Freitag, 31. August 2018

Patrioten sind nicht die, die sich so nennen.


aus FAZ.NET, 31. 8. 2018                                                   Martin Kohlmann von „Pro Chemnitz“

... Vor etwa 900 Demonstranten, die in Chemnitz gegen einen Besuch des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) protestierten, rief Kohlmann die Frage ins Mikrophon, ob „wir“ mit Polen, Ungarn und Tschechen nicht mehr gemein hätten, als „mit diesen Wessis“. Es sei für ihn beispielsweise „ein Unterschied wie Tag und Nacht“, ob er mit russischen, polnischen und tschechischen Journalisten rede, oder mit westdeutschen.

Der F.A.Z. sagte Kohlmann wenig später, Sachsen habe mit den Visegrád-Staaten „mehr gemein, als mit der westlichen Bundesrepublik“. Deshalb solle man heute „zumindest über Autonomie“ für einzelne Bundesländer reden. Man müsse „hier mehr Dinge selbst entscheiden“ können. „Wenn ein ungarischer Ministerpräsident sagt „wir wollen das nicht“, dann sollte das ein sächsischer Ministerpräsident auch sagen können“.


Nota. - National sind diese Leute ebensowenig wie konservativ. Nicht nur wollen sie Deutschland in der Welt klein halten. Sie sind reaktionäre Partikularisten. Am liebsten würden sie Deutschland in lauter autonome Laubenkolonien zerteilen.
JE


 

Donnerstag, 30. August 2018

Der Mensch als Schöpfer der Natur.

Die Wanderungen etwa der Gnus folgen Wegen, die Nutztiere vor 3500 Jahren gezogen haben.
aus Die Presse, Wien,

Wie frühe Hirten Afrikas Savannen nährten
Nutztiere machten mit ihrem Dung den Boden fruchtbar. Davon profitiert die Natur bis heute.

 

Wenn es um unberührte Natur geht, an die der Mensch seine Hände besser nicht legen sollte, dann kommen einem die Regenwälder in den Sinn, vor allem jene Amazoniens, und die Savannen in Ostafrika, die Serengeti etwa: Jeder Eingriff kann die Natur nur (zer-)stören!

Das stimmt für die großflächigen Abholzungen Amazoniens, aber just sie haben ans Licht gebracht, dass der heute dünn besiedelte Regenwald einst Millionen Menschen beherbergt hat, und dass die heutige Natur ein Produkt früherer Kultivierung ist, man sieht es noch an Bäumen, von denen viele gesetzt wurden, man sieht es noch an Böden: Jene Amazoniens sind von Natur aus extrem nährstoffarm, sie wurden durch Einarbeitung von Holzkohle und Fischgräten verbessert, zu fruchtbarer „terra preta de indio“.

Durch Pferche gedieh üppiges Gras
 
So ein Name hat sich für die Savannen Afrikas noch nicht gefunden. Aber auch ihre Böden sind von Natur aus arm und partiell von Menschen veredelt bzw. von den Nutztieren – Rindern, Ziegen und Schafen –, mit denen sie früh dort zogen, wo heute die endlosen Herden von Gnus wandern. Denn diese Tiere ernährten sich nicht nur von der spärlichen Vegetation, sie förderten sie auch, indem sie fruchtbare „Hotspots“ kreierten. Das waren die Pferche, in die die Tiere über Nacht kamen und in denen sie ihren Dung absetzten. Dessen Spuren hat Fiona Marshall (St. Louis) nun zurückverfolgt, in eine Vergangenheit von bis zu 3500 Jahren: So alt sind Hirtenrast- plätze im Südwesten Kenias, deren Böden in einer Tiefe von einem halben Meter eine feinkörnige graue Schicht haben, sie ist mit bloßem Auge sichtbar.

Ihr Inhalt braucht aufwendigere Analysen: Die der Isotopen des Stickstoffs zeigt etwa, dass er aus Dung und Urin von Grasfressern stammt. Sie haben auch mineralische Nährstoffe konzentriert, Phosphor vor allem und Kalziumkarbonat, manches stammt etwa aus Knochen von Tieren, die an den Rastplätzen verendet sind oder geschlachtet wurden (Nature, 29. 8.). Das alles sorgte für einen Boden, auf dem nach Regen rasch neues Grün gedieh, Gras, das setzte sich gegen Gebüsch, Bäume durch und verdrängte sie. Es zog später auch wilde Graserherden an und, in ihrem Gefolge, Raubtiere.

Diese Bodenveredelung hält sich bis heute, sie wird immer wieder aufgefrischt, etwa von wandernden Gnus. Beim Weiterziehen tragen sie in ihren Körpern die Nährstoffe auch in Flüsse, in denen Krokodile warten. „Als die Steinzeithirten vor 3500 Jahren nach Ostafrika gekommen sind, haben sie die Vegetation nicht verschlech- tert, wie man oft vermutet, sondern verbessert“, erklärt Koautor Stanley Ambros (University of Illinois). 

Marshall ergänzt: „Ökologen vermuten, dass die Wanderungen wilder Tiere von den nährstoffreichen Bereichen, die nach Regen rasch ergrünen, beeinflusst werden. Und unsere Befunde zeigen, dass einige davon das Ergebnis der prähistorischen Hirten sind.“

Mittwoch, 22. August 2018

Europäischer Schmelztiegel.

aus derStandard.at, 22.8.2018

Wo wir Europäer genetisch herkommen 
Europa war immer schon ein Migrationsgebiet, das lässt sich an unseren Genen ablesen und hat Einfluss auf die medizinische Forschung 

von Bernadette Redl, CURE 
 
50 – 30 – 20. Was klingt wie eine Größenangabe, beschreibt in Wahrheit aber uns alle. Mit "uns" sind die Bewohner Zentral- europas gemeint und mit 50, 30 und 20 Prozent unsere genetische Zusammensetzung, denn sie ist ein Potpourri. Beginnen wir von vorn, also bei den ältesten Vorfahren, die in unserem Erbgut zu finden sind: den Ureuropäern, von Berufs wegen Jäger und Sammler.

Sie sind vor etwa 40.000 Jahren über Zentralasien aus Afrika ausgewandert und haben sich, in Europa angekommen, mit den Neandertalern fortgepflanzt und diese schließlich verdrängt. Für diese Wanderung gibt es archäologische und paläoanthropologische Befunde, doch auch genetische Untersuchungen deuten darauf hin. 20 Prozent unserer Gene lassen sich auf diese Gruppe zurückführen.

