Montag, 30. Dezember 2019

Abendland heißt Aufklärung.

aus nzz.ch, 29.12.2019                                                                               Galileis Astrolab

Das Mittelalter war nicht einfach dunkel, und die Aufklärung begann schon in der Antike: 
Über ein paar moderne Missverständnisse
Wir Modernen neigen dazu, die eigene Zeit zu überhöhen. Aber wir sind gar nicht so aufgeklärt, wie wir gerne denken. Dafür waren unsere Ahnen moderner, als wir dies wahrhaben wollen – zum Beispiel die Mönche.

von Martin Rhonheimer

Im Mittelalter glaubten Theologen und andere Gebildete, die Erde sei eine flache Scheibe. Wer sich zu weit aufs Meer hinauswage, riskiere deshalb, in einen Abgrund zu stürzen.

Wie der österreichische Historiker Roland Bernhard nachgewiesen hat, dominiert diese Legende auch heute noch vor allem deutschsprachige Schulbücher. Sie wird zuweilen auch in seriösen Medien verbreitet und lässt sich ungestraft im Smalltalk zum Besten geben, um auf die intellektuelle Unbedarftheit des Mittelalters hinzuweisen.

Doch aufgepasst. Die Mär von einem mittelalterlichen Glauben an die Scheibengestalt der Erde stammt aus dem 19. Jahrhundert. Man wollte dem finsteren und abergläubischen Mittelalter den wissenschaftlichen Glanz der Aufklärung entgegenstellen, deren spezifische Leistung heute oft mit der von Max Weber in seinem Vortrag «Wissenschaft als Beruf» (1919) geprägten Metapher «Entzauberung der Welt» charakterisiert wird – zu Unrecht. Den Beginn dieser «Entzauberung» verortete Weber nämlich selbst in der griechischen Antike. 

Das rationale Handeln der Mönche 

Und in der Tat: Seit Platon und Aristoteles hielt man die Erde für kugelförmig – auch die Gebildeten des Mittelalters, Naturphilosophen und Theologen, waren von der Kugelgestalt der Erde überzeugt. Kolumbus brauchte keine Angst zu haben, bei seiner Fahrt Richtung Westen in einen Abgrund zu stürzen. Die Kugelgestalt der Erde, schon seit Jahrhunderten durch Berechnungen erhärtet, war für ihn und seine Zeitgenossen eine Selbstverständlichkeit.

«Entzauberung der Welt» war für Max Weber der «in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende» sich fortsetzende Prozess der «zunehmenden Intellektualisierung und Rationalisierung». Dies bedeute vor allem: «Nicht mehr wie der Wilde», für den es «geheimnisvolle, unberechenbare Mächte» gab, «muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das.»


Exakt darin bestand etwa die zivilisatorische Leistung des frühmittelalterlichen Mönchtums, in dessen Rahmen der «Abt als Agrarfachmann und Ingenieur» (Dieter Hägermann) den im heidnischen Aberglauben gefangenen Bauern die Angst vor Fluss- und Baumgeistern nahm und sie produktive Ackerbautechniken lehrte. Die zahlreichen technischen Innovationen des Mittelalters wie drehbare Vorderachsen, Bremsen und Kummet, die das Transportwesen revolutionierten, Wasser- und Windmühlen, die Nockenwelle, Räderpflug und Hufeisen, Dreifelderwirtschaft, Glockenguss und Drahtziehen, Spinnrad und Tretwebstuhl, Farbenherstellung und ‑mischung, mechanische Uhren, optische Linsen und Brillen und vieles mehr sind Folge eines neuen Arbeitsethos.

Wer sich nicht um Technik kümmere, sei töricht, schrieb 1122/23 der Benediktinermönch Theophylus Presbyter in seiner «Schedula de diversis artibus». Und der Theologe Hugo von St. Victor, gestorben 1141, fügte in einem Lehrbuch den bekannten sieben «Freien Künsten» sieben «Künste der Mechanik» hinzu.

Das frühmittelalterliche Mönchtum hatte die negative Einschätzung der Arbeit, wie sie in der Antike dominierte, in radikaler Weise verändert. «Arbeit» wurde schon von Augustinus als der ursprüngliche Schöpfungsauftrag an den Menschen reflektiert, nach dem Sündenfall zwar beschwerlich, aber weiterhin der Weg, um den ursprünglichen Auftrag «Macht euch die Erde untertan!» zu erfüllen. Mit dem Glauben des «Wilden» an «geheimnisvolle, unberechenbare Mächte» war das nicht vereinbar. 

Das helle Mittelalter

Die Welt als göttliche Schöpfung und, wie die Bibel lehrte, den Menschen als Ebenbild Gottes zu verstehen, bedeutete aber auch ein Zweites: Die Welt ist für den menschlichen Geist erkennbar. Hier trafen griechische Wissenschaft und christlicher Schöpfungsglaube aufeinander. Denn für die christliche Theologie ist der menschliche Geist dem göttlichen Geist, der die Natur gedacht und sein Denken in sie hineingelegt hat, nachgebildet. Somit kann der Mensch ihre Geheimnisse entschlüsseln.

Erbe der griechischen Wissenschaften Mathematik, Physik und Biologie war vor allem das christliche Mittelalter. Gemäss der islamischen Auffassung von göttlicher Allmacht konnte die Schöpfung nicht einer gesetzmässigen Ordnung gemäss strukturiert sein – es widerspräche der Freiheit Gottes. Deshalb verbannte der Islam die griechischen Wissenschaften, insbesondere die Physik, zunehmend aus seinen Schulen.

Astronomie betrieb man vor allem, um die rituellen Gebetszeiten genauer berechnen zu können. Der bedeutende syrische Astronom Ibn al-Shatir (1304–1375) etwa war als muwaqquit – Zeitnehmer – in einer Moschee von Damaskus angestellt. Seine christlichen Kollegen hingegen lehrten an Universitäten und rezipierten die Lehren des muslimischen Aristoteles-Kommentators Averroes (Ibn Rushd), der als «Rationalist» von seinen Glaubensbrüdern verfolgt wurde.

Die mittelalterlichen Universitäten waren körperschaftlich organisierte Freiräume für wissenschaftliches Arbeiten und Disputieren, in der auch die von Aristoteles geprägte Physik als Naturphilosophie eine bedeutende Stellung innehatte. Ihre Verankerung im universitären Curriculum bildete die institutionelle Voraussetzung für das Entstehen der modernen Naturwissenschaft. 

Die anthropozentrische Wende 

Auch Galilei entstammte dieser akademischen Tradition, stellte sich aber als erster ihrer aristotelischen Prägung entgegen – mit nicht weniger Entschiedenheit, wie vor ihm Kopernikus gegen die bloss Rechenmodelle, aber keine Wahrheitserkenntnis produzierende ptolemäische Astronomie polemisiert hatte. Das taten sie beide als Christen: Galilei, weil er überzeugt war, dass die Natur von ihrem Schöpfer in mathematischer Schrift geschrieben wurde, die dem Menschen verständlich sei. Kopernikus, weil er die ptolemäische Überzeugung der erkenntnismässigen Unzugänglichkeit der wahren Himmelsbewegungen aufgab, um sich nun, wie er in der Einleitung zu seinem Hauptwerk schrieb, der wirklichkeitsgetreuen Erkenntnis der Bewegungen der Weltmaschine zuzuwenden, «die um unseretwillen vom besten und genausten aller Werkmeister gebaut ist».

Entlarvt wird damit auch die Legende von der «Kränkung», die der Heliozentrismus dem noch dem Mittelalter verhafteten Menschen angeblich zugefügt habe. Die «kopernikanische Wende» war das genaue Gegenteil jener angeblichen Entthronung der menschlichen Fähigkeit, die «Wahrheit der Dinge» zu erkennen, wie sie Kant in der Vorrede zu seiner «Kritik der reinen Vernunft» beschrieb.

Sie war in Wirklichkeit schöpfungstheologisch begründete Anthropozentrik: Weil der Mensch am schöpferischen Intellekt Gottes teilhat, ist das ganze Universum seiner Erkenntnis auch zugänglich. Der gottebenbildliche Mensch sieht sich nun gerade wegen seiner Erkenntnisfähigkeit in den Mittelpunkt des «um unseretwillen» so erschaffenen Universums gestellt – dass er dabei um die Sonne kreist und sie nicht um ihn, vermag ihn nicht zu kränken.

In Wirklichkeit war die seit der Antike diskutierte Heliozentrik für das christliche Mittelalter nie ein grundsätzliches Problem gewesen. Nikolaus von Oresme etwa, Bischof von Lisieux (gestorben 1382), machte sich, wenngleich mit unzulänglichen Argumenten, im 14. Jahrhundert dafür stark. Auch Thomas von Aquin hatte darin eine denkbare Möglichkeit gesehen, denn «was als Bewegung erscheint, wird entweder durch die Bewegung des Beobachteten oder durch die Bewegung des Beobachters verursacht». Doch hielt er die physikalischen Argumente des Aristoteles zugunsten der Mittelstellung der Erde für die besseren.

Wie schon Kopernikus hatte auch Galilei keine physikalischen Beweise für das Kreisen der Erde um die Sonne. Galilei verhöhnte stattdessen öffentlich seine Gegner als Anhänger des ptolemäischen Systems, obwohl sie bereits das geozentrische Modell des Tycho Brahe verfochten, das rein mathematisch dem kopernikanischen äquivalent war. Galileis Hauptgegner in der Kurie, Kardinal Bellarmin, meinte, falls man Beweise für die Erdbewegung um die Sonne finde, müsse man die Interpretation der Heiligen Schrift entsprechend anpassen.

Das Problem war: Es gab keine. Dass die kirchlichen Gegner Galileis wissenschaftliche Beweise verlangten, zeigt, dass auch sie sich der Logik des seit Jahrhunderten fortschreitenden Prozesses der «Entzauberung der Welt» nicht zu entziehen vermochten. 

Auch Darwin war ein Christ

Max Weber vertrat in seinem Vortrag von 1919 die Ansicht, erst durch den Einfluss des Protestantismus habe man die Struktur des Universums als Ausdruck der Vorsehung Gottes verstanden und damit «in den exakten Naturwissenschaften (. . .), wo man seine Werke physisch greifen konnte» zu hoffen begonnen, «seinen Absichten mit der Welt auf die Spur zu kommen». Das zeugt von Unkenntnis der mittelalterlichen Schöpfungsmetaphysik, auf deren Boden Kopernikus und Galilei standen. Ihr gemäss hatte Gott eine Natur erschaffen, der er den Plan seiner Vorsehung als eigenständige Kausalität – sogenannte «Sekundärursa- chen» – eingegeben hat, «so wie wenn ein Schiffsbauer einem Stück Holz die Fähigkeit verliehen hätte, sich selbst zu einem Schiff zu entwickeln» (Thomas v. Aquin).

Noch Charles Darwin argumentierte in seinem Hauptwerk «The Origins of Species» gegen jene, die – nicht im Sinne des Mittelalters, sondern gemäss protestantischem Biblizismus – an der unmittelbaren Erschaffung jeder Spezies durch Gott festhalten wollten. Ihm scheine es, so schrieb er, «aufgrund dessen, was wir über die Gesetze wissen, die der Schöpfer der Materie eingegeben hat», plausibler, den Prozess der Evolution der Wirksamkeit von «secondary causes» zuzuschreiben.

Damit stand Darwin zum Zeitpunkt seiner grossen Entdeckung noch ganz auf dem Boden des christlich-mittelalterlichen Naturbegriffs. Um die Natur als System von Sekundärursachen zu entschlüsseln, bedurfte es lediglich neuer wissenschaftlicher Methoden, wie sie erst die Naturwissenschaften der Neuzeit zu entwickeln begannen.

Das war sehr wohl eine neue Etappe im Prozess der Entzauberung der Welt, nicht aber dessen Beginn. Die wissenschaftliche Vernunft der Neuzeit gegen das «finstere Mittelalter» auszuspielen, zeugt von Unwissenheit, die eines aufgeklärten Geistes nicht würdig ist.

Martin Rhonheimer ist Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist Gründungspräsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien, wo er gegenwärtig lebt. Als Letztes ist von ihm das Buch «Homo sapiens: die Krone der Schöpfung. Herausforderungen der Evolutionstheorie und die Antwort der Philosophie» (Springer-Verlag 2016) erschienen.


Nota. - Die Legende vom finsteren Mittelalter hat sich erst im 19. Jahrhundert recht durchsetzen können, als Gegenstück zum Mythos vom unwiderstehlchen Fortschritt der neuen, positiven Wissenschaft: Nur wem die Gegenwart leuchtet, kann die Vergangenheit dunkel scheinen. Den gebildeten Ständen mag ihre Zeit stets etwas heller vorgekommen sein als den armen Ungebildeten. Das eigentlich Besondere an der abendländischen Auf- klärungsgeschichte ist, dass sie schließlich die Massen erfasst hat, die eo ipso ungebildet nicht blieben - und nicht ewig arm. Was beides Voraussetzung ist für ihre Dauer; Nachhaltigkeit, sagt der Zeitgenosse.

Das macht die Sonderstellung des Abendlands unter den Kulturen der Welt aus. Dies zu verstehen fällt schwe- rer, wenn man die Bildungsgeschichte des Abendland nicht als einen kontinuierlichen und sich verallgemeinern- den Prozess auffasst, sondern als unterbrochen, zurückgeworfen durch das schwarze Loch einer barbarischen Zwischenepoche.

Rhonheimer hat Recht, wenn er die Verdienste der christlichen Mönchsorden nicht nur um die geistliche, son- dern auch um die technisch-wissenschaftliche Bildung ihrer Zeit hervorhebt - und die Ausbildung eines Arbeits- ethos insbesonders. Aber das Mönchtum war nur eine Facette der katholischen Religiosität. Der Machtapprat des irdischen Leibs Christi war eine andere, längst nicht so dynamische; wenn auch ohne deren Rivalität mit den weltlichen Mächten die Ausbildung der spezifisch westlichen, repräsentativen Staatlichkeit kaum stattgehabt hätte. 

Und nicht alle Orden waren auf den selben Feldern profiliert. Rhonheimer spricht für seine Kirche, da zieht er - zeitgemäß - die werktätigen und weltzugewandten Bruderschaften vor. Doch nicht minder bedeutend für die Ausbildung des Westens waren die scholastischen, spekulativen Dominikaner und Franziskaner; die einen als Bewahrer der frühchristlichen platonischen Überlieferung, die andern als ihre aristotelischen Opponenten. Deren Scharmützel betrafen wirklich nur eine hauchdünne Schicht, aber die prägte eben die Bildung der herrschenden Stände. Allein schon, dass es eine Theo-Logie  überhaupt geben kann, unterscheidet die christlichen Religionen von allen andern: ein menschliches Wissen von Gott - mit all der Paradoxie, die das mit sich bringt und die min- destens der Islam mit seiner Leugnung menschlicher Wissensfähigkeit einfach aus sich ausscheidet (und die allenfalls bei den auch heute wieder verfolgten Mystikern ein unsicheres Unterkommen hat).

Überhaupt ist es der Umstand, dass die römische Kirche kein Monolith mit einem Big Brother an der Spitze war, sondern selber ein Abbild der vielfach gebrochenen, zersplitterten und verfehdeten Feudalwelt, die eher als en- demischer Bürgerkrieg erscheint denn eine als geregelte Ordnung - der ihr erlaubt hat, die westliche Mentalität bis heute zu prägen. Ein allgemeines Gegeneinander, in dem sich wie in darwinscher Auslese und Anpassung stets ein Lebendiges erhält, das nicht wie in anderen Kulturen immer wieder vom Aussterben bedroht ist. Das war der Humus, aus dem eine bürgerliche Gesellschaft entstehen konnte.
JE


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