aus derStandard.at, 22.8.2018
Wo wir Europäer genetisch herkommen
Europa
war immer schon ein Migrationsgebiet, das lässt sich an unseren Genen
ablesen und hat Einfluss auf die medizinische Forschung
von Bernadette Redl, CURE
50 – 30 – 20. Was klingt wie eine Größenangabe, beschreibt in Wahrheit
aber uns alle. Mit "uns" sind die Bewohner Zentral- europas gemeint und
mit 50, 30 und 20 Prozent unsere genetische Zusammensetzung, denn sie
ist ein Potpourri. Beginnen wir von vorn, also bei den ältesten
Vorfahren, die in unserem Erbgut zu finden sind: den Ureuropäern, von
Berufs wegen Jäger und Sammler.
Sie sind vor etwa 40.000 Jahren
über Zentralasien aus Afrika ausgewandert und haben sich, in Europa
angekommen, mit den Neandertalern fortgepflanzt und diese schließlich
verdrängt. Für diese Wanderung gibt es archäologische und
paläoanthropologische Befunde, doch auch genetische Untersuchungen
deuten darauf hin. 20 Prozent unserer Gene lassen sich auf diese Gruppe
zurückführen.
Vor 8.000 Jahren hat eine weitere Wanderungsbewegung
Einfluss auf unsere genetische Zusammensetzung genommen. Damals sind
Ackerbauern aus Anatolien eingewandert, sie beherrschen unsere DNA heute
zu 50 Prozent. "Die Hälfte der heutigen Gene der Zentraleuropäer ist
also eigentlich asiatisch", sagt Johannes Krause, Direktor des
Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena.
Asiatische Komponenten
Auch ein alter Bekannter war damals mit von der Partie: Zumindest die väterliche Linie Ötzis,
so der aktuelle Stand der Wissenschaft, ist Teil einer genetischen
Grundausstattung, die damals aus dem Nahen Osten nach Europa gekommen
ist.
Eine Wanderungsbewegung vor rund 5.000 Jahren hat
schlussendlich die letzten 30 Prozent unserer heutigen genetischen
Zusammensetzung zu verantworten. Die letzten Ankömmlinge waren
Bevölkerungsgruppen aus der russischen Steppe nördlich des Kaspischen
Meeres. "Die Expansion dieser Population hat die genetische
Zusammensetzung noch einmal verändert und eine weitere asiatische
Komponente mitgebracht", sagt Krause.
Vermutlich verdanken wir
dieser Gruppe auch die europäischen Sprachen und unsere helle Hautfarbe.
Durch diese Wanderungsgeschichte und die Verbindung über die
Beringstraße, so Krause, sind die Europäer genetisch weit enger mit
Nord- und Südamerikanern, auch mit Indianern als etwa mit den Chinesen
verwandt.
Schöner Mix
Unsere Gene sind also eine Mixtur
verschiedener Populationen, die in den letzten tausend Jahren nach
Europa gekommen sind. "Die haben sich tatsächlich sehr gut vermischt und
auch nicht vor Großbritannien oder der Iberischen Halbinsel
haltgemacht. Die Migrationsströme sind, mit kleinen Ausnahmen wie etwa
Sardinien, in alle Teile Europas vorgedrungen", sagt Krause. "Weil
Europa eine sehr kleine Region ist, gab es immer viel genetischen
Austausch." Durch diese Durchmischung sind sämtliche Gene überall
vertreten, was so viel heißt wie: Wir Europäer sind alle relativ nahe
verwandt.
Und dennoch: Nicht überall ist die Zusammensetzung aus
50, 30 und 20 Prozent gleich. "Je nachdem, wo man ist, gibt es mehr oder
weniger Komponenten aus der Vergangenheit, die Mixturen unterscheiden
sich", sagt Krause. Wie genau unsere genetischen Daten zeigen, woher wir
kommen, hat im Jahr 2008 eine Studie der Universität von Kalifornien
gezeigt.
Dafür wurden
Erbgutausschnitte von Europäern und Informationen zur Herkunft ihrer
Großeltern ausgewertet. Als die Forscher ihre Ergebnisse entlang von
zwei Achsen grafisch darstellten, erhielten sie eine Karte, die der
Europakarte verblüffend ähnlich war – Italien, die iberische Halbinsel
und sogar Unterschiede zwischen der italienisch-, deutsch- und
französischsprachigen Schweiz waren darauf zu erkennen.
An den
genetischen Daten kann also die geografische Herkunft der Vorfahren
eines Menschen abgelesen werden. "An der Mixtur kennt man einem Europäer
an, dass er Europäer ist", sagt Krause.
Besonderheiten
In
manchen Regionen sind die genetischen Merkmale sogar besonders
spezifisch, etwa auf Sardinien. Krause: "Die Sarden sind genetisch fast
komplett so zusammengesetzt wie die frühen Einwanderer aus Anatolien vor
8.000 Jahren. Jäger-und-Sammler- sowie Steppengene finden sich kaum."
Das
hat auch die Untersuchung der kalifornischen Forscher ergeben: Durch
die geografische Isolation Sardiniens ist dort eine eigene, vom
italienischen Festland abgegrenzte genetische Population zu finden. Auch
die Esten sind besonders. Sie haben die größte Menge eiszeitlicher DNA
in Europa, die Anteile der Jäger und Sammler im Erbgut sind sehr hoch.