Vor 8.000 Jahren hat eine weitere Wanderungsbewegung Einfluss auf unsere genetische Zusammensetzung genommen. Damals sind Ackerbauern aus Anatolien eingewandert, sie beherrschen unsere DNA heute zu 50 Prozent. "Die Hälfte der heutigen Gene der Zentraleuropäer ist also eigentlich asiatisch", sagt Johannes Krause, Direktor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena.

Asiatische Komponenten

Auch ein alter Bekannter war damals mit von der Partie: Zumindest die väterliche Linie Ötzis, so der aktuelle Stand der Wissenschaft, ist Teil einer genetischen Grundausstattung, die damals aus dem Nahen Osten nach Europa gekommen ist.

Eine Wanderungsbewegung vor rund 5.000 Jahren hat schlussendlich die letzten 30 Prozent unserer heutigen genetischen Zusammensetzung zu verantworten. Die letzten Ankömmlinge waren Bevölkerungsgruppen aus der russischen Steppe nördlich des Kaspischen Meeres. "Die Expansion dieser Population hat die genetische Zusammensetzung noch einmal verändert und eine weitere asiatische Komponente mitgebracht", sagt Krause.


Vermutlich verdanken wir dieser Gruppe auch die europäischen Sprachen und unsere helle Hautfarbe. Durch diese Wanderungsgeschichte und die Verbindung über die Beringstraße, so Krause, sind die Europäer genetisch weit enger mit Nord- und Südamerikanern, auch mit Indianern als etwa mit den Chinesen verwandt.

Schöner Mix

Unsere Gene sind also eine Mixtur verschiedener Populationen, die in den letzten tausend Jahren nach Europa gekommen sind. "Die haben sich tatsächlich sehr gut vermischt und auch nicht vor Großbritannien oder der Iberischen Halbinsel haltgemacht. Die Migrationsströme sind, mit kleinen Ausnahmen wie etwa Sardinien, in alle Teile Europas vorgedrungen", sagt Krause. "Weil Europa eine sehr kleine Region ist, gab es immer viel genetischen Austausch." Durch diese Durchmischung sind sämtliche Gene überall vertreten, was so viel heißt wie: Wir Europäer sind alle relativ nahe verwandt.

Und dennoch: Nicht überall ist die Zusammensetzung aus 50, 30 und 20 Prozent gleich. "Je nachdem, wo man ist, gibt es mehr oder weniger Komponenten aus der Vergangenheit, die Mixturen unterscheiden sich", sagt Krause. Wie genau unsere genetischen Daten zeigen, woher wir kommen, hat im Jahr 2008 eine Studie der Universität von Kalifornien gezeigt.

Als Forscher die DNA von Menschen mit ähnlichen genetischen Strukturen analysierten und die Ergebnisse auf einem geografischen Raster darstellten, wurden die wichtigsten geografischen Merkmale Europas erkennbar.

Dafür wurden Erbgutausschnitte von Europäern und Informationen zur Herkunft ihrer Großeltern ausgewertet. Als die Forscher ihre Ergebnisse entlang von zwei Achsen grafisch darstellten, erhielten sie eine Karte, die der Europakarte verblüffend ähnlich war – Italien, die iberische Halbinsel und sogar Unterschiede zwischen der italienisch-, deutsch- und französischsprachigen Schweiz waren darauf zu erkennen.

An den genetischen Daten kann also die geografische Herkunft der Vorfahren eines Menschen abgelesen werden. "An der Mixtur kennt man einem Europäer an, dass er Europäer ist", sagt Krause.

Besonderheiten

In manchen Regionen sind die genetischen Merkmale sogar besonders spezifisch, etwa auf Sardinien. Krause: "Die Sarden sind genetisch fast komplett so zusammengesetzt wie die frühen Einwanderer aus Anatolien vor 8.000 Jahren. Jäger-und-Sammler- sowie Steppengene finden sich kaum."

Das hat auch die Untersuchung der kalifornischen Forscher ergeben: Durch die geografische Isolation Sardiniens ist dort eine eigene, vom italienischen Festland abgegrenzte genetische Population zu finden. Auch die Esten sind besonders. Sie haben die größte Menge eiszeitlicher DNA in Europa, die Anteile der Jäger und Sammler im Erbgut sind sehr hoch.

Und noch ein Land in Europa sticht hervor, wenn um die Gene geht: Island, das "lebende Labor", wie Adam Rutherford es in seinem Buch "Eine kurze Geschichte von jedem, der jemals gelebt hat" nennt. Denn eine Vielzahl der Isländer hat ihre genetischen Daten der Forschung zur Verfügung gestellt.

Das Unternehmen, das sie besitzt, heißt DeCode Genetics und wurde im Jahr 2012 vom amerikanischen Biotechnologieunternehmen Amgen gekauft. Gemeinsam mit den Ahnentafeln und Verwandtschaftslinien, die in Island fast bis zu den Anfängen der Besiedelung im Jahr 900 erhalten sind, lässt sich rekonstruieren, wie jeder Isländer mit jedem Isländer verwandt ist. "Für eine genetische Studie ist das toll", sagt Krause.

Auch bei Amgen ist man begeistert: "Wir können durch die isländischen Daten die genetischen Grundlagen verschiedener Krankheiten besser verstehen und so neue Therapien dafür finden", sagt John Dunlop, Vizepräsident des Forschungsbereichs Neurowissenschaften.

Muster, die in unserer Biologie zu Krankheiten führen, schreibt auch Rutherford, könne man beim Individuum oft nicht erkennen, in einer großen Anzahl von Daten dagegen schon. Da auch die Isländer aufgrund ihrer geografischen Lage isoliert sind, so Rutherford, kann untersucht werden, "was vererbt wird, und was auf die Umwelt zurückzuführen ist".

Geringere genetische Vielfalt

Doch unter Wissenschaftern gibt es Skeptiker in Bezug auf die Erforschung von neuen Medikamenten mithilfe der isländischen Daten. Johannes Krause ist einer von ihnen. "Island ist eigentlich nicht die ideale Population, um solche Forschungen durchzuführen, weil die genetische Vielfalt dort viel geringer ist." Um möglichst repräsentativ zu sein, so Krause, "sollte man so eine Studie dort durchführen, wo wir herkommen, nämlich in Afrika". Dennoch sieht Krause auch Vorteile: "Um bestimmte Mechanismen zu verstehen, hilft das Projekt in Island der Forschung dennoch sehr."

