Donnerstag, 9. Juni 2016

Bringt sich Schäuble in Stellung?


aus Süddeutsche.de, 9. 6. 2016


"...Schäuble warnt Europa angesichts immer größerer Hürden für Migranten vor einer Einigelung. "Die Abschottung ist doch das, was uns kaputt machen würde, was uns in Inzucht degenerieren ließe", sagt der Christdemokrat.

In Deutschland trügen Muslime zu Offenheit und Vielfalt bei: "Schauen Sie sich doch mal die dritte Generation der Türken an, gerade auch die Frauen. Das ist doch ein enormes innovatorisches Potenzial."

Zugleich fordert er einen grundlegenden Wandel im Umgang mit der arabischen Welt und Afrika: "Afrika wird unser Problem sein, wir müssen diese Aufgabe annehmen." Der Christdemokrat findet, dass in der Vergangenheit das Interesse am Kontinent südlich des Mittelmeeres zu gering ausgeprägt war. "Wir haben ja erst nach 1990 angefangen, uns ernsthaft mit der Tatsache zu beschäftigen, dass es außerhalb der westlichen Welt noch etwas anderes gibt. Hart gesagt, hat uns der Mittlere Osten Afrika vom Hals gehalten", so Schäuble. "Das ist jetzt vorbei."

Angesichts der Fluchtbewegung aus den Krisenzonen des Mittleren Ostens und Afrikas sieht Schäuble die Notwendigkeit, dass der Westen sich verstärkt um die Regionen kümmert: "Eines ist doch klar für die Zukunft: Wir werden mehr im Irak investieren müssen, in Syrien und in Libyen, und dann werden wir in der Subsahara mehr für deren Entwicklung bezahlen müssen." Zudem sollte Europa endlich seine Märkte für Produkte aus diesen Regionen öffnen. "Die Nordafrikaner verlangen das jetzt von uns, wenn sie Flüchtlinge zurückhalten. Aber die haben doch auch recht", sagt der in Freiburg geborene Politiker. In der globalisierten Welt sei es notwendig, "noch einmal eine maßvolle Revolution, einen grundlegenden Wandel ohne Übertreibung zu schaffen".

Er werde bei den G7-Treffen von seinen Kollegen aus den anderen großen Industrienationen gelegentlich "ein bisschen belächelt", wenn er sage: Eigentlich brauchten die reichen Länder "gar nicht mehr so viel" Wachstum. "Lasst uns doch lieber die aufstrebenden Ökonomien des Südens stärker fördern", schlage er dann vor - und stößt damit auf Widerstand. "Das passt manchem nicht, wenn ich das sage."

Schäuble äußert in dem Gespräch seine Sorge über den politischen Zustand der Vereinigten Staaten von Amerika. Die momentane US-Demokratie sei "aus der Sicht eines nichtwestlichen Menschen (...) mehr eine Plutokratie des großen Geldes als eine Demokratie". "Auch die Amerikaner müssen lernen, die Welt aus der Perspektive von anderen zu sehen und nicht nur aus der eigenen. Warum ist es ihnen beispielsweise noch immer nicht richtig gelungen, Lateinamerika ein guter Partner zu sein?"

Kritik an den USA, das eigene Wirtschaftswachstum nicht als oberste Maxime, Hilfe für Afrika und ein Plädoyer für Zuwanderung: Schäuble vertritt in dem Interview Standpunkte, die mitunter ziemlich untypisch für die Union sind. Vor allem aber wirkt er trotz seiner 73 Lebensjahre: progressiv.

Vielleicht hat das Vorpreschen des wohl mächtigsten Bundesministers auch noch einen anderen Grund. Nachdem Bundespräsident Joachim Gauck zu Wochenbeginn auch öffentlich erklärt hatte, nicht für eine zweite Amtszeit zu kandidieren, war Schäuble als möglicher Nachfolger genannt worden. Mit Ansichten wie im Zeit-Interview dürfte Schäuble auch Anklang jenseits der Union finden. Vor mehr als zehn Jahren war er schon mal ein Anwärter für das höchste Amt im Staate. Damals wurde er aber von einer Person ausgebremst: Angela Merkel.

Gerade der Kurs der Kanzlerin bei Zuwanderung und Flüchtlingskrise ist bei manchen Parteifreunden umstritten. Mit seinen aktuellen Äußerungen dürfte Schäuble der CDU-Vorsitzenden mehr denn je nutzen."

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Und da wir schonmal dabei sind: Den plausibelsten Einfall zur Gauck-Nachfolge hat, wenn ich nicht irre, die taz gehabt: Kein anderer käme in Frage als Jérôme Boateng, Deutschlands beliebtester Nachbar!

Plausibel, aber unrealistisch. Herr Boateng ist noch jung und mit seiner Berufskarriere lange nicht am Ende. Der will erst noch was erleben.

Realistischer war der Vorschlag der Süddeutschen, listig in einen bunten Strauß gebunen. Niemand hat sich so sehr wie Joachim Gauck um die Deutsche Einheit verdient gemacht wie Gregor Gysi. Der ist ein kluger Mann, witzig und allgemein beliebt, und hat an seiner Loyalität gegenüber dem Grundgesetz nie den Hauch eines Zweifels gelassen. Und was das Wichtigste ist: Er hat die, die es am wenigsten wahrhaben wollten, an den Gedanken gewöhnt, dass die DDR aus vollem Recht untergegangen ist. Ohne Gysi würde in Ostdeutschland längst die AfD regieren. Dass er in der falschen Partei ist, kann man ihm da schonmal nachsehen.

Das Dumme ist, auch er wird nicht wollen. Schade. Das hätte einen Eiertanz gegeben bei den andern! Dass denen zu einem wirklich großen Wurf der Schneid fehlt, ahnen wir sowieso. Aber die Chance hätte man ihnen doch geben sollen.
JE 

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