Und
noch ein Land in Europa sticht hervor, wenn um die Gene geht: Island,
das "lebende Labor", wie Adam Rutherford es in seinem Buch "Eine kurze
Geschichte von jedem, der jemals gelebt hat" nennt. Denn eine Vielzahl
der Isländer hat ihre genetischen Daten der Forschung zur Verfügung
gestellt.
Das
Unternehmen, das sie besitzt, heißt DeCode Genetics und wurde im Jahr
2012 vom amerikanischen Biotechnologieunternehmen Amgen gekauft.
Gemeinsam mit den Ahnentafeln und Verwandtschaftslinien, die in Island
fast bis zu den Anfängen der Besiedelung im Jahr 900 erhalten sind,
lässt sich rekonstruieren, wie jeder Isländer mit jedem Isländer
verwandt ist. "Für eine genetische Studie ist das toll", sagt Krause.
Auch
bei Amgen ist man begeistert: "Wir können durch die isländischen Daten
die genetischen Grundlagen verschiedener Krankheiten besser verstehen
und so neue Therapien dafür finden", sagt John Dunlop, Vizepräsident des
Forschungsbereichs Neurowissenschaften.
Muster, die in unserer Biologie
zu Krankheiten führen, schreibt auch Rutherford, könne man beim
Individuum oft nicht erkennen, in einer großen Anzahl von Daten dagegen
schon. Da auch die Isländer aufgrund ihrer geografischen Lage isoliert
sind, so Rutherford, kann untersucht werden, "was vererbt wird, und was
auf die Umwelt zurückzuführen ist".
Geringere genetische Vielfalt
Doch
unter Wissenschaftern gibt es Skeptiker in Bezug auf die Erforschung
von neuen Medikamenten mithilfe der isländischen Daten. Johannes Krause
ist einer von ihnen. "Island ist eigentlich nicht die ideale Population,
um solche Forschungen durchzuführen, weil die genetische Vielfalt dort
viel geringer ist." Um möglichst repräsentativ zu sein, so Krause,
"sollte man so eine Studie dort durchführen, wo wir herkommen, nämlich
in Afrika". Dennoch sieht Krause auch Vorteile: "Um bestimmte
Mechanismen zu verstehen, hilft das Projekt in Island der Forschung
dennoch sehr."
Doch nicht nur innerhalb, auch nach außen hin
unterscheiden Europäer sich genetisch. Etwa wenn es um Milch geht. Denn
die Hälfte der Europäer ist laktoseintolerant, weiß Krause: "Das ist in
den Genen festgeschrieben." In Europa allerdings haben 50 Prozent der
Menschen auch eine Mutation, die sich in den letzten 3000 bis 4000
Jahren ausgebreitet hat und die es uns möglich macht, im
Erwachsenenalter Milch zu trinken.
Dieses
ungewöhnliche Phänomen heißt Laktasepersistenz, punktuelle
DNA-Veränderungen sind laut Rutherford dafür verantwortlich. "Wir sind
die Mutanten, im Rest der Welt ist das weniger verbreitet", sagt Krause.
Woher die Vorsicht kommt
Und
noch etwas unterscheidet unser Genom: Die Spuren der Pest, die vor
5.000 Jahren mit den Steppenbewohnern nach Europa gekommen ist. Wer sie
überlebt hat, reagierte mit bestimmten Genvarianten. Untersuchungen des
Erbguts von Roma in Rumänien, die einst aus Nordwestindien nach Europa
gewandert waren, und von jenen Populationen, die noch in Indien leben,
haben gezeigt: Letztere haben diese Genvarianten nicht. Die Pest hat
sich also in das europäische Erbgut eingeschrieben.
Eingeschrieben,
und zwar in unsere Köpfe, ist uns Europäern auch die Vorsicht, wenn es
um genetische Eigenschaften geht und darum, sie bestimmten
Menschengruppen zuzuordnen. "In den USA wird verlangt, dass Patienten im
Krankenhaus ihre ethnische Herkunft angeben, weil man bei bestimmten
Medikamenten schon weiß, dass sie je nach Migrationshintergrund
unterschiedlich funktionieren", sagt Krause.
Immer enger verwandt
In
Europa ist man bei Einteilungen weit vorsichtiger, besonders bei
Begrifflichkeiten. Das Wort "Rasse" ist seit dem Nationalsozialismus
verpönt, von Ethnien oder Bevölkerungsgruppen ist nun die Rede. Doch
nun, gerade durch die Erforschung des Erbguts, geht es wieder um
Unterschiede und Gemeinsamkeiten – sie werden jetzt besonders deutlich.
Insgesamt,
sagt Krause, sind wir alle zunehmend enger miteinander verwandt. Durch
den regen Austausch und die Globalisierung rücken die Menschen auf
dieser Welt immer näher zusammen – auch genetisch.
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