Doch nicht nur innerhalb, auch nach außen hin unterscheiden Europäer sich genetisch. Etwa wenn es um Milch geht. Denn die Hälfte der Europäer ist laktoseintolerant, weiß Krause: "Das ist in den Genen festgeschrieben." In Europa allerdings haben 50 Prozent der Menschen auch eine Mutation, die sich in den letzten 3000 bis 4000 Jahren ausgebreitet hat und die es uns möglich macht, im Erwachsenenalter Milch zu trinken. 

Dieses ungewöhnliche Phänomen heißt Laktasepersistenz, punktuelle DNA-Veränderungen sind laut Rutherford dafür verantwortlich. "Wir sind die Mutanten, im Rest der Welt ist das weniger verbreitet", sagt Krause.

Woher die Vorsicht kommt

Und noch etwas unterscheidet unser Genom: Die Spuren der Pest, die vor 5.000 Jahren mit den Steppenbewohnern nach Europa gekommen ist. Wer sie überlebt hat, reagierte mit bestimmten Genvarianten. Untersuchungen des Erbguts von Roma in Rumänien, die einst aus Nordwestindien nach Europa gewandert waren, und von jenen Populationen, die noch in Indien leben, haben gezeigt: Letztere haben diese Genvarianten nicht. Die Pest hat sich also in das europäische Erbgut eingeschrieben.

Eingeschrieben, und zwar in unsere Köpfe, ist uns Europäern auch die Vorsicht, wenn es um genetische Eigenschaften geht und darum, sie bestimmten Menschengruppen zuzuordnen. "In den USA wird verlangt, dass Patienten im Krankenhaus ihre ethnische Herkunft angeben, weil man bei bestimmten Medikamenten schon weiß, dass sie je nach Migrationshintergrund unterschiedlich funktionieren", sagt Krause.

Immer enger verwandt

In Europa ist man bei Einteilungen weit vorsichtiger, besonders bei Begrifflichkeiten. Das Wort "Rasse" ist seit dem Nationalsozialismus verpönt, von Ethnien oder Bevölkerungsgruppen ist nun die Rede. Doch nun, gerade durch die Erforschung des Erbguts, geht es wieder um Unterschiede und Gemeinsamkeiten – sie werden jetzt besonders deutlich.

Insgesamt, sagt Krause, sind wir alle zunehmend enger miteinander verwandt. Durch den regen Austausch und die Globalisierung rücken die Menschen auf dieser Welt immer näher zusammen – auch genetisch. 

Dienstag, 21. August 2018

Größtes Steinzeit-Monument Ostafrikas entdeckt.

Aus der Luft sind die Steinkreise und die Grabanlage (links) von Lotham North gut zu erkennen.
aus scinexx                                                                                    Steinkreise und die Grabanlage (links) von Lotham North

Größtes Steinzeit-Monument Ostafrikas entdeckt
5.000 Jahre alte Grabanlage stammt überraschenderweise von nomadischen Hirten
 
Spektakulärer Fund: In Kenia haben Archäologen das älteste und größte Steinzeit-Monument Ostafrikas entdeckt. Es handelt sich um eine rund 5.000 Jahre alte Grabanlage, die von Megalithsäulen, Stein- pflaster und mehreren Steinkreisen umgeben ist. Mehr als 580 Menschen wurden hier im Laufe einiger Jahrhunderte begraben. Ungewöhnlich daran: Die Erbauer dieser Monumente waren nomadische Hirten mit einer egalitären Gesellschaftsstruktur – das widerspricht bisherigen Annahmen zu prähistorischen Monumentalbauten. 
 
Schon vor tausenden von Jahren errichteten unsere Vorfahren monumentale Anlagen, die als Ritualorte, Grabstätten oder astronomische Observatorien dienten. Unter ihnen sind der Steinkreis von Stonehenge in England, aber auch das Steinzeitheiligtum von Göbekli-Tepe in der Türkei, präkolumbianische Anlagen in Peru sowie mehrere Kreisgrabenanalgen in Deutschland, so bei Pömmelte, bei Watenstedt oder Goseck.
 
Diesen prähistorischen Monumenten ist gemeinsam, dass sie nur unter enormem Aufwand an Menschen und Material erbaut worden sein können. Zudem erforderten sie eine gute Planung und Logistik, um die Arbeiten zu koordinieren. Unter anderem deshalb hielten Forscher bisher nur komplexe, hierarchisch gegliederte Gesellschaften für fähig, solche Monumentalbauten zu errichten.
 
Steinkreise, Plattformen und Hügelgräber 
 
Doch jetzt haben Elisabeth Hildebrand von der Stony Brook University in New York und ihr Team ein Steinzeitmonument entdeckt, das dem widerspricht. Es handelt sich um eine insgesamt 1.400 Quadratmeter große Anlage, die vor rund 5.000 Jahren am Ufer des Turkanasees in Kenia errichtet worden ist. Sie besteht aus einer 700 Quadratkilometer großen Steinplattform, an die sich neun Steinkreise und sechs Steinhügel anschließen.
 
Die Lothagam North getaufte Anlage ist damit der größte und älteste Monumentalbau in ganz Ostafrika, wie die Forscher berichten. Sie stammt aus einer Zeit, als ein Klimawechsel zu trockeneren Bedingungen viele nomadi- sche Viehzüchter aus dem Saharagebiet vertrieb. Diese Pastoralisten zogen weiter nach Süden und Osten und kamen so auch an den Turkanasee. Ähnlich wie schon zuvor in der Sahara, begannen sie auch dort, rituelle Monumente zu errichten – nun jedoch in größerem Maßstab.
Unter der von Basaltkieseln bedeckten Plattform (vorne) liegt eine Grabanlage mit mindestens 580 Toten.
 
Aufwändige Grabanlage
 
Wie Ausgrabungen enthüllten, hat die Plattform von Lothagam North ein komplexes Innenleben. Sie verrät, welchen enormen Aufwand die Erbauer betrieben. "Zuerst trugen sie in einem 120 Quadratmeter großen Areal den Ufersand bis auf den Felsuntergrund ab", berichten Hildebrand und ihre Kollegen. Die umliegenden Sandbereiche wurden mit einem Pflaster aus Sandsteinplatten bedeckt und das Ganze mit einem Ring aus säulenartigen Felsbrocken umgeben. 
 
Das Entscheidende aber lag im Zentrum dieser Steinplattform. Hier meißelten die steinzeitlichen Erbauer hunderte eng beieinanderliegende Grabkuhlen in den Felsuntergrund. Im Laufe von mehreren hundert Jahren wurden hier mindestens 580 Männer, Frauen und Kinder bestattet. Ihr Alter reichte von Neugeborenen bis zu Alten, wie die Forscher berichten. Nach der Bestattung wurde das gesamte Gräberfeld mit Geröll zu einem flachen Hügel aufgefüllt und dieser mit gleichgroßen Basaltkieseln bedeckt.
 
Geschmückte Tote 
 
Der Blick in die Gräber enthüllte: Fast alle Skelette trugen Schmuckstücke. "Viele Individuen hatten Perlen aus Austernschalen oder Stein um Hals, Hüften oder Knöchel", berichten die Archäologen. "Andere trugen Ringe oder Armreifen aus Nilpferdelfenbein." Auch Halsschmuck aus Nilpferdzähnen, geschnitzte Anhänger und andere Schmuckstücke lagen bei den Toten.
 
Soziale Gleichheit statt Hierarchie 
 
"Damit wiederspricht diese Entdeckung früheren Vorstellungen über Monumentalität", konstatieren die Wissenschaftler. "Denn Lothagam North liefert uns ein Beispiel für einen Monumentalbau, der nicht eindeutig mit der Ausprägung sozialer Hierarchien verknüpft ist." Die Anlage von Lothagam North war offenbar keine Machtdemonstration einer Elite, sondern ein Ritual- und Grabplatz für alle.
 
Noch dazu wurde diese riesige, aufwändige Grabanlage von nomadischen Hirten errichtet – etwas, das zuvor als unwahrscheinlich, wenn nicht sogar unmöglich galt. "Dieser Fund zwingt uns darüber nachzudenken, wie wir soziale Komplexität definieren", sagt Hildebrand. "Und auch darüber, welche Motive Menschengruppen dazu bringen, öffentliche Architektur zu erschaffen."
 
Halt in schwierigen Zeiten? 
 
Die Archäologen vermuten, dass die schwierige Situation die Hirten zu einer solchen kollektiven Anstrengung trieb. Denn sie waren nach ihrer Ankunft am Turkanasee nicht nur mit neuen Umweltbedingungen konfrontiert, sondern standen nun auch in Konkurrenz zu den bereits dort ansässigen Fischer-Kulturen.
 
"Diese Monumente könnten als ein Ort gedient haben, an dem sich diese Menschen versammelten, ihre sozialen Bindungen erneuertem und den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärkten", mutmaßt Anneke Janzen vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena. "Der Informationsaustausch während der gemeinsamen Rituale könnten den Hirten zudem geholfen haben, mit der sich schnell verändern Umwelt zurechtzukommen." (Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), 2018; doi: 10.1073/pnas.1721975115)
 
(PNAS/ Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, 21.08.2018 - NPO)

Donnerstag, 16. August 2018

Moralisieren im Politischen.


Sie haben mich hoffentlich nicht missverstanden. Es ist völlig in Ordnung, wenn die Bürger das Handeln ihrer Regierung nach moralischen Maßstäben beurteilen - begrüßen oder ablehnen - oder ihre eigenen politischen Ent- scheidungen an der Nächstenliebe orientieren. Eine Regierung muss sogar froh sein, wenn viele das tun.

Doch sie selber muss bei ihren politischen Entscheidungen andere Kriterien anlegen als die moralisch-ästhetischen Stimmungen der Kabinettsmitglieder. Allgemein gesprochen muss sie die Bedingungen schaffen und bewahren, unter denen die Bürger moralisch, politisch oder - auch das ist erlaubt - aus Eigeninteresse so oder anders optieren können. Das ist ein übergeordneter Standpunkt, doch ist er selbst nicht unmittelbar moralisch.

Die Bürger können sich nach moralischen, politischen und Interessengesichtspunkten zusammenschließen und - in Parteien zum Beispiel - auf die Regierung Einfluss nehmen. Das ist die politische Auseinandersetzung, auf der der repräsentative Staat beruht. Und stets ist die Regierung, welcher Partei sie auch gerade angehört, gehalten, die Vor- aussetzuungen für die Wahlfreiheit der Bürger zu erhalten; an erster Stelle das Gemeinwesen selbst. Dabei mag es nötig werden, sich mit dem weniger Schlechten zu bescheiden, weil das Gute nicht machbar ist. Ob oder ob nicht, ist stets im Streit zu ermitteln. 


So weit war alles in Ordnung.

Das Schlechte an der Flüchtlingsdebatte war, dass eine moral majority sich aufspielte, als sei sie das Maß des politisch Korrekten. Die Anmaßung war ein doppelte. Moral ist das, was jeder mit sich selbst auszumachen hat, auf einen andern kann er sich nicht herausreden noch muss er sich vor ihm rechtfertigen. Das Politische ist allerdings das, was in der Gemeinschaft Jeden mit Jedem verbindet oder von ihm trennt. Mit andern Worten, es ist schlechterdings strittig, und was das Richtige ist, muss jedesmal ausgefochten werden. Festlegen, in welchem Rahmen etwas 'noch statthaft' und außerhalb seiner 'nicht korrekt' ist, heißt, sich über die Gesamtheit der Politeis erheben. Das mag einer auf seine Kappe nehmen und sich zum Führer oder zum Erleuchteten aufpusten - er wird dann schon sehen. Doch widerwärtig wird es, wenn er sich dabei auf... die Mehrheit beruft. Das ist nicht dumm, das ist bösartig und gehört gezüchtigt.

So aber war es leider am Anfang des Herbstes 2015. Es reichte aus, dass einer, aus welchem Grund auch immer, entgegnete: Ihr seid nicht die Mehrheit, oder: Ihr werdet es nicht lange bleiben; oder auch: Ihr mögt die Mehrheit sein, aber Recht habt ihr nicht - dann brach Entrüstung über ihn herein. Doch auf Argumente musste er sich nicht einstellen. Weder musste er selber welche vortragen, noch wurden ihm welche entgegengehalten. Auf beiden Seiten wurde nur Stimmung gemacht, von Tag zu Tag lauter. 

Im Stimmungmachen wird immer der gewinnen, der in der Offensive ist. Und das waren nicht die Korrekten, die behaupteten ja, selbstverständlich und (mindestens moralisch) schon immer da gewesen zu sein; und begaben sich eo ipso in die Defensive: Als dynamisch konnten sich die Andern darstellen - ohne an nur einem Punkt positiv und spezifisch werden zu müssen.

Nein, ich habe nicht gerade den Wahlerfolg von Donald Trump erklärt, sondern lediglich, wie die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel, die eine politische Richtungsentscheidung war, in die Gefahr des Scheiterns geriet, weil sie von denen ihrer Unterstützer, die an ihre Identität eher als an Deutschlands  Stellung in Europa und in der Welt gedacht hatten, zu einer Sache privater Neigungen trivialisiert worden ist. 

Es ist höchste Zeit, aus der Defensive in den Angriffsmodus überzugehen: Die Gartenzwerge sind es nicht, die Deutschland stark machen wollen.




Montag, 13. August 2018

Fischers halbe Einsicht.


Deutschlands Aufgabe im Migrationsproblem hat mit Willkommenskultur und Gutmenschelei gar nichts zu tun. Die haben bloß Verwirrung gestiftet und in die Sackgasse geführt. In der Folge wurde Europa geschwächt und Deutschland gelähmt. Tatsächlich ging und geht es um Europas Selbstbe- hauptung. Solange Deutschland Schrittmacher war, stand Trumps Plan, Amerika groß zu machen, indem er alle andern kleinmacht, ein Bollwerk im Weg. 

Inzwischen hat er Fortschritte gemacht, weil Europa stagniert. Joschka Fischer hat davor gewarnt, aber den Bogen von der Sicherheits- zur Völkerwanderungsproblematik hat er nicht geschlagen. 
Alles muss man selber machen... 

aus welt.de, 30. 5. 2018 
 
Von Sascha Lehnartz

... „Ein Komet namens Donald Trump“ sei auf der Erde eingeschlagen und entfalte nun seine umstürzende Wirkung für die auf Amerika gestützte Nachkriegsordnung, ist Fischer überzeugt. Dieser „fundamentalen Veränderung“ müsse sich die Bundesregierung stellen, denn sie habe „dramatische Auswirkungen“.

Als zweite schwerwiegende Veränderung an der Spitze der globalen Ordnung sieht er den den Aufstieg Chinas. Durch den Rückzug Amerikas aus seiner Rolle als Garant der internationalen Ordnung und die wachsende Macht Chinas stelle sich die Frage nach den Möglichkeiten von Europas Unabhängigkeit und Selbstbestimmung dringender denn je. Die EU müsse sich in die Lage versetzen, „zu einer Instanz zu werden, die über Europa entscheidet“. Ansonsten würden andere Mächte diese Entscheidungen treffen. 


Verstärkt werde diese Entwicklung durch den rasanten technologischen Wandel, bei dem Europa Gefahr laufe, von China und den Vereinigten Staaten auf dem Feld der Zukunftstechnologien abgehängt zu werden. Zudem dürfe man sich in Deutschland keine Illusionen machen: „Die Sicherheit und Verteidigung Deutschlands wird nicht mehr durch die USA gewährleistet“, befürchtet Fischer. Die traditionelle verteidigungspolitische Zurück- haltung Deutschlands sei aber nur möglich gewesen, weil es die amerikanische Sicherheitsgarantie gegeben habe.

„Wir waren nie wirklich selbst verantwortlich für unsere Sicherheit.“ Diese Verantwortung müsse man nun übernehmen. Dies, glaubt der ehemalige Außenminister, wäre unter einer Präsidentin Hillary Clinton im Übri- gen kaum anders gewesen. Angesichts des desolaten Ausrüstungsstandes der deutschen Streitkräfte müsse man sich fragen, wie viel man bereit sei einzusetzen, damit Europa als politische Macht ernst genommen wird. ...


 

Sonntag, 12. August 2018

Deutschland hat gar kein Ausländerproblem.


Deutschland sei kein Einwanderungsland, klagt die heutige Frankfurter Allgemeine. Sie illustriert es mit dem Foto von einer Gruppe von Kindern mit Kopftuch, schwarz-rot-goldener Schärpe und türkischem Winkelement.

Die Einwanderungsdebatte in Deutschland litte an ihrer Verlogenheit - wer sagt das nicht! Doch in welchem Punkt? Der Fall Özil bringt es an den Tag - aber doch nicht zur Sprache. Zur Sprache, das ist dies: Bevor Deutschland ein Einwanderungsproblem hat, hat es ein Türken-Problem, das aus irgendeinem Grund nicht ausgesprochen werden darf und zu einem allgemeinen Ausländerproblem breitgeredet wird.

Die türkische Minderheit in Deutschland ist ein Sonderfall auf der ganzen Welt. Nirgends sonst gibt es eine so starke Volksgruppe, die mit dem Land, in das sie eingewandert ist, historisch und kulturell nichts verbindet. Das Unikum erkennt man schon daran, dass die hiesigen Türken nicht einmal selbstverständlich Deutsch sprechen können. Die Algerier in Frankreich, die Inder und Westinder in Großbritannien und, o Gott, ja: die Schwarzen in Amerika ver- bindet mit dem Land, in dem sie leben, eine lange, schmerzhafte Geschichte, aber auch eine Sprache, die schon in ihrem Herkunftsland als ein Kulturgut geschätzt war. Nichts dergleichen verbindet die Türken mit Deutschland. Diese Minderheit ist das rein künstliche Produkt des Arbeitskräftemangels in Westdeutschland infolge des langen Wirtschaftswunders (kenn'se noch?).

Das ist schon schwierig genug. Und doch fängt das Hauptproblem hier überhaupt erst an. Die erste türkische Gene- ration in Deutschland lebte auf gepackten Koffern. Ein paar Jahre ordentlich Geld verdienen, dann zurück in die Türkei und ein Stück Land für die ganze Familie kaufen, das war die allegemeine Einstellung. Gibt es eine Statistik, die sagt, in wie vielen, nämlich wenigen Fällen sich die Gastarbeiter-Existenz wirklich so abgespielt hat? Aber Realität hatte die Illusion schon, denn sie hielt die Türken davon ab, sich hier in irgendeiner Weise häuslich einzurichten. Sie lebten in den baulich prekärsten Vierteln und taten nichts für die Verbesserung des Wohnumfelds; 'für die paar Jahre?'

Das ist nun lange her, aber zu einer Volksgruppe in Deutschland hat sich die türkische Minderheit nie konstituieren können.* Das hat mit ihrer eignen nationalen Identität oder richtiger: dem Mangel daran zu tun. Da ist zunächst die große Masse der Kurden, die sich im Kemalismus nie zuhause gefühlt hat, und bei den ethnischen Türken buhlten Graue Wölfe und Islamisten um dessen Erbe. Letztere haben zur Zeit ein Bündnis, doch wer weiß, ob es Erdogan überlebt. Die absurde Situation: Seine stärkste Basis hat Erdogan unter den Türken in Deutschland; dass er unter rechtsstaatlichen Bedingungen in der Türkei überhaupt eine Mehrheit fände, darf bezweifelt werden. Dass aber darum unter den deutschen Türken die Bereitschaft, nachhause zurückzukehren, nennenswert gestiegen wäre, ist nicht zu erkennen. Nicht nur wissen sie nicht, wo sie hingehören. Sie wissen nicht einmal, wo sie hingehören wollen.

Die Vorbehalte vieler Deutscher gegen zuwandernde Ausländer beruhen auf Zweifeln an deren Loyalität gegen ihr Gastland. Die hat Mesut Özil nun legitimiert: "Die wollen ja gar keine Deutschen sein! Wie kommen sie dann aber darauf, gleiche Rechte zu fordern?"

*) Erkenntlich nicht zuletzt daran, dass sich eine türkische politisch-kulurelle Elite in Deutschland, die beide Seiten gegeneinander repräsentieren und ergo miteinander vermitteln könnte, nie ausgebildet hat.


Donnerstag, 9. August 2018

Stark ist nur ein schlanker Staat.

Willem van den Broeck

Unter der Überschrift Sie träumen vom starken Staat hat der Berliner Tagesspiegel unlängst berichtet, dass von den deut- schen Hochschulabgängern fast die Hälfte eine Laufbahn im Staatsdienst anstrebt. Dass er sie väterlich in seine starken Arme schließt, davon dürften sie wohl träumen. Doch der aufgeblähte herzverfettete Verwaltungsstaat ist ganz wesenlich ein schwacher Staat. Stark ist nur ein schlanker Staat, der kein Millionenheer von Kostgängern an Ärmeln und Rockzipfeln mitschleppt wie einen Klotz am Bein. Nur der kann leisten, was er will.

Merke: Staat ist, wer oder was die politischen Entscheidungen trifft. Die ganze Maschinerie außenrum ist eine re- striktive Rahmenbedingung.


Mittwoch, 8. August 2018

Das ultimative Argument für ein Grundeinkommen.

 
Wer was kann, weil er was will, bleibt nicht gern untätig. Wer nichts kann, weil er nichts will, sollte untätig bleiben. 

Der Öffentlicher Dienst macht's vor.




Montag, 6. August 2018

Ihr schönstes Abenteuer heißt Sicherheit.

Blick auf einen Behördenschreibtisch - mit Stempeln, Aktenberg und Computerbildschirm.
aus Tagesspiegel.de, 5. 8. 20128 

Studierende wollen in den öffentlichen Dienst  
Sie träumen vom starken Staat Studierende sehnen sich nach einer sicheren Stelle im öffentlichen Dienst. Doch diese Hoffnung kann trügerisch sein. 

Mitsuo Martin Iwamoto

Viele Studierende wollen laut einer neuen Studie im öffentlichen Dienst arbeiten – dieses Ergebnis einer Umfrage ist auf den ersten Blick überraschend. Der öffentliche Dienst? War das nicht diese verstaubte Amtsstube, in der strikte Hierarchien und langweilige Aktenschieberei den Alltag dominieren? Warum wollen Studierende nicht lieber mit einem Start-up reich werden oder in einem Unternehmen Karriere machen? Stattdessen drängt es laut der Studie des Beratungsunternehmens EY 42 Prozent der Studierenden zu einer Laufbahn bei Vater Staat (zur vollständigen Studie geht es hier).

... Der öffentliche Dienst biete außerdem etwas, das in der freien Wirtschaft so nicht mehr vermutet wird – Sicherheit und eine langfristige Jobperspektive. „Im öffentlichen Dienst habe ich einen verlässlichen Arbeitgeber und weiß, dass am Ende des Monats auch mein Geld auf dem Konto landet“, sagt Mario Heybach. Bei seinen vorherigen Arbeitgebern in der Gastronomie sei das nicht immer der Fall gewesen. 


Außerdem beobachtet er in seinem Umfeld, wie viele Menschen sich um ihre Zukunft am Arbeitsplatz sorgen. Ein Problem, das viele Studierende umtreibt. So ist Jobsicherheit laut der Studie von EY auch das Hauptauswahlkriterium bei der Berufswahl: 57 Prozent der Studierenden nennen es als einen der wichtigsten Faktoren bei der Wahl eines Arbeitgebers.

Oliver Simon, Leiter der Personalabteilung von EY in Deutschland, überrascht dieses hohe Sicherheitsbedürfnis der Jugend. „Der Arbeitsmarkt boomt, die Unternehmen suchen händeringend nach Fachkräften“, sagt er. „Da ist es schon verwunderlich, dass die Studierenden so sehr auf Sicherheit bedacht sind.“ Die Wahrnehmung der Jugendlichen entspreche nicht der Realität auf dem Arbeitsmarkt.

Eine Folge der Angst vor der "Abstiegsgesellschaft"

Bernhard Heinzlmaier, Vorsitzender des Instituts für Jugendkulturforschung in Wien, hingegen überraschen die Studienergebnisse nicht. „Wir sehen seit Jahren ein hohes Sicherheitsbedürfnis, insbesondere in der Jugend“, sagt er. So gaben 2016 in einer Studie in Österreich 60 Prozent der Befragten an, dass sie Halt im Leben suchen. Bei den unter 30-Jährigen lag dieser Wert sogar bei 75 Prozent. In Deutschland sei die Situation ähnlich.

