Freitag, 28. August 2020

Die Jamnaja und die Steinzeitpest.


 aus spektrum.de, 26.08.2020

Die erste Pandemie der Menschheitsgeschichte
Im 4. und 3. Jahrtausend v. Chr. schrumpfte Europas Bevölkerung rapide. Genetiker sind überzeugt: Die Pest hatte gewütet, die zuvor noch in der Schwarzmeersteppe umgegangen war.


von Hubert Filser

Irgendetwas Dramatisches muss vor rund 5000 Jahren in Mitteleuropa geschehen sein, vielleicht auch schon einige hundert Jahre zuvor. Nur so viel ist sicher: Für die Zeit von 3500 bis 2800 v. Chr. haben Archäologen kaum Bestattungen dokumentiert. Auch Spuren großer Siedlungen fehlen. Es scheint, als seien zuvor kultivierte Landschaften schlagartig menschenleer geworden. Nichts deutet dabei auf kriegerische Ereignisse oder gewaltsame Konflikte unter den neolithischen Bauern hin. Archäologen rätseln, was damals passiert ist.

Neue genetische Untersuchungen legen nahe, dass der Schlüssel zu diesem Rätsel im Osten Europas liegen könnte. In den weiten Landschaften vom Ural bis zu den Karpaten und zum Kaukasus im Süden lebten damals mobile Viehzüchter, die auf ihren gezähmten Pferden Rinder, Schafe und Ziegen über die Steppen getrieben haben. Von dieser so genannten Jamnaja-Kultur kennen Archäologen bis heute praktisch keine Siedlungen. Nur Gräber. Hunderttausende von Grabhügeln, die vorwiegend aus der Zeit von vor 3600 bis 2300 v. Chr. stammen.

In einigen Jamnaja-Gräbern entdeckte Johannes Krause jüngst Hinweise, die ein neues Licht auf die Ereignisse in Mitteleuropa werfen: Der Direktor der Abteilung für Archäogenetik am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena und sein internationales Team fanden heraus, dass einige der Toten eine frühe Form des Pestbakteriums in sich trugen. Die Forscher fragten sich, ob es nicht sein könnte, dass der Erreger auch nach Mitteleuropa gelangt war.

Der Weg der Pest nach Europa

Der bislang älteste Nachweis von Yersinia pestis ist rund 4900 Jahre alt und stammt aus einem Grab im russischen Nordwestkaukasus. Weitere, nur unwesentlich jüngere Spuren des Erregers fanden die Forscher im Altai-Gebirge, sie sind 4800 Jahre alt. Genetisch sind die Bakterien eng miteinander verwandt. »Noch kennen wir den tatsächlichen Ursprungsort für die Steinzeitpest nicht, wahrscheinlich lag er in Zentralasien«, sagt Krause. »Wir wissen aber, dass die Erreger erstmals vor rund 5500 Jahren auftauchten.« Das ergaben molekularge-netische Berechnungen. Anhand der Mutationsrate des Krankheitskeims können die Forscher dessen Abstammungsgeschichte rekonstruieren. Darüber hinaus stellte Krause fest: »Alle bekannten Typen dieses Bakteriums gehen genetisch auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück.« Inzwischen haben Forscher für die Bronzezeit die Bakterien in ganz Europa nachgewiesen, von der Iberischen Halbinsel bis zum Baikalsee. »Die Steinzeitpest war die erste Pandemie der Menschheitsgeschichte«, sagt Krause.

Von Mensch zu Mensch übertrug sich die Steinzeitpest vermutlich über Tröpfcheninfektion – eine Lungenerkrankung, die noch gefährlicher war als die spätere von Nagetieren übertragene Beulenpest

Der dänische Archäologe Kristian Kristiansen von der Universität Göteborg vertritt eine andere Theorie. Er setzt den Ursprung der Steinzeitpest bereits vor etwa 5800 Jahren an. Zu jener Zeit lebten die Menschen der so genannten Cucuteni-Tripolje-Kultur in der Region der heutigen Ukraine. Sie gründeten dort bis zu 15 000 Einwohner fassende Megasiedlungen, die »möglicherweise auf Grund der Pest«, so Kristiansen, noch im 4. Jahrtausend v. Chr. niedergebrannt wurden. Von dort habe sich der Erreger nach Westen ausgebreitet, davon ist der Forscher überzeugt.

Der bislang einzige frühe Nachweis des Pesterregers bei Menschen außerhalb der Jamnaja-Kultur stammt aus Westschweden: Es handelt sich um eine Grablege mit zahlreichen Skeletten mittelneolithischer Bauern aus der Zeit um 2900 v. Chr. Kristiansen nennt den Fund die »Mutter aller späteren Pesterregerstämme«, der einen großen Teil der neolithischen Bevölkerung vom Norden Europas ausgehend auslöschte. Dieses Ereignis habe am Ende der Steinzeit um 2800 v. Chr. einen radikalen Umbruch eingeleitet: Es hätte für die Steppenreiter den Weg nach Europa geebnet. Sie hätten demnach von der Pest profitiert, sie aber nicht eingeschleppt. Johannes Krause widerspricht dieser Idee. Für ihn fehlen immer noch stichhaltige Belege. »Das ist genetisch ein völlig anderer Peststamm, der für die steinzeitliche Pandemie in Mitteleuropa keine Rolle spielte«, sagt Krause. Zudem sei Yersinia pestis bisher in den Siedlungen der Cucuteni-Tripolje-Kultur nicht nachgewiesen.

Der Stammbaum des Erregers

Die todbringenden Bakterien spalteten sich einst vom harmlosen Bakterium Yersinia pseudotuberculosis ab und wurden vor rund 30 000 Jahren in Nagern heimisch – bis sie vermutlich irgendwo in den eurasischen Steppenlandschaften von den Tieren auf den Menschen übersprangen. »Die genauen Übertragungswege kennen wir noch nicht«, sagt Krause. Zehntausende von Jahren war der Mensch zwar potenzieller Wirt, aber kein besonders viel versprechender. Denn innerhalb einer Gruppe Jäger und Sammler konnte er sich zwar verbreiten, doch er hatte nur wenig Gelegenheit, auch andere der weit umherziehenden Wildbeutergemeinschaften zu infizieren. Erst mit dem vermehrten Kontakt zwischen Menschengruppen und dem engeren Zusammenleben mit domestizierten Tieren, die ein Erregerreservoir gebildet haben könnten, änderte sich das.


Die geschliffene Axt aus Schiefergestein ist charakteristisch für die Schnurkeramikkultur des 3. Jahrtausends v. Chr. Der Fund stammt aus Mitteldeutschland.

Nur welches Tier käme als Zwischenwirt in Frage? »Wir haben hier die Vorläufer der Przewalski-Pferde im Verdacht, auf denen die Steppenreiter tagtäglich unterwegs waren«, sagt Krause. Lange Zeit war die Forschergemeinschaft davon überzeugt: Die heutigen Przewalski-Pferde in der mongolischen Steppe sind die letzten Wildpferde der Erde. Doch 2018 ergab eine Genstudie: Sie sind verwilderte Hauspferde, die Nomaden vor 5500 Jahren in der eurasischen Steppe gebändigt hatten. Aber diese Tiere waren nicht die Vorfahren unserer heutigen Pferde – bisher ist immer noch unklar, wo der Stammvater der Reittiere lebte. Vielleicht auch, weil die frühen gezähmten Steppenpferde vermehrt der Pest zum Opfer fielen? Krause zumindest hält einiges von dieser These.

Keine Beulen-, sondern eine Lungenpest

Von Mensch zu Mensch übertrug sich die Steinzeitpest vermutlich über Tröpfcheninfektion. Sie war also eine Lungenerkrankung, die sogar noch gefährlicher war als die spätere von Nagetieren übertragene Beulenpest, die sich über Flohbisse verbreitete. Kristiansen geht davon aus, dass sich die damalige Bevölkerung Europas von geschätzt acht Millionen Einwohnern mehr als halbierte.

Die Suche nach dem Schicksal dieser Menschen erhielt durch den jungen Zweig der Archäogenetik einen enormen Schub. Die neuesten Sequenzierungstechnologien erlauben es, schnell und kostengünstig die Überreste prähistorischer Menschen zu untersuchen. Für die Analyse uralter Genome brauchen Forscher nur wenige Milligramm Knochen- oder Zahnmaterial. Aus darin über Jahrtausende erhaltener DNA können sie nicht nur wichtige genetische Informationen über Herkunft, Augenfarbe oder Hinweise auf Laktoseintoleranz gewinnen, sie finden auch Spuren von Erregern wie Salmonellen – oder eben der Pest.


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Das Pandemieszenario ist zwar nur eines von mehreren, denn auch ein Klimawandel könnte für schlechte Ernten und Hungersnöte bei den neolithischen Bauern gesorgt haben. Doch wo sind all die Toten hin? Gerade die geringe Zahl von Skelettfunden zwischen 3500 und 2800 v. Chr. wertet Krause als Indiz, dass die Pest wütete. »Vielleicht fingen die Menschen in dieser Zeit an, ihre Toten zu verbrennen, um so der Gefahr aus dem Weg zu gehen, die von den Leichen ausging«, vermutet Krause. Oder sie ließen die todbringenden Körper einfach liegen, ohne sie zu bestatten.

Männer sind nicht mehr die, die sie mal waren

Archäologische Nachweise für diese Theorie gibt es noch keine, doch die Genetiker spürten einen weiteren Hinweis auf: »Wir sehen in den genetischen Daten, dass es vor rund 5000 Jahren praktisch einen kompletten Bevölkerungsaustausch in Mitteleuropa gegeben haben muss – vor allem bei den Männern«, sagt Krause. Die Gene der Jamnaja-Kultur verdrängten in Europa bis zu 95 Prozent des Erbguts der männlichen Bevölkerung. Der große Teil heute lebender männlicher Mitteleuropäer trägt ein Y-Chromosom, das von diesen Steppennomaden stammt.

Was damals genau passierte, ist aus archäologischer Sicht immer noch ein Rätsel. Haben die berittenen Viehhirten den Tod nach Mitteleuropa gebracht, als sie vor rund 4800 Jahren in kleinen, mobilen Gruppen mit ihren Pferden und Wagen ankamen? Und waren sie selbst womöglich schon immun, nicht aber die einheimischen Bauern? Oder gibt es noch eine andere Erklärung? 


Die Töpfer der späten Jungsteinzeit haben die Ornamente mit Schnüren in den Ton gedrückt, wie bei diesem kugeligen Becher mit zylinderförmigen Hals. Das Gefäß aus Sachsen-Anhalt ist typisch für die Schnurkeramikkultur.

Sicher ist: Die Reiter kamen – die Frage ist nur wann. »Für die Zeit von vor 5000 Jahren finden wir in Mitteleuropa keine Spuren der Jamnaja-Gruppen«, sagt Sabine Reinhold, Archäologin am Deutschen Archäologischen Institut in Berlin. Sie erforscht die Nomadenkulturen im Kaukasus. »Entweder haben sie keine archäologischen Spuren hinterlassen, oder der Kontakt fand indirekt über die einheimische Bevölkerung statt.« Die Nomaden lebten in den Steppen nördlich des Schwarzen und des Kaspischen Meeres in kleinen Gemeinschaften zusammen. Sie zogen mit ihren Herden im Umkreis von maximal 80 Kilometern durch die Region und sammelten sich immer wieder in riesigen Zeltlagern. Die Gruppen kamen dabei in Kontakt, tauschten Waren und Wissen aus, erklärt Reinhold. Darüber hinaus waren die berittenen Nomaden stets in der Lage, sich rasch miteinander in Verbindung zu setzen.

Kam der Erreger vor der Einwanderungswelle?

Zu der Frage, ob und wann die Reitervölker die Pest nach Westen trugen, verfolgt die Archäologin eine interessante Spur: »Es gab offenbar bereits vor 5500 Jahren einen intensiven West-Ost-Austausch.« In einigen Steppenbewohnern der Jamnaja-Kultur fanden sich genetische Spuren von Menschen aus Mitteleuropa. Offenbar waren die Bauern und Nomaden schon jahrhundertelang in Kontakt, handelten mit Gütern und Ideen, bevor die Steppenbewohner gen Westen strömten. »In dieser Zeit verbreiteten sich viele Innovationen, etwa der Wagen und die Bronzemetallurgie«, sagt Reinhold. »Über diese etablierten Netzwerke könnte sich auch der Erreger ausgebreitet haben.« Wenige Infizierte schleppten ihn dann womöglich bis nach Mitteleuropa.

In diesem Fall wäre das todbringende Bakterium den Reitern vorausgeeilt – und hätte Europa entvölkert. Die Jamnaja erhielten über die alten Netzwerke vielleicht Nachricht, dass es im Westen saftige Weiden ohne Siedler gab, und zogen los. »Die Dynamik der Pandemie könnte ähnlich verlaufen sein wie bei der Eroberung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert«, vergleicht Krause. »Auch damals führte der Kontakt der indigenen Völker mit den Europäern zur Ausbreitung von Krankheiten und zu einem Bevölkerungskollaps.«

Geschlechtsspezifische Erkrankung

Womöglich hatten die Mitteleuropäer vor 5500 Jahren also einfach nur Pech? Weil für sie der Steinzeitpesterreger ansteckender und gefährlicher war – anders als für die Steppenbewohner? Dabei fällt auf, dass in Mitteleuropa vor allem Männer dahingerafft wurden. Wenn tatsächlich die Pest die Bevölkerung dezimiert hatte, dann waren die Männer aus irgendeinem Grund stärker durch das Bakterium gefährdet. »Solche unterschiedlichen Anfälligkeiten gab es immer wieder«, bestätigt Krause. »Auch bei Covid-19 beobachten wir, dass Männer und Frauen unterschiedlich betroffen sind.«

Die Gene der Jamnaja-Kultur verdrängten in Europa bis zu 95 Prozent des Erbguts der männlichen Bevölkerung

Krause könnte sich auch vorstellen, dass erst ein Pestausbruch in der Heimat viele Jamnaja dazu brachte, Richtung Westen und auch Richtung Osten zu ziehen. Anderer Meinung ist Kristiansen: Seines Erachtens seien die weiten Wanderungen kulturbedingt gewesen. So sah die Gesellschaft der Jamnaja-Verbände vor, dass jeweils der älteste Sohn den Besitz erbte. Das zwang alle anderen Männer dazu, alternative Wege einzuschlagen. Sie wurden Krieger, Hirten und Kolonisten, davon ist Kristiansen überzeugt. So hätten sich einige zu Banden zusammengeschlossen, die ihr Glück anderswo suchten. Die Pest bot ihnen die große Chance, in Mitteleuropa eine neue Existenz zu gründen und sich dort Frauen unter der einheimischen Bevölkerung zu suchen. »Sie waren fähige Krieger und behielten die Oberhand«, sagt Kristiansen. »Die einheimischen Männer wurden wahrscheinlich getötet.«

Allerdings gibt es in Mitteleuropa zu dieser Zeit keine Hinweise auf kriegerische Konflikte, sagt Sabine Reinhold. Ein derart massiver Einschnitt lasse sich so nicht erklären. Kristiansens Thesen sind daher unter Archäologen sehr umstritten. Es gibt neueste genetische Untersuchungen aus der Schweiz, die zeigen, dass zumindest auf regionaler Ebene Einheimische und Einwanderer fast 1000 Jahre nebeneinanderlebten, berichtet ein Forscherteam um Anja Furtwängler von der Eberhard Karls Universität Tübingen. Die Schnurkeramiker mit Steppenvorfahren besetzten zwar große Teile Zentraleuropas. Daneben existierten jedoch über Hunderte von Jahren auch Gruppen ohne nomadische Ahnen. »Sie lebten möglicherweise in Alpentälern, die kaum Verbindungen zu anderen Regionen hatten«, sagt Johannes Krause, der ebenfalls an der Studie beteiligt war.

Eine neue Welt wird geboren

Insgesamt erlebte Mitteleuropa in dieser Zeit einen enormen Kulturschub. Ob der große Wandel allein durch die Zuwanderung oder auch durch den Austausch zwischen unterschiedlichen Kulturen ausgelöst wurde, ist schwer zu klären. Doch das Leben veränderte sich drastisch. Zuvor hatten die neolithischen Bauern in Dörfern gelebt und auf gemeinschaftlich bewirtschafteten Feldern vorwiegend Emmer und Einkorn angebaut. Nun wohnten die Menschen auf Gehöften und in Weilern. Kristiansen spricht von einer »sehr viel individualistischeren Kultur, die um Kernfamilien organisiert ist«.

