweiz.

Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Deutsche Verlagsanstalt, München 2013. 895 S., Fr. 55.-.
Herfried Münkler: Der Grosse Krieg. Die Welt 1914-1918.
Rowohlt Berlin, Berlin 2013. 923 S., Fr. 42.90.

Oliver Janz: 14 - Der Grosse Krieg. Campus, Frankfurt am Main 2013. 415 S., Fr. 26.-.
Adam Hochschild: Der Grosse Krieg. Der Untergang des alten Europa im Ersten Weltkrieg. Aus dem amerikanischen Englisch von Hainer Kober. Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 525 S., Fr. 39.90.
Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Propyläen-Verlag, München 2013. 586 S., Fr. 38.90.

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