Heinzlmaier sieht für diese Wahrnehmung auch durchaus gute Gründe. So sei die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten zunehmend in Richtung einer „Abstiegsgesellschaft“ gegangen. Der vom Soziologen Oliver Nachtwey in seinem gleichnamigen Buch geprägte Begriff beschreibt eine Gesellschaft, in der die Angst vor dem Statusverlust insbesondere unterhalb der oberen Mittelschicht dominiert. Ein Indiz für die „Abstiegsgesell- schaft“ sieht Nachtwey in der starken Zunahme von atypischer Beschäftigung und Solo-Selbstständigen. Dem Statistischen Bundesamt zufolge arbeiteten 2016 20,7 Prozent der Erwerbstätigen als atypisch Beschäftigte und 5,5 Prozent als Solo-Selbstständige. Zum Vergleich: 1991 lagen diese Zahlen noch bei 12,8 und 3,7 Prozent. Gleichzeitig kam es zu einem Rückgang von Normalarbeitsverhältnissen und der mit ihnen verknüpften sozialen und wirtschaftlichen Absicherung. ...

Ob sie beim Staat jedoch tatsächlich fündig werden, ist fraglich. Denn fast die Hälfte aller Neueinstellungen bei staatlichen Stellen ist derzeit befristetet – gegenüber 31 Prozent in der Privatwirtschaft.


Nota. - Von all den Zukunfstszenarien, mit denen wir seit Jahren traktiert werden, ist dies die schrecklichste. Früher war die Schubkraft der Elitebildung der Drang, voranzukommen. Heute bildet sich die Elite aus der Angst vor dem Abstieg. Und die sollen die Risiken der digitalen Revolution  meistern? Zylinder ohne Dampf, oder Dampf ohne Zylinder.
JE

Sonntag, 5. August 2018

Das Ende der Eiszeit war der Anfang des Anthropozän.

aus derStandard.at, 31. Juli 2018, 12:00

Was zum Ende der Eiszeit geführt haben könnte
Forscher präsentieren neue Vermutung, warum vor gut 10.000 Jahren der CO2-Anteil in der Atmosphäre stieg, was zur folgenreichen Erderwärmung führte

von Klaus Taschwer

Mainz/Wien – Rein wissenschaftlich betrachtet ist der Buchtitel des Klassikers "Der Mensch erscheint im Holozän" von Max Frisch falsch gewählt. Mit dem Holozän (Altgriechisch für "das völlig Neue") wird in den Geowissenschaften der gegenwärtige Zeitabschnitt der Erdgeschichte bezeichnet, der vor rund 11.700 Jahren mit der Erwärmung der Erde nach dem Pleistozän begann. Und damals war der moderne Mensch natürlich längst erschienen und hatte auch schon etliche Teile des Planeten betreten, etwa den amerikanischen Doppelkontinent.

Das "Nacheiszeitalter" und sein stabileres und weniger kühles Klima trugen aber wesentlich dazu bei, dass sich die Eroberung der Erde durch den Menschen beschleunigte. Eine Folge davon war das Holozän-Massensterben vor gut 10.000 Jahren, als viele der großen Säugetiere in Eurasien und in Amerika ausstarben.

Folgenreiche Erwärmung

Sehr viel wichtiger war, dass der Mensch aufgrund des damaligen Klimawandels anfing, Getreide und andere Pflanzen anzubauen sowie Ziegen, Schafe und andere Tiere zu domestizieren. Diese neolithische Revolution durch die Landwirtschaft begann in der Levante und breitete sich von da aus über die Welt aus.

Doch warum wurde es vor fast 12.000 Jahren wärmer, sodass die Eismassen nach und nach abschmelzen konnten? Der Einfluss des Menschen konnte es noch nicht gewesen sein. Was aber war es dann?

Offensichtlich ist, dass es im Laufe des frühen Holozäns zu einem Anstieg des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre kam. Diese Zunahme der CO2-Konzentration war freilich weitaus geringer als jene seit Beginn der industriellen Revolution: Der Anteil des Treibhausgases stieg am Beginn des "Nacheiszeitalters" von rund 260 auf 280 ppm (also parts per million), in den letzten 200 Jahren von 280 auf 400 ppm.

Weit hergeholte Beweismittel

"Verglichen mit heute scheint dieser Anstieg um 20 ppm gering zu sein", sagt der Geowissenschafter Daniel Sigman, "dennoch gehen Forscher davon aus, dass genau das ein erneutes Abkühlen während des Holozäns verhindert hat." Wodurch aber gelangte damals nach und nach mehr Kohlendioxid in die Luft? Sigman, der an der Uni Princeton forscht und lehrt, dürfte nun gemeinsam mit einem deutsch-amerikanischen Forscherteam fündig geworden sein. Und sowohl die Beweismittel wie auch die konkrete Erklärung sind jedenfalls für Laien buchstäblich weithergeholt.

Die Ausgangshypothese der Wissenschafter: Langfristig betrachtet sind die Weltmeere die wichtigsten Depots für die Einlagerung von atmosphärischem Kohlendioxid, das heute in den Meeren für eine bedrohlich starke Versauerung sorgt. Die Forscher um Erstautorin Anja Studer (Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz) begaben sich für ihre Studie in das Südpolarmeer rund um die Antarktis, um dort nach Fossilien von Foraminiferen, Kieselalgen und Tiefseekorallen zu suchen.

Das Beweismittel: Analysen solcher fossiler Foraminiferen (links), Kieselalgen (Mitte) und Tiefseekorallen (rechts) aus dem Südpolarmeer deuten darauf hin, dass dieser Ozean zu Beginn des Holozäns vermehrt Kohlendioxid abgab.

Auftrieb im Südlichen Ozean

Aus den Anteilen der Stickstoffisotope in den Überresten dieser drei verschiedenen Arten von Meeresbewohnern konnten die Wissenschafter die Nährstoffkonzentration an der Oberfläche des Südpolarmeers in den letzten mehr als 10.000 Jahren rekonstruieren – und damit auch die Veränderungen der Strömungsbedingungen, die dort jeweils herrschten.

Wie die Forscher im Fachblatt "Nature Geoscience" berichten, nahm der Auftrieb im Südlichen Ozean im Laufe des frühen Holozäns zu, was wiederum dazu führte, dass mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangte – vermutlich in etwa jene zusätzlichen 20 ppm, die so folgenreich für das Klima des Planeten und die Entwicklung der Menschheit waren. Ein Rätsel allerdings bleibt, das die Forscher noch nicht lösen konnten: Warum kam es zu dieser Veränderung der Zirkulation im Südpolarmeer? 

Mittwoch, 1. August 2018

Joschka Fischer über die Involution des Westens.

aus derStandard.de, 30. März 2018, 15:33

Die Revolution des Donald Trump
Eine Zerstörung oder auch nur Störung des transatlantischen Handels kann nicht im Interesse der transatlantischen Partner sein und nur auf eine Schwächung des Westens insgesamt hinauslaufen

von Joschka Fischer

Donald Trump macht Ernst, auch wenn Europa vorerst ausgenommen bleibt. Mit seiner Entscheidung, Strafzölle auf Stahl- und Aluminiumeinfuhren aus China und Europa zu erheben, und mit seiner Drohung, sollte die EU ihrerseits US-Einfuhren mit Strafzöllen belegen, zu eskalieren und ebensolche zu erheben legt er Hand an das System des freien Welthandels. Statt multilateraler Regeln soll es fortan "America first!" heißen. Die Folgen werden in der Realität zu besichtigen sein und auch das transatlantische Bündnis nicht unbeschädigt lassen.

Es waren ja gerade die USA gewesen, die das freie Welthandelssystem nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt und über lange Jahrzehnte hinweg mit großem Erfolg durchgesetzt hatten. Das heutige System des Welthandels kann man daher mit Fug und Recht als ein amerikanisches System bezeichnen, von dem allerdings viele profi- tiert haben und profitieren. Es geht bei der Entscheidung des Präsidenten daher nicht nur um den Handel, son- dern um die Verabschiedung Amerikas von der von ihm selbst errichteten Weltordnung, der Pax Americana, und damit auch von seiner Rolle als Garant dieser Ordnung.


Alle in Europa sind davon betroffen. Kaum ein Land ist mit dieser Ordnung aber mehr verbunden als Deutsch- land, der amtierende Exportweltmeister. Sein Wiederaufstieg nach 1945 (wie der Japans) war und ist auf das Engste mit dieser Ordnung verbunden. Bricht diese weg oder wird gar aktiv infrage gestellt, geht es um mehr als nur um Handel, sondern um die Fundamente des Wohlstandes dieser beiden Gesellschaften. Die hohe Exportab- hängigkeit der deutschen Volkswirtschaft macht Deutschland extrem druckempfindlich bei hochgehenden Handelsbarrieren und Strafzöllen.


... Man sollte sich keine Illusionen machen. Käme es zu einem veritablen transatlantischen Handelskrieg, gehörte Deutschland aufgrund der handelspolitischen Abhängigkeiten und der Machtverhältnisse nur zu den Verlierern, trotz der EU und ihres großen Binnenmarktes. Die USA sind eben auch handelspolitisch eine Supermacht.

Dies mag bei dem einen oder anderen EU-Mitglied durchaus zu Anwandlungen von Schadenfreude führen, wegen vermeintlicher oder tatsächlicher deutscher Arroganz. Dies wäre aber sehr kurz gedacht, denn eine Schwächung der deutschen Wirtschaft, der größten innerhalb der EU, würde auch sofort negative Auswirkungen auf die EU und die Eurozone haben, zumal der Brexit und die politischen Dissonanzen innerhalb der EU deren Geschlossenheit und Leistungsfähigkeit kurzfristig keineswegs steigern werden.

Die EU, verantwortlich für Handelsfragen ihrer Mitgliedstaaten, ist handelspolitisch in keiner starken Position. Und Deutschland am allerwenigsten. Es zeigt sich jetzt, wie töricht es von Berlin war, auf die jahrelange Kritik und die vielfältigen Mahnungen von Freunden und Partnern am anhaltend hohen deutschen Außenhandels- überschuss nicht mit verstärkten Investitionen im Inland zu reagieren.

Zudem: Bei einem ausgewachsenen transatlantischen Handelskrieg getreu der alttestamentarischen Devise "Auge um Auge ..." drohen nur allgemeine Blindheit und Verlierer auf allen Seiten. Er würde eine Rückkehr zur Abschottung und zum Protektionismus nach sich ziehen, mit noch viel schlimmeren Folgen für die Weltwirt- schaft nebst einem raschen Zerfall des Westens.

Es wird der EU also nichts anderes bleiben, als zu verhandeln und mit den Zähnen zu knirschen.

Eine machtpolitische Konsequenz der Trump'schen Handelsrevolution ist allerdings bereits heute absehbar: Die EU wird dadurch näher in Richtung China geschoben, was weder im Inter- esse der Europäer noch der USA liegt.

Das Ausgreifen Chinas in Richtung Europa mit seiner strategischen Initiative der neuen Seidenstraße wird die Europäer verstärkt vor die neue Alternative zwischen Eurasien (Ostorientierung) und Transatlantismus (West- orientierung) stellen. Das auszubalancieren wird für Europa in Zukunft nicht einfach werden. Dabei geht es nicht mehr an erster Stelle um Russland, sondern um die neue Weltmacht China.

Eine Zerstörung oder auch nur Störung der transatlantischen Handelsbeziehungen kann deshalb nicht im Inter- esse der transatlantischen Partner sein und nur auf eine Schwächung des Westens insgesamt hinauslaufen.

... Freilich wird sich die Situation auch für Peking mit dem Beginn eines Handelskrieges mit den USA radikal ändern. Die Welt wird dadurch sehr viel instabiler werden und die ostasiatischen Regionalkonflikte sehr viel gefährlicher, weil aufgeladen mit einem Konflikt zwischen aufsteigender und absteigender Weltmacht.

Europa andererseits wird erleben müssen, wie schwach es tatsächlich ist in einer Welt, in der sich sein wich- tigster Verbündeter und seine bisherige Schutzmacht nicht nur in der Handelspolitik von einem regelbasierten Multilateralismus zugunsten eines machtpolitischen Nationalismus verabschiedet. 


Nota. - Schmeichelhaft, dass ein erfolgreicher Außenpolitiker mit Verspätung meine Analyse teilt, wenigstens die erste Häfte. Doch seine Schlussfolgerung ist bedenklich. Nur verhandeln und mit den Zähnen knirschen? Das riecht ranzig nach Friedensbewegung. Europa muss vielleicht nicht handelspolitisch, aber welt politisch in die Offensive gehen, und das muss es sich sicherheitspolitisch was kosten lassen. Auch hier, wie beim Migra- tionsproblem, muss Deutschland in Führung gehen.
JE