Opfer der BeulenpestDie Überreste dieser zwei Menschen sind zirka 3800 Jahre alt. Als die beiden starben, waren sie mit der Beulenpest infiziert. Das Grab aus der Samara-Region im Süden Russlands liefert damit den ältesten bekannten Nachweis für den von Flöhen übertragenen Pesterreger.

Die verringerte Siedlungsgröße könnte eine Reaktion auf die Pesterfahrungen gewesen sein, denn gerade das enge Zusammenleben in Dörfern hätte den Ausbruch einer Epidemie begünstigt. Auch Lebensstil und Essgewohnheiten wandelten sich: Die Bauern züchteten vermehrt Rinder, aßen mehr Fleisch, Milch und Käse. Mit den Einwanderern verbreitete sich zudem die Fähigkeit, den Milchzucker Laktose abzubauen. Dass in weiten Teilen Europas eine neue Bevölkerung weilte, erkennen Archäologen auch an der Art, wie die Menschen ihre Haushaltsgefäße gestalteten. Sie verzierten ihre Keramikbehälter mit einem Schnurmuster. Nach diesem Detail haben Forscher der gesamten Kultur ihren Namen gegeben: Schnurkeramiker. Die Neuankömmlinge benutzten zudem andere Waffen als die ansässigen Bauern, nämlich steinerne Streitäxte. Und es wandelten sich die Grabsitten: Die Menschen legten ihre Toten zwar immer noch in Seitenlage ins Grab, doch betteten sie Frauen auf die linke und Männer auf die rechte Körperflanke. Die Reiternomaden aus der Steppe hatten das Leben in Europa nachhaltig verändert, denn mit ihnen hielt auch die indoeuropäische Sprache Einzug auf dem Kontinent.

Nach dem Drama der ersten Pestpandemie folgte einer der größten Umbrüche in der frühen europäischen Geschichte – seine Spur zieht sich bis in die Gegenwart. Zwar verschwand der Erreger der Steinzeitpest vor rund 3500 Jahren, aber offenbar wurde er von einem nahen Verwandten verdrängt: der Beulenpest. Krause und sein Team identifizierten die ältesten bekannten Opfer in einem Grab in der russischen Samara-Region, das Alter: 3800 Jahre. Ebenjenes Bakterium wird wiederum Jahrtausende später erneut die Weltgeschichte dramatisch prägen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Donnerstag, 27. August 2020

Mittwoch, 26. August 2020

Kinderkriegen im Mittelalter.

 
aus nzz.ch, 25.08.2020             Empfängnis eines kinderlosen Paares. Miniatur aus der «Vita Christi» von Jean Mansel, 15. Jahrhundert.

Im Mittelalter waren doppelt so viele Paare kinderlos wie heute – und was Luther mit der Idee der Fruchtbarkeit zu tun hat: Viele alte Muster vom Kinderkriegen prägen immer noch unser Denken

Ein neues Buch zeigt, wie die Menschen im Mittelalter mit ersehnter, verweigerter und bereuter Elternschaft umgingen. Dabei kommen auch zur Sprache: Keuschheit, die Sexualität von Hexen und handfeste Sterilitätsprüfungen bei Männern vor Gericht.

von Tobias Bulang
 
Elternschaft, Kinderwunsch und Kinderlosigkeit sind heute Reizthemen. Ausgestelltes Kinderglück von Helikoptereltern konkurriert mit Zufriedenheitsbekundungen glücklich Kinderloser. Dazu kommen Verlautbarungen bereuter Mutterschaft und Klagen kinderloser Paare mit Kinderwunsch. Da bei Selbstbehauptungen oft über Bande gespielt wird, indem alternative Entwürfe diskriminiert werden, ist der Ton aggressiv.

Das Buch «Kinderlosigkeit» der Braunschweiger Literaturwissenschafterin Regina Toepfer bietet einen versachlichenden historisierenden Vergleich: Eine differenzierte Auseinander-setzung mit Kinderlosigkeit in Mittelalter und früher Neuzeit wird mit den Gegenwartsdis-kursen konfrontiert – wobei Prägungen, Differenzen und Analogien wahrnehmbar werden.

Vermehrung versus Keuschheit

Bereits einleitend überrascht ein statistischer Befund: Sind zurzeit zehn Prozent aller Ehepaare in Deutschland kinderlos, so waren es im Mittelalter doppelt so viele – ohne dass eine Störung des Generationenvertrags beklagt wurde. Toepfer zeigt, dass Fertilität nicht nur eine körperliche Dimension hat, sondern diskursiv formatiert ist und je nach Stand, Geschlecht, Beruf ganz unterschiedlich gefasst wird.

Auf über 500 Seiten wird das Thema zunächst in fünf wissensgeschichtlichen Kapiteln entfaltet. Mit Blick auf die Theologie wird der Gegensatz zwischen dem göttlichen Reproduktionsauftrag des Alten Testaments und der Privilegierung der Keuschheit bei Jesus und Paulus als Herausforderung für mittelalterliche Theologen herausgearbeitet.

Die komplizierten Lösungsansätze, welche Patristik und Scholastik für dieses Dilemma entwickelten, waren für das abendländische Eheverständnis, die Konzeption und Bewertung sexuellen Begehrens und die Perspektive auf Elternschaft folgenreich. Luthers drastische Engführung auf die Alternative Heirat oder Hurerei wird dabei als einschneidende kulturelle Wende kenntlich: Enthaltsamkeit als Leitparadigma des Mittelalters wird durch Fruchtbarkeit ersetzt.

Vorläufer der «Bikini-Medizin»

Völlig anders wird das Thema im medizinischen Diskurs behandelt. Grundlegend ist hier die Lehre, welche die Zeugung in der Vermischung männlichen und weiblichen Samens begründet. Der Abfluss von Sperma und Menstrualblut wird als Reinigung des Leibes gefasst, unterbleibt diese, drohe bei Mann und Frau Rückstau, was zu Faulungen führe. Wenn ärztliche Empfehlungen aus diesem Grunde auf regelmässigen Sexualverkehr bzw. auf gesundheitsfördernde Onanie zielen, ergeben sich mitunter Spannungen zum theologischen Enthaltsamkeitsdiskurs.

Die verschiedenen Behandlungsmethoden gegen Unfruchtbarkeit werden aufgewiesen, die in der Gesamtheit auf eine Pathologisierung des weiblichen Körpers hinauslaufen: auf die Engführung von Unfruchtbarkeit und Weiblichkeit mit erheblichen Konsequenzen. Toepfer führt die heute kritisch reflektierte «Bikini-Medizin», die Beschränkung der Vorsorge von Patientinnen auf die mit Empfängnis, Geburt und Stillen befassten Körperteile auf Kosten anderer Untersuchungen, auf mittelalterliche Traditionen zurück.

Das Rechtskapitel behandelt Kastrationsstrafen und Sterilitätsprüfungen bei Männern vor Gericht. Toepfer schildert den psychischen Druck, dem Männer ausgesetzt waren, wenn sie vor dem Richter von einer erfahrenen Ehefrau geprüft wurden: Die Frau umarmte den entblössten Mann und stimulierte ihn mit vorgewärmter Hand – unterblieb die Erektion, war die soziale Existenz vernichtet.

Bemerkenswert ist der Hinweis darauf, dass Frauen, die vor Gericht die Annullierung einer unfruchtbaren Ehe anstrebten, nicht mit dem versagten Lustgewinn oder dem ausbleibenden Erben des familiären Vermögens argumentieren konnten. Das Protokoll, das erlaubte, eine Ehe als nichtig zu erklären, sah hier die Artikulation des Kinderwunsches vor. Dies führte langfristig, so Toepfer, zur genderspezifischen Normierung und zur Vorstellung, dass der Kinderwunsch der Frauen naturbedingt und universal sei.

Teuflische Reproduktionen

Mittelalterliche und frühneuzeitliche Dämonologen widmeten sich obsessiv der Sexualität der Hexen. Der nach theologischem Verständnis im Gegensatz zum Schöpfergott unfruchtbare Teufel konnte in weiblicher Gestalt Samen empfangen und ihn nach Gestaltwandel als Inkubus an eine Frau abgeben. Zu Recht fragt Toepfer, ob die moralische Unannehmbarkeit, welche die Kongregation für die Glaubenslehre den meisten Reproduktionstechniken attestierte, nicht auch in den Fluchtlinien solcher Reflexionen zu vermuten sei.

In einem Kapitel über ethische Diskurse werden schliesslich Texte gesichtet, die Vor- und Nachteile der Elternschaft erwägen. Schriften, welche Vaterschaft als heilsdisqualifizierende Störung der Meditation des Mannes diskreditierten, hält Toepfer Hochzeitsreden über die Freuden der Elternschaft entgegen. Hier werden Diskurse über Elternliebe und Kinderwünsche mit langfristiger Prägekraft etabliert.

Im Folgenden extrahiert die Literaturwissenschafterin aus mittelalterlichen Erzählungen Narrative der Kinderlosigkeit, die sie mit Gegenwartsdiskursen kontrastiert. Auch heute noch wirke beispielsweise das Geburtswunder-Narrativ des Mittelalters (das geduldige und fromme Warten auf das Kind wird belohnt) im Diskurs der Reproduktionsmedizin fort, wobei der metaphysische Rahmen ersetzt werde: Nicht mehr von Leid auf Heil, sondern von Krankheit auf Gesundheit werde gedacht.

Zum Narrativ mystischer Mutterschaft werden Aufzeichnungen von Ekstasen präsentiert, die Nonnen beim Liebkosen, Wickeln und Stillen realistisch gebildeter Holzplastiken eines Jesuskindes erlebten. Darin sei keine hysterische Kompensation unterdrückter Triebe auszumachen, vielmehr sei das Kindelwiegen durch Brauchtum und Andachtsliteratur vermittelt. Die inszenierte ungetrübte Lust an der Mutterschaft sei wiederum für moderne Normierungen prägend gewesen.

Das Buch zeigt die kulturhistorische Pluralität und Mehrdimensionalität der Auseinander-setzungen mit Unfruchtbarkeit und Kinderlosigkeit im Mittelalter. Dadurch werden in gegenwärtigen Äusserungen zum Thema historische Tiefenschichten lesbar, womit eine Archäologie unserer Konzeptionen von Fertilität betrieben wird.

Regina Toepfer: Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2020. 510 S., Fr. 55.90.

Samstag, 22. August 2020

Röttgen sucht Klärung in der Mitte.

 

aus FAZ.NET,

Röttgen will Kanzlerkandidatur noch in diesem Jahr klären

... Der Kandidat für den CDU-Vorsitz Norbert Röttgen plädiert für die Klärung aller ausste-henden Personalfragen in seiner Partei bis Jahresende – auch die der Kanzlerkandidatur. „Eine erneute Verschiebung des Parteitags wäre fatal und ein völlig falsches Signal“, sagte Röttgen der Zeitschrift Spiegel: „Die Union muss bis Jahresende alle Personalfragen geklärt haben, in-klusive der Kanzlerkandidatur. Wir brauchen zu Beginn des Wahljahres 2021 eine neu legiti-mierte Führung an der Spitze der Union und Klarheit für die Wähler.“ Röttgen sagte weiter, er erwarte von der jetzigen Parteiführung, dass „wirklich alle Kreativität angewendet“ werde, die nötig sei, um den Parteitag stattfinden zu lassen. „Es dürfen keinerlei Zweifel daran aufkom-men, was wir wollen – nämlich Klarheit und neue Autorität.“ ...

Röttgen plädiert für eine grundlegende Reform seiner Partei. „Wir sind gefährdet in unserem Status als Partei der Mitte. Das gehört ausgesprochen. Wir drohen den Kontakt zur jungen Generation zu verlieren“, sagte er dem Spiegel. Der Außenpolitiker kritisierte den konserva-tiven Ansatz seines Konkurrenten Friedrich Merz. „Natürlich gibt es eine Sehnsucht, den kulturellen Kern der CDU wiederzufinden. Es wird aber nichts wiedergefunden werden“, sagte Röttgen: „Zu sagen, dass die alte Sicherheit zurückkommt – das müssen wir als Illusion enttarnen.“ ...

 

Nota. - Alle andern mögen um den heißen Brei herumreden: Es ist eine Richtungsentschei-dung. Nur wer das auszusprechen wagt, kann sie ausführen.

JE. 

 

 

 

Gemeinsame Kultorte von Nomaden?

aus spektrum.de, 21.08.2020

Saudi-Arabien
Rätselhafte Rechtecke dienten uralten Ritualen
Archäologen haben in einer Wüste in Saudi-Arabien gigantische Steineinfassungen untersucht. Nun wissen sie mehr über das Alter und den Zweck der mysteriösen Anlagen.


von Karin Schlott

Bislang kannten Forscher die riesigen Steinstrukturen nur von Satellitenbildern. Nun haben Huw Groucutt und sein Team die rätselhaften Monumente im Nordwesten von Saudi-Arabien auch vor Ort untersucht. Die Archäologen vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschich-te in Jena und dem Saudi Ministry for Tourism konnten dabei erstmals eines der aus Steinen angelegten Rechtecke in die Zeit um 5000 v. Chr. datieren. Sie vermuten, dass es sich um Ritualorte früher Gemeinschaften von Viehhirten handelt.

Laut seiner Studie im Fachblatt »The Holocene« dokumentierte Groucutts Team insgesamt 104 solcher Rechteckanlagen in der Nefud-Wüste, indem die Forscher zunächst Satelliten-aufnahmen auswerteten. Die als Mustatils (arabisch für »Rechteck«) bekannten Steinstrukturen sind unterschiedlich groß: Die längste erstreckt sich über 600 Meter und ist rund 80 Meter breit. Die Monumente bestehen aus zwei gegenüberliegenden terrassenähnlichen Steinplatt-formen, die, verbunden durch zwei Mauern, ein langes Rechteck bilden. Die Mauern sind flach, weniger als einen halben Meter hoch. Die Erbauer legten sie aus Gestein an, das sie innerhalb des Rechtecks ausgeräumt hatten. Da die Archäologen keine Eingänge identifizieren konnten, gehen sie davon aus, dass die Anlagen keinem praktischen Zweck etwa als Viehstall oder Wasserreservoir dienten. Womöglich, so vermuten sie, ging es den Bauherren darum, eine Art Pfad zwischen den Plattformen anzulegen.

 Steinzeitdekor| Die Archäologen entdeckten einen mit Rauten bemalten Stein. Der Brocken war Teil einer Mustatil-Plattform.

Wie die Forscher in ihrer Studie schreiben, seien die Mustatils nicht gleichmäßig über die Region verteilt, sondern stets zu mehreren an einer Stelle gruppiert worden. Warum die Erbauer diese Orte wählten, darüber können die Archäologen momentan nur spekulieren. Einige Mustatils befinden sich nahe von Felsaufschlüssen, wo sich das Gestein für Plattformen und Mauern direkt an der Oberfläche brechen ließ. Andere wiederum liegen unweit von Landschaftsbecken, wo sich während der Jungsteinzeit wahrscheinlich Seen gebildet hatten. Ein klares Verteilungsschema haben die Wissenschaftler bisher jedoch nicht erschließen können.

Grasland statt Wüste, Regen statt Trockenheit

Überhaupt dürften die Rechtecke zu einer Zeit entstanden sein, als sich in Nefud statt Wüste Grasland erstreckte und reichlich Niederschläge fielen. Zwar wissen die Forscher um Groucutt noch nicht, welche archäologische Kultur die Mustatils errichtete, doch der Blick auf Fundorte anderswo auf der Arabischen Halbinsel verrät, dass vermutlich Viehhirten ihre Herden durch diese Landschaften trieben. Im Süden und Osten der Arabischen Halbinsel etwa reichen deren früheste Zeugnisse in die Zeit um 6800 bis 6000 v. Chr. zurück.

Dass auch die Rechteckanlagen in jener Epoche der Jungsteinzeit entstanden sind, bestätigt eine C-14-Datierung. An einer Struktur bargen die Forscher ein Stück Holzkohle, das sie mit Hilfe der Radiokarbonmethode auf ein Alter von 7000 Jahren bestimmten. Ebenso sammelten sie Tierknochen auf, die von Wildtieren stammen, womöglich aber auch von domestizierten Rindern.

Mustatil von innen | Über 600 Meter lang ist diese Rechteckanlage. Es ist die größte von mehr als 100 Mustatils, die die Archäologen in der Nefud-Wüste in Saudi-Arabien dokumentiert haben.

Sehr viel mehr Funde gaben die Mustatils bisher nicht preis, nur wenige Steingeräte und einen bemalten Brocken, keine Keramik oder Feuerstellen. Offenbar, so die Annahme der Forscher, waren die Anlagen nicht für eine Nutzung über längere Zeiträume ausgelegt. Dafür spreche auch, dass immer wieder neue Rechtecke nebeneinander errichtet worden seien. »Das weist darauf hin, dass ein wichtiger Aspekt der Bauprozess war, weniger die Nutzung über längere Zeiträume«, schreiben Groucutt und seine Kollegen. Möglicherweise war es zudem bedeutsam, die Rechtecke in einer gemeinschaftlichen Anstrengung zu erbauen. »Wir deuten die Mustatils als Ritualstätten, an denen die Menschen zusammenkamen, um irgendwelche bisher noch unbekannten gemeinschaftlichen Aktivitäten durchzuführen«, fasst Groucutt die Ergebnisse zusammen. »Vielleicht waren es Orte, an denen Tiere geopfert oder Feste begangen wurden.«

Gigantische Steinmonumente im Nahen Osten

Die Archäologen des Max-Planck-Instituts haben die Kenntnisse über die Anlagen deutlich erweitert, allerdings dürften erst weitere Untersuchungen die bisherigen Ergebnisse bestätigen. So liefert die gewonnene C-14-Datierung nur ein einziges Altersdatum für ein Mustatil von mehr als 100 dokumentierten Anlagen in dieser Region.

Auf der Arabischen Halbinsel und in der Levante haben Forscher immer wieder große, aus Steinen errichtete Strukturen entdeckt. Etwa »Wüstendrachen«, bei denen es sich um große, hufeisenförmige Gehege handelt, in die wilde Herdentiere getrieben und darin in großer Zahl erlegt wurden. Solche Massentierfallen sind auch für Saudi-Arabien bezeugt, aber bislang noch nicht sicher datiert. In Jordanien schätzen Forscher deren Alter auf bis zu 10 000 Jahre.

 

Nota. - Wenn sich die Wege wandernder Viehhirten in der Wüste kreuzen, mag es zu gewalt-samen Auseinandersetzungen kommen; je dürrer das Gras, umso öfter. Oder sie weichen einander aus; wenn nämlich das Futter für die Herden üppig ist. Mit der Zeit wird man sich auf feste Routen einigen und an den Kreuzungen (an den Wasserstellen) auf einander warten, um die jeweiligen Überschüsse auszutauschen. Gemeinsame Organe, aus denen politische Gebilde entstehen könnten, werden noch nicht nötig. Es reicht ein Palaver zwischen den Ältesten.

Anders wird es, wenn die Zusammenkünfte regelmäßiger werden  - etwa mit den Mondphasen - und Anlass zu gemeinsamen kultischen Akten geben. Es ziemt sich, die Stätten herzurichten, sei es ad hoc, sei es auf längere Dauer. Zum Austausch kommt Kooperation. Aus Kooperation wird Planung und politische Organisation.

Die gewaltigen Kultstätten von Göbekli Tepe wurden von Nomadenstämmen errichtet und unterhalten.

JE

Freitag, 21. August 2020

Evolutionäre Kulturwissenschaft.

aus spektrum.de, 21.08.2020

"Barbaren, Geister, Gotteskrieger"

Eine erste religionswissenschaftliche Evolutionstheorie

Zu den ersten Entwürfen, die vor allem die Religionswissenschaft nachhaltig prägten, gehören unzweifelhaft die Arbeiten Edward Burnett Tylors (1832–1917). Tylors erstes großes wissen-schaftliches Werk mit dem Titel »Researches into the Early History of Mankind« entstand in den frühen 1860er-Jahren, einer Zeit, in der Darwins »Origin of Species« den Rahmen der Diskussion entwicklungsgeschichtlicher Prozesse in der Biologie absteckte, während Spencers »System of Synthetic Philosophy« einen Schwerpunkt bei der Beschreibung und Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit setzte. In dieser Zeit wandte sich das Interesse der Öffentlichkeit verstärkt völkerkundlichen Themen zu. Dazu hatten nicht nur die überaus populären Reiseberichte von Wallace, Darwin und anderen sowie die Formulierung der Evolutionstheorie beigetragen. Der rasche Zuwachs an ethnografischen Daten, vor allem aber die Entdeckung der Überreste fossiler Menschen und ihrer Artefakte sowie Spekulationen über das mögliche Alter des Menschengeschlechts hatten das Augenmerk von Wissenschaft und Laien auf die Frage nach den Ursprüngen der Kulturen gelenkt.1 

Ursprünglich lebende Völker mit ihren merkwürdig anmutenden Sitten und ihrer wenig entwickelten Technologie schienen diesem vermuteten Anfang noch nahezustehen und einen direkten Einblick in die Kinderstube der Menschheit zu ermöglichen.2 Es lag daher nahe, dass Tylor sich unter dem Eindruck einer Studienreise nach Mexiko, die er eigentlich aus Gesund-heitsgründen angetreten hatte, intensiv dem Studium von Reiseberichten, prähistorischen Untersuchungen sowie ethnografischen, archäologischen und kulturhistorischen Schriften widmete.3 Aus den Reiseeindrücken und diesen umfangreichen Literaturstudien ging 1865 Tylors erstes großes wissenschaftliches Werk hervor, das unter dem Titel »Researches into the Early History of Mankind and the Development of Civilisation« verschiedene Aspekte der menschlichen Kultur in einen losen Zusammenhang setzte und noch unsystematisch unter entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkten diskutierte. Seine Ausführungen, eher eine Reihe von Essays als ein geschlossenes Werk, behandelten die Entwicklung von Artefakten und Waffen ebenso wie das Aufkommen von Sitten und Gebräuchen, die Kunst, Mythen und Religion, eine Thematik, die völlig neu und ungewohnt war. 

Tylors Untersuchung der menschlichen Kulturen von ihren primitiven Anfängen bis zur Gegenwart schloss zur damaligen Zeit eine Wissenslücke und traf mit ihrer Betonung der Dynamik von Entwicklungen den Nerv der Zeit: In dreizehn Kapiteln versuchte Tylor, mithilfe vergleichender Untersuchungen eine Entwicklung von einfachen zu komplexen Formen im Bereich der menschlichen Kultur nachzuweisen. Vor allem die Mythologie der verschiedenen Völker faszinierte Tylor. Übereinstimmungen im Mythenschatz der Völker führte Tylor einmal auf eine identische Bewusstseinsstruktur der Menschen zurück – der menschliche Geist erzeugt unter gleichen Umständen Gleiches. Andererseits wollte Tylor jedoch auch eine mögliche Diffusion durch Kulturkontakte nicht vollständig ausschließen, für die Parallelen der alten Kulturen Asiens und Amerikas zu sprechen schienen. Diese Problematik ergab sich, da Tylor als Nichtbiologe und daher in der Systematik ungeschult, Analogien und Homologien nicht unterschied. Damit musste er sämtliche Merkmale ungeachtet ihrer Wertigkeit in seine Systematik miteinbeziehen und gelangte daher nicht zu klaren Verwandtschaftsbeziehungen, die ihm bereits hier ein Stammbaumschema der Kulturentwicklung hätten liefern können.

In seinem Hauptwerk »Primitive Culture« griff Tylor die angeschnittenen Fragen wieder auf, legte aber inzwischen den Schwerpunkt seiner Erörterungen eindeutig auf die nichtmateriellen Kulturgüter und hier besonders auf die Religion, deren Einordnung in ein evolutionistisches Schema ebenso ungewöhnlich wie neu war. Hier findet sich auch Tylors inzwischen berühmte, umfassende Definition von Kultur, die zu seiner Zeit als revolutionär gelten musste, weil er auch den sogenannten Wilden oder Primitiven so etwas wie Kultur zugestand: Kultur ist nach Tylor »jenes komplexe Ganze, welches Wissen, Glaube, Kunst, Moral, Recht, Sitte, Brauch und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten einschließt, welche der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat.«5 Ziel von Tylors Untersuchungen war nicht nur die Beschreibung der verschiedenen Kulturen der Menschheit, sondern vor allem deren Analyse, die in die Formulierung eines allgemeingültigen Entwicklungsgesetzes münden sollte.

Der Vergleich mit Forschern wie Darwin und Spencer drängt sich nicht nur dem heutigen Leser (allerdings nur bei der Lektüre der ersten Kapitel) auf; eine gleichartige und gleichrangige Untersuchung, wenn auch mit einer eigenen und auf die Anforderungen des Stoffes zugeschnittenen Methodik, war von Tylor unbedingt beabsichtigt.6 Wie die Biologie müsse auch die Wissenschaft vom Menschen, der ein Teil der belebten Natur sei, als Naturwissenschaft aufgefasst und daher mithilfe naturwissenschaftlicher Methoden erforscht werden. Die Entwicklung der menschlichen Kultur kann daher nach Auffassung Tylors ebenfalls als Evolutionsgeschehen aufgefasst werden. Um genau dieses Evolutionsgeschehen zu erfassen, griff Tylor jedoch nicht auf die durchaus populären und auch unter Nichtbiologen bekannten Erkenntnisse eines Wallace, Darwin oder auch Huxley zurück, sondern orientierte sich an den Autoren, die bereits ein Evolutionsgeschehen im Bereich von Gesellschaft und Kultur beschrieben hatten – und das waren Spencer und Comte. 

Dabei nahm Tylor nicht wahr, dass weder der historisch argumentierende Comte noch der in Entwicklungsstadien denkende Spencer das Charakteristische der Evolution, nämlich das Zusammenspiel zwischen dem Auftreten von Varietäten und der darauf einwirkenden Selektion, erkannt hatten. Folgerichtig finden sich auch bei Tylor nur die Entwicklungsstadien wieder, die sich seit Comte und Spencer als eine feste Größe in den Geisteswissenschaften etablieren konnten. Diese Entwicklungsstadien, die auch Tylor ausgemacht hatte, sollten das Ergebnis der voraufgegangenen Stadien sein und bis zu einem gewissen Grade das folgende determinieren. Auch die Tatsache, dass auch innerhalb der einzelnen Entwicklungsstadien nicht alle Völker vollkommen gleich sind, sprach nach Tylor nicht gegen die Berechtigung einer Stadieneinteilung, denn wie es in der Biologie Varietäten einer Art gebe, müssten die unterschiedlichen Ausprägungen der Kulturen dann als Varietäten des entsprechenden Stadiums aufgefasst werden. 

Parallelen im Erscheinungsbild der Kulturen führte Tylor dagegen auf den menschlichen Geist zurück, der unter gleichen Bedingungen gleiche Resultate hervorbringe. Das letztgenannte Argument, mit dem Tylor Stellung in der lebhaften Diskussion um die Einheit der menschlichen Spezies bezog, brachte ihn in Gegensatz zu solchen Wissenschaftlern, die den nichtkaukasischen »Rassen«, also allen Nichtweißen, gleiche mentale Fähigkeiten absprachen. Gerade dieses Eintreten für die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen, gleich welcher Hautfarbe, unterscheidet Tylor wohltuend von vielen seiner Zeitgenossen, die den indigenen Völkern in den Kolonien des britischen Imperiums mindere intellektuelle und auch moralische Fähigkeiten unterstellten; auch um deren Unterwerfung, Entrechtung und Ausrottung zu rechtfertigen – ein Vorgang, der bekanntermaßen auch Darwin mit Abscheu erfüllt hatte. 

Allerdings war die Annahme eines bei allen Menschen grundsätzlich gleich arbeitenden Verstandes für Tylor eine Notwendigkeit, ohne die sein kulturvergleichender Ansatz jeder Grundlage beraubt gewesen wäre. Denn nur, wenn die Grundlagen des Denkens und Handelns des hochzivilisierten Europäers letztlich denen des »Primitiven« gleich sind, sind auch ihre immateriellen Kulturgüter vergleichbar, und auch nur dann können mithilfe des Vergleichs allgemeine Entwicklungstendenzen herausgearbeitet werden!


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Diese Entwicklungstendenzen lassen sich nun allerdings am einfachsten an technischen Entwicklungen wie beispielsweise dem Fortschritt in der Waffentechnik festmachen (vgl. auch hier wieder die gleiche Argumentation wie bei Spencer); gleichzeitig belegen entsprechende Reihen die entstehungsgeschichtliche Verknüpfung der einzelnen Entwicklungsschritte: Die fortgeschrittene Form ist demnach tatsächlich aus der einfacheren hervorgegangen und nicht etwa eine unabhängige Neuentwicklung. Nicht alles innerhalb einer Kultur ändert sich jedoch: Tylor konnte eine Gruppe von Erscheinungen ausmachen, die unverändert von einem früheren Entwicklungsstadium in das folgende übernommen wurden und dort eigentlich einen Fremdkörper darstellen. 

Diese sogenannten »Survivals« erlauben dem wissenschaftlichen Beobachter den direkten Einblick in frühere Stadien und leisten somit der Forschung wichtige Dienste. Zu den Survivals gehören solche Bräuche wie das Mittsommernachtsfeuer, das Allerseelenfest, aber auch der moderne Aberglaube. Während solche Sitten und Gebräuche im heutigen Mitteleuropa oft zur bloßen Folklore herabgesunken sind, stehen sie laut Tylor in überseeischen Ländern noch in hoher Blüte und sind integrativer Bestandteil der dortigen Kultur – einer Kultur auf einer niedrigeren Stufe selbstverständlich!

Die vergleichende Methode ermöglicht jedoch nicht nur die Einordnung der bekannten historischen und zeitgenössischen Kulturen in ein Entwicklungsschema. Auch die Urzeit lässt sich mithilfe der archäologischen Artefakte erschließen, und zwar über den Vergleich mit zeitgenössischen »wilden Stämmen«. Da nämlich etliche Elemente in der Kultur der noch heute auf niedrigster Kulturstufe stehenden Völker starke Ähnlichkeit mit den archäologischen Hinterlassenschaften ausgestorbener Völker der Vorzeit zeigen, muss laut Tylor von einer generellen Übereinstimmung vorgeschichtlicher und heutiger primitiver Kulturen ausgegangen werden. Heutige primitive Kulturen sind daher letztlich nichts anderes die »Überreste« eines frühen menschheitsgeschichtlichen Stadiums. Dies bedeute jedoch, dass sich die menschliche Kultur von einem Stadium der Wildheit kontinuierlich bis zum heutigen Stand der Zivilisation entwickelt haben muss.

Tylors Gleichsetzung von heutigen Wildbeutervölkern mit dem Menschen der Vorgeschichte ist heute selbstverständlich indiskutabel und würde zu Recht als eine bösartige Diskriminierung indigener Völker betrachtet werden. Zur damaligen Zeit, in der ernsthaft diskutiert wurde, ob Afrikaner oder die Ureinwohner Australiens überhaupt der gleichen Spezies wie die Kaukasier (Weiße) angehörten oder ob es sich hierbei um eigenständige Menschenarten handele, bedeutete die Gleichsetzung der sogenannten »Wilden« Afrikas mit den Vorfahren der Europäer eine enorme Aufwertung der zeitgenössischen, nichteuropäischen Kulturen einschließlich ihrer Religionen. Gerade das Studium der Religionen sogenannter »Primitiver« wurde von etlichen Vertretern der etablierten viktorianischen Wissenschaft als uninteressant abgetan – das primitive Denken weniger befähigter Rassen konnte für den zivilisierten Mitteleuropäer kaum von Interesse sein.7 

Tylors Ansatz stellte jedoch diese sogenannten Wilden auf eine Stufe mit den eigenen Vorfahren. Der Europäer konnte sich keineswegs mehr als der Vertreter einer überlegenen Rasse fühlen (wie Chambers noch in seinen »Vestiges« postuliert hatte), sondern hatte sich aus genau jenen primitiven Ursprüngen entwickelt, welche »unzivilisierte« Völker heute noch zeigen. Nicht nur das, zahlreiche Survivals – Überlebsel; in biologischer Terminologie wären das Plesiomorphie n – belegten überdies, dass das primitive Denken keineswegs gänzlich überwunden war. Diesen primitiven Ursprüngen galt es auch in der Religion nachzugehen, eröffneten sie doch einen unverstellten Blick in die Vergangenheit. Tylor, der nicht wie noch viele seiner Zeitgenossen von einem theologischen Standpunkt ausging, sondern ethnologisch dachte, glaubte eine einlinig-aufsteigende Religionsentwicklung von primitivsten Anfängen bis zum aufgeklärten Christentum nachweisen zu können. 

Dies musste jedoch bedeuten, dass das Christentum nicht immer die hochstehende Religion gewesen war, als die es sich jetzt zeigte, sondern dass sich auch hier die Spuren der primitiven Ursprünge nachweisen lassen mussten. Mehr noch, ohne genaue Kenntnis der primitiven Religionen der zeitgenössischen »Wilden« konnte die christliche Religion in ihrer heutigen Ausprägung nicht verstanden werden. Für das Christentum, das zu Tylors Zeit noch ganz selbstverständlich als offenbarte und damit richtige und nicht weiter zu hinterfragende Religion galt, war das nicht weniger als ein bösartiger Angriff. Gerade hatte man sich von dem Schlag erholt, den Darwins »Origin of Species« dieser altehrwürdigen und etablierten Religion versetzt hatte, da kam ein Tylor und wollte in den christlichen Gottesdiensten mit ihren würdevollen Hochämtern nichts anderes sehen als den Endpunkt einer Entwicklung, die mit den ekstatischen Tänzen und kruden magischen Praktiken von Wilden begonnen hatte!

Werfen wir noch einmal einen genaueren Blick auf diese Entwicklung, wie Tylor sie sich vorstellte: In »Primitive Culture« (erschienen 1871), dem Werk, das Tylor berühmt machen sollte, knüpfte Tylor an seine bisherigen Vorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt an, der sich in erster Linie am Stand der Technisierung und der Wissenschaft, dann aber auch der gesellschaftlichen Organisation und zuletzt an der der Moral und der Religion orientierte. Maßstab dieser Einteilung war auch hier wieder der Stand der technischen Entwicklung, wobei die Verhältnisse in den technisch und industriell hoch entwickelten Nationen Westeuropas und Nordamerikas den Bewertungsmaßstab darstellten. Eine solche Einschätzung ermöglichte die Anordnung der Kulturen auf einer Entwicklungsskala, auf der die Völker der Australier, Tahitianer, Azteken, Chinesen und Italiener in der genannten Reihenfolge die einzelnen Schritte fortlaufender Kulturentwicklung demonstrierten. 

Das Klassifikationskriterium für die verschiedenen Kulturen war der allgemeine Fortschritt der Menschheit auf der Basis eines höheren Maßes an Organisation der Gesellschaft und des Individuums mit dem Ergebnis des größeren Glücks für alle. Tylor lehnt sich hier sehr eng an Spencer an, den er jedoch nicht erwähnt oder gar diskutiert, und vielleicht eben deshalb den Spencer’schen Fehler wiederholt, Kulturen – oder welche Einheiten auch immer – nur anhand eines einzigen und möglicherweise nicht aussagekräftigen Merkmals zu klassifizieren; ein Defizit, das in der Biologie bereits mit Linné, vor allem aber mit Cuvier überwunden worden war. Dieser schwerwiegende Fehler in systematischer Hinsicht führte dazu, dass Tylor dann eben nicht – entgegen seiner erklärten Absicht – biologisch vorging, sondern getreu geisteswissenschaftlicher, auf Comte zurückgehender Tradition drei Stadien, das Stadium der Wildheit, das Stadium der Barbarei und das Stadium der Zivilisiertheit unterschied. 

Als positive, wissenschaftlich gesicherte Belege für die Gültigkeit seiner Entwicklungshypothese führte Tylor die Historie an: Die moderne Zivilisation fußte eindeutig auf dem Mittelalter, das Mittelalter selbst auf der Antike. Aus dieser Feststellung ließ sich für Tylor ein allgemeines, durch Beobachtung verifiziertes Prinzip ableiten, dass nämlich einer hohen Kultur eine mittlere und dieser wiederum eine niedrigere vorauszugehen habe. Genau die Anwendung dieses Prinzips, dem nach Tylor der Wert eines naturwissenschaftlichen Gesetzes zukommen musste, gestattete wiederum die Beschreibung der menschlichen Gesellschaft auch da, wo Beobachtung versagte. Als Vorläufer der bekannten Kulturen und damit der europäischen Zivilisation kamen nur solche Kulturen infrage, die das Stadium der Wildheit repräsentierten – dies aber waren genau jene Kulturen, die man bei zeitgenössischen »Wilden« noch beobachten konnte.

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Am allgemeinen kulturellen Fortschritt, für den sowohl die Ethnografie als auch die Archäologie eine Vielzahl von Belegen hatten beibringen können, haben jedoch unter Umständen manche Traditionen, eben jene Survivals, kaum einen Anteil. Im Gegenteil verändern sie sich auch unter gewandelten Bedingungen von Generation zu Generation so geringfügig, dass sie noch Jahrhunderte später in abgewandelter Form zu beobachten sind. Zu den Survivals ist nach Tylor z. B. die Magie zu rechnen, die zu den ältesten Erscheinungen der menschlichen Kultur gehört und auch heute noch bei jenen Völkern verbreitet ist, die an der »Erziehung der Welt« keinen oder nur geringen Anteil hatten. Daraus lässt sich nach Tylor folgern, dass die Verbreitung der Magie mit dem Fortschreiten der kulturellen Entwicklung abnehmen muss, um in den am höchsten zivilisierten Ländern lediglich noch als Rudiment, als gelegentlicher Aberglaube, zu erscheinen. Gleichzeitig ist Magie, Tylor bezeichnet sie in diesem Zusammenhang auch als Pseudowissenschaft, der Ersatz für die noch fehlende Kenntnis ursächlicher Zusammenhänge. In dem Maße, wie die Kenntnisse zunehmen, lernen die einzelnen Völker und geben nach und nach die Magie zugunsten wissenschaftlicher Erkenntnis und daraus folgender Problemlösungen auf.

Mit der Beschreibung und Analyse des Mythos kommt Tylor auf sein eigentliches Interessengebiet, die Religionen, zu sprechen, deren Vielfalt er mit dem Ziel analysiert, gemeinsame Grundlagen und durchgängige Entwicklungstendenzen herauszuarbeiten. Mythen sind nicht etwa das Ergebnis der menschlichen Fantasie, sondern basieren vielmehr auf einem gemeinsamen Grundstock von Motiven, die im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte zahlreichen Veränderungen unterworfen waren. Zu diesen Motiven, um die sich die Mythen der historischen wie der zeitgenössischen Völker ranken, gehören die Naturmythen, die nach Tylor als das Ergebnis eines noch kindlich-unentwickelten, forschenden Geistes gesehen werden können. Naturmythologie ist demnach eine frühe Form von Naturerkenntnis, die wissenschaftlicher Erkenntnis vorangeht.8 Als einzelne Entwicklungsschritte können ein erstes Nachdenken über die Ursachen von Naturerscheinungen und deren Benennung (ein Donnergott), philosophische Spekulation mit dem Ergebnis einer komplexen Mythologie (das polytheistische Pantheon) und zuletzt philologische Untersuchung und märchenhafte Erzählung ausgemacht werden. 

Ähnliche mythische Themen bei unterschiedlichen Völkern können als das Ergebnis einer gleichartigen Problemlösung infolge der prinzipiell gleichen Geistestätigkeit des Menschen gedeutet werden. Da der menschliche Geist überall dazu neigt, die Dinge seiner Umgebung zu beseelen und zu anthropomorphisieren, wird sich die Vorstellung belebter Objekte bzw. deren mythischer Personifikation nicht nur im Weltbild des Kindes wiederfinden lassen, das seine Puppe mit menschlichen Qualitäten ausstattet, sondern wird sich durch die Vorstellung aller primitiven Kulturen ziehen.9 Diese Anthropomorphisierungstendenzen zeigen sich in der Personifizierung von Himmelsobjekten, wie beispielsweise der Gott Helios in der griechischen Mythologie für die Sonne steht, aber auch bei Naturerscheinungen (Zeus, Demeter). Die Entstehung des Mythos lässt sich daher als das Ergebnis einer noch kindlich-ungebildeten, aber poetisch-kraftvollen Geistestätigkeit darstellen, die beim »Wilden« in voller Blüte steht, sich bei den barbarischen oder halb zivilisierten Völkern fortsetzt und in der zivilisierten Welt ihre Bedeutung als Naturerklärung verliert und zu fantasievoller Dichtung wird.

Anmerkungen

1. Zum Beispiel die Entdeckung und Beschreibung des ersten Neandertalers bei Düsseldorf! Fuhlrott, Johann Carl: Menschliche Ueberreste aus einer Felsengrotte des Düsselthals. Verhandlungen des naturhistorischen Vereins der preussischen Rheinlande und Westphalens 1859, S. 131–153.

2. Lang, Andrew: Edward Burnett Tylor. In: Balfour, Henry et al., Anthropological Essays Presented to Edward Burnett Tylor in Honour of his 75 th Birthday Oct. 2 1907, Oxford 1907, S. 1 f.
Lang, Andrew: The Making of Religion. In: Waardenburg, Jaques, Classical Approaches to the Study of Religion. Aims, Methods and Theories of Research, New York, Berlin (Le Hague 1973): De Gruyter 1999, S. 220–243.
Eddy, Matthew Daniel: The Prehistoric Mind as a Historical Artefact. Notes and Records of the Royal Society. 65, 20011, S. 1–8.

3. Kohl, Karl-Heinz: Edward Burnett Tylor (1832–1917). In: Michaels, Axel (Hrsg.), Klassiker der Religionswissenschaft, München: Beck 1997, S. 46.

5. Wörtlich heißt es: »Culture or Civilization, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits aquired by man as a member of society.« Tylor, Edward Burnett, The Origins of Culture, Cloucester, Mass. 1970 (1958), ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel Primitive Culture, Kapitel I–X, London 1871, S. 1.

6. Tylor weist in seinem Vorwort auf Spencer und Darwin hin, die gleichartige Untersuchungen, allerdings für ein anderes Sachgebiet durchgeführt hätten. Seine eigenen Forschungen sieht er durchaus in der gleichen Tradition.

7. Dazu kritisch: Frobenius, Leo : Kulturgeschichte Afrikas. Prolegomena zu einer historischen Gestaltlehre. Reprint der Ausgabe von 1954 des Paidon-Verlags, Zürich. Wuppertal: Hammer 1998, S. 10–12.

8. Tylor, Edward Burnett, The Origins of Culture, Cloucester, Mass. 1970 (1958), ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel Primitive Culture, Kapitel I–X, London 1871; S. 275.

9. Die gleichen Argumente finden sich auch heute in vielen kognitionswissenschaftlichen Ansätzen wieder – z. B. bei Mithen oder Boyer!

 

Nota. - Das Kapital von Karl Marx ist 1867 erschienen. Es kam ihm vor, als habe er, parallel zu Darwins evolutionärer Naturwissenschaft, den Entwicklungsgedanken in die historische Gesell-schaftswissenschaft eingeführt: Nichts ist, so wie es ist, vom Himmel gefallen, sondern jedes hat seine Geschichte, die von faktischen Voraussetzungen ausgehen muss. An Sozialdarwinismus war noch nicht zu denken, und so wollte Marx seine endlich Gestalt gewinnende Kritik der politi-schen Ökonomie dem Bahnbrecher Darwin widmen. Doch der winkte ab, er hatte mit seiner frömmelnden Familie schon genug Ärger, da wollte er nicht auch noch für die Lehren eines berüchtigten Kommunisten vom Kontinent mitverantwortlich gemacht werden.

Gewidmet hat Marx sein Hauptwerk dann Wilhelm Wolf, einem frühen Mitkämpfer, der als Einziger je unter dem Pateietikett Demokrat in die Frankfurter "Nationalversammlung" gewählt worden war.

JE

Dienstag, 18. August 2020

Xi Jinping ist nicht mehr unantastbar.

aus FAZ.NET, 18.08.2020   Xi Jinping auf einem Bildschirm in Peking während einer Sitzung des Volkskongresses im Mai 2020
 
Das Seelenleben der Kommunistischen Partei Chinas 
China reagiert auf die Brandrede einer Dozentin der Hochschule der Kommunistischen Partei. Die hat schon früher klare Worte gefunden, jetzt geht sie Präsident Xi persönlich an. Mit ihrer Kritik steht sie nicht allein.
 
Von Friederike Böge, Qingdao

Jahrelang hat Cai Xia sich im Innern der Kommunistischen Partei für Reformen eingesetzt. Doch unter Xi Jinping verlor die pensionierte Jura-Dozentin der Zentralen Parteihochschule den Glauben an die Reformierbarkeit des Systems. Die Partei sei zu „einem politischen Zombie“ und einem „Instrument in den Händen eines Mafiabosses“ verkommen, sagte sie in einer privaten Ansprache, die im Juni als Audiodatei im chinesischen Internet zirkulierte, bevor sie gelöscht wurde. Da hatte die Juristin das Land bereits verlassen. Nach Angaben aus ihrem Umfeld hat sie sich in die Vereinigten Staaten abgesetzt.

Cai Xia

Nun hat die Führung in Peking reagiert: Die Zentrale Parteihochschule teilte am Montag mit, Cai Xia sei aus der Partei ausgeschlossen worden. Ihre Pensionsbezüge seien gestrichen worden. „Cai Xia hat Äußerungen gemacht, die politisch hochproblematisch waren und dem Ruf des Landes geschadet haben“, hieß es zur Begründung.

Ihre Rede gibt Einblicke in das Seelenleben einer Partei, aus der wegen ihrer strikten Verschwiegenheit sonst wenig herausdringt. Unklar ist, ob Cais Äußerungen für die Öffentlichkeit gedacht waren. In Peking heißt es, sie habe ihre Kritik zunächst nur im privaten Kreis geäußert, bis diese im Mai „nach außen gedrungen“ sei.

Cai Xia entstammt einer Familie ranghoher Militärs. Ihr Großvater verdiente sich an der Seite Mao Tse-tungs seine Revolutionsmeriten. Damit gehört die Enkelin zum sogenannten roten Adel. Sie studierte an der Zentralen Parteihochschule, an der sie später mehr als 30 Jahre lang selbst Parteikader ausbildete und für ihre Theoriebildung ausgezeichnet wurde. Schon in früheren Jahren machte die Juristin mit klaren Worten von sich reden. Als 2016 ein junger Umweltaktivist nach seiner Festnahme starb und die beteiligten Polizisten nicht verurteilt wurden, schrieb Cai Xia, die Behörden hätten damit ihr letztes bisschen Glaubwürdigkeit verloren. Immer wieder beklagte sie einen Mangel an Debatten und an Kritikfähigkeit innerhalb der Kommunistischen Partei.

Cai Xias Rede vom Mai ging allerdings weit darüber hinaus: Darin rief sie den Ständigen Ausschuss des Zentralkomitees zum Sturz Xi Jinpings auf. Dieser habe sich unter Missachtung der Parteistatuten illegal eine unbegrenzte Amtszeit gesichert. Das ist derzeit wieder Thema, weil im Jahr 2022 Xis reguläre Amtszeit auslaufen würde. Cai sagte weiter, die von Xi Jinping betriebene Re-Ideologisierung aller Lebensbereiche sei „grotesk“. Alle Parteimitglieder würden gezwungen, Reden und Texte des Machthabers zu studieren, als handele sich um heilige Schriften, obwohl sie „keinerlei Logik haben“. Zudem beklagte Cai Xia, dass das Land die Kulturrevolution niemals richtig aufgearbeitet habe. Die Ideologie, die die damaligen Verbrechen ermöglicht habe, bestehe fort, so dass ein Rückfall zu befürchten sei.

Xi hat sich viele Feinde gemacht

Es ist nicht neu, dass es in den Reihen einst einflussreicher Parteifamilien großen Unmut über den gegenwärtigen politischen Kurs gibt. Xi Jinping hat sich in der Politelite viele Feinde gemacht. Er hat die Macht in seinen Händen konzentriert, Rivalen verhaften lassen und andere von den Fleischtöpfen vertrieben. Er hat sich in der Außen-, Innen- und Wirtschaftspolitik von zahlreichen Dogmen Deng Xiaopings verabschiedet, die von liberaler gesinnten Parteizirkeln hochgehalten wurden. Der Personenkult um ihn stößt vielen übel auf. Viele machen Xi Jinping zudem für die aktuelle Konfrontation mit Amerika mitverantwortlich, die an ihrem globalen Selbstverständnis und an ihren Geschäftsinteressen rüttelt.

Cai Xia zeigte sich am Montag hocherfreut über ihren Parteiausschluss. Aus ihrem amerikanischen Exil schrieb sie an Freunde, sie fühle sich „rein“, weil sie mit der „Bande“, der Partei, nicht länger verbunden sei. Um ihren Anspruch auf Pension nach 43 Jahren Arbeit werde sie aber vor Gericht kämpfen.