Dienstag, 26. Februar 2019

Wir sind alle umgevolkt.


aus nzz.ch, 26.2.2019

Wie die Einwanderer Europa eroberten
Der Mensch ist ein migrierendes Wesen: Das zeigen Genetiker auf, indem sie das Erbgut prähistorischer Skelette entschlüsseln. Die Ergebnisse werfen Fragen zu unserer Identität auf.
 
von Markus Schär

«So etwas hatte Europa noch nicht erlebt», hebt diese Saga an. «Der Strom an Migranten, der über den Balkan ins Zentrum des Kontinents vordrang, markierte eine echte – hier passt das Wort tatsächlich – Zeitenwende.»

Die Grossfamilien, die entlang der Donau kamen, nahmen das neue Land in ihren Besitz. Die eingeborenen Europäer zogen sich zurück und gaben schliesslich auf. Das hiess: «Die Menschen, die Europa fortan bewohnten, sahen anders aus als jene, die sie verdrängt hatten – ein Bevölkerungsaustausch.»

Was der Genetiker Johannes Krause und der Journalist Thomas Trappe, der sich gerne mit den Rechtspopulisten anlegt, im Prolog ihres Buches raunen, fand vor 8000 Jahren statt. Aber die Autoren spielen lustvoll mit der Zweideutigkeit: Den Anstoss zu ihrem Buch über die frühesten Einwanderer in Europa gab die Flüchtlingskrise im Sommer 2015, als wieder ein Strom von Migranten nach Deutschland zog. Sie wollen zu den Debatten, die vor vier Jahren ausbrachen, einen Beitrag leisten. Denn mit dem genetischen Erbe der Menschen lässt sich seit je Politik machen. 

Das Wissen der Gene 

Vom Blut, also von Völkern, Rassen oder auch Nationalcharakteren zu sprechen, traut sich nach den Greueln der Nazis zwar kaum mehr jemand. Was diese dachten, treibt aber immer noch viele Politiker um, ob nun indische Eliten gegen die Erkenntnis kämpfen, dass ihre Hochkultur mit Eindringlingen kam; ob italienische Politiker einhellig an Unterschiede im Erbgut glauben, die den Norden vom Süden des Landes trennen; ob der ungarische Ministerpräsident nach der richtigen Abstammung seiner Landsleute fragt oder sich eine amerikanische Präsidentschaftskandidatin als Nachfahrin der Ureinwohner wähnt.

Ja, die Gene wiegen schwerer denn je, weil sie sich heute schnell und günstig lesen lassen. Nur zwanzig Jahre nach der milliardenteuren Entschlüsselung des menschlichen Genoms kennen schon Millionen dank Tests von Firmen wie Insitome oder 23andMe ihr Erbgut. Und die Archäogenetiker spüren mit kleinsten Fragmenten von Zehntausende Jahre alten Skeletten der Entwicklung von Homo sapiens nach. «Es wäre geradezu vergeudete Forschermühe», meinen deshalb Johannes Krause und Thomas Trappe, «dieses Wissen im Knochenstaub ruhen zu lassen.»

Mit ihren Erkenntnissen rücken die Archäogenetiker unser Bild vom Menschen zurecht, auch die Wege, wie er die Welt eroberte.

Der Schwede Svante Pääbo, Direktor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, wies als Pionier des Fachs nach, dass sich die modernen Menschen nach ihrem Auszug aus Afrika vor 50 000 Jahren mit Neandertalern paarten, weshalb wir auch deren Gene weitergeben. Sein Meisterschüler Johannes Krause fand dank einer 70 000 Jahre alten Fingerkuppe aus einer Höhle im sibirischen Altai-Gebirge mit den Denisovanern eine bis dahin unbekannte Menschenart. Und sein Forschungspartner David Reich baute an der Harvard Medical School eine «Genfabrik» auf, wo er mit Tausenden von Proben die brisanten Fragen der Besiedlung von Indien, Europa oder Amerika zu klären versucht.

Ihre Studien in den renommiertesten Journalen stiessen auf so grosses Interesse, dass sich die Archäogenetiker mit Büchern auch an ein breites Publikum wenden. Svante Pääbo machte 2014 den Anfang mit «Die Neandertaler und wir: Meine Suche nach den Urzeit-Genen». David Reich löste im Frühling 2018 mit «Who We Are and How We Got Here» eine Debatte aus, die die «New York Times» noch im Januar 2019 mit einer giftigen Attacke weiterdrehte, weil er bei seiner Arbeit auch darüber nachdachte, wie wir den Begriff der Rasse richtig brauchen. Und Johannes Krause legt jetzt «Die Reise unserer Gene» vor, ein eingängig geschriebenes Buch, «das nicht nur politische Kontroversen adressiert, sondern auch erstmals die Erkenntnisse der Archäogenetik über die Geschichte Europas in einem deutschsprachigen Werk zusammenfasst». 

Debatten im Hinterkopf 

Diese Affiche ist allerdings nicht ganz richtig. Die schwedische Journalistin Karin Bojs gab schon 2015 ein brillantes Buch heraus, in dem sie mit Reportagen – von Svante Pääbos Labor in Leipzig über die Höhlenmalereien in der Dordogne bis hin zur Heimat ihrer Vorfahren – die Suche nach ihren eigenen Wurzeln mit einer Übersicht über die neuste Wissenschaft verknüpft. In Schweden ein Bestseller, kam das Werk in mehreren Übersetzungen heraus, so letztes Jahr auch auf Deutsch: «Meine europäische Familie. Die ersten 54 000 Jahre».

Wie Johannes Krause und Thomas Trappe schreibt Karin Bojs mit den politischen Debatten im Hinterkopf. So steht sie im Museum in Stockholm vor der Nachbildung einer Frau, die vor 9000 Jahren lebte, aber mit heller Haut und hellen Haaren aussieht wie eine Landsfrau von heute. «Ich habe blaue Augen, sehr blonde Haare und eine sehr bleiche Haut, wie das Stereotyp einer Schwedin», denkt die Journalistin. «Aber die Wahrheit ist, dass im heutigen Schweden weitaus nicht alle aussehen wie ich.» Auch die Jäger und Sammler der Jungsteinzeit nicht: Die Genetiker wissen jetzt, dass diese Ureinwohner Europas zwar blaue Augen hatten – doch eine dunkle Haut.

Heute zeugen die Gene der Europäer von drei Einwanderungswellen. Erstens zogen vor 50 000 Jahren moderne Menschen wohl aus Palästina nach Europa und hielten als Jäger auch in der Eiszeit durch, anders als die Neandertaler.

Zweitens kamen vor 8000 Jahren die ersten Bauern aus Anatolien – während die Archäologen bisher annahmen, dass sich die Landwirtschaft unter den Eingeborenen verbreitete, weisen die Genetiker jetzt nach, dass sie Einwanderer mit ganz anderem Erbgut mitbrachten.

Und drittens drangen vor 4800 Jahren, bei der grössten Migrationswelle aller Zeiten, Hirten mit Pferden und Wagen aus der russischen Steppe ein: Es gab also tatsächlich ein Volk, das Nordindien und Westeuropa seine Gene, seine Kultur und seine Sprache aufzwang – und es kam aus dem Osten.

Die Gene dieser drei Gruppen machen jetzt, in regional unterschiedlicher Mischung, das Erbe der Europäer aus. Spätere Migrationen führten nicht mehr zu einem genetischen Austausch, der sich messen lässt, nicht einmal die Völkerwanderung vom 4. bis zum 6. Jahrhundert. 

Wir sind alle Migranten 

Welche Menschen für eine Region typisch, weil seit je einheimisch sind, lässt sich aufgrund der Genetik kaum mehr sagen. David Reich stellt fest: «Die Menschen, die heute an einem Ort leben, stammen fast nirgends ausschliesslich von den Menschen ab, die in der fernen Vergangenheit an diesem Ort lebten.» Und Johannes Krause und Thomas Trappe wissen: «Die Archäogenetik zeigt, dass es Menschen mit ‹reinen› europäischen Wurzeln nicht gibt und wohl auch nie gab. Wir alle haben einen Migrationshintergrund.»

Europa, meinen die Autoren gar, lasse sich verstehen als «eine sich über Jahrtausende erstreckende Fortschrittsgeschichte, die ohne die Migration und Mobilität von Menschen unmöglich gewesen wäre». Das heisst allerdings nicht, dass sie die Einwanderung gemäss ihren politischen Neigungen unkritisch feiern: «Das Buch liefert, dessen sind wir uns bewusst, Argumente für diejenigen, die gegenüber der Migration aufgeschlossen sind, wie auch für jene, die ihr strikte Grenzen setzen wollen.»

Die Genetiker zeigen durchaus, dass es Eigenheiten im Erbgut von Bevölkerungsgruppen gibt. So leben die Tibeter in sauerstoffarmer Luft mit einem Gen, das von den Denisovanern stammt. Und so nützt den Westafrikanern ein Gen, das zu «schnellen» Muskeln führt: David Reich wies darauf hin, dass alle Finalisten des 100-Meter-Laufs an den Olympischen Spielen seit 1980 Wurzeln in Westafrika hatten – und erntete allein für diese Feststellung Prügel.

Vor allem lehren die Evolutionsbiologen, dass sich Bevölkerungsgruppen nicht nur mit ihren Genen, sondern auch mit ihrer Kultur der heimatlichen Umwelt anpassen und sich gegen Fremde verteidigen. Starke Einwanderung löst deshalb Konflikte aus, damals und heute, wie Johannes Krause und Thomas Trappe einräumen. Eine Klimaerwärmung könne durchaus zu einem Plus an bebaubaren Flächen führen, meinen sie: «Allerdings ist nicht absehbar, welche politischen Verwerfungen und Konflikte daraus resultierende Migrationen hervorrufen würden. Oder besser gesagt, man will es sich lieber nicht vorstellen.»

Johannes Krause, Thomas Trappe: Die Reise unserer Gene. Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren. Propyläen, Berlin 2019. 288 S., Fr. 25.90.
Karin Bojs: Meine europäische Familie. Die ersten 54 000 Jahre. WBG Theiss, Stuttgart 2018. 431 S., Fr. 41.90.

Das Silber zog die Phönizier nach Westen.

Der Silber-Hort von Ein Hofez.
aus Tagesspiegel.de, 26. 2. 2019                                                    Der Silber-Hort von Ein Hofez

Antike Handelswege  
Die Phönizier folgten dem Silber nach Westen
Als Seefahrer trieben die Phönizier entlang der Mittelmeerküste Handel und gründeten Siedlungen. Eine Studie klärt jetzt, was sie gen Westen zog.

Auf der Suche nach Silber zog es die Phönizier vor knapp 3000 Jahren immer weiter nach Westen - vom östlichen Mittelmeer bis zum Atlantik. Israelische Forscher rekonstruieren aus der eingehenden Analyse von Silberfunden die Ausbreitung dieser Gruppe nach Westen. Das phönizische Stammland lag an der Levante - also an der östlichen Mittelmeerküste vom heutigen Syrien über den Libanon bis ins nördliche Israel. Die frühesten phönizischen Siedlungen auf Sardinien und im Süden der Iberischen Halbinsel gingen eindeutig auf die Silberproduktion zurück, schreibt das Team um Tzilla Eshel von der Universität Haifa in den "Proceedings" der US-Nationalen Akademie der Wissenschaften ("PNAS").

Die Phönizier sind vor allem als Produzenten, Händler und Seefahrer berühmt, die ihr Handelsnetz schon im frühen ersten vorchristlichen Jahrtausend bis zum Atlantik ausdehnten und an den Küsten Südeuropas und Nordafrikas Siedlungen gründeten. Wann und warum die Phönizier diese Verbindungen einrichteten, sei umstritten, schreiben die Forscher.

Das Silber der Phönizier stammte aus Anatolien und Sardinien

Um das zu klären, analysierten sie per Isotopenanalyse Silberobjekte von drei frühen Siedlungen im Norden von Israel: Dor, Akko und Ein Hofez. Aus diesen Untersuchungen leiteten sie die Herkunft des Silbers ab, das im phönizischen Stammland selbst nicht vorkommt.


Die Funde aus Dor, dem ältesten der drei Fundorte, stammen aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts vor Christus. Die damals verwendeten Erze kommen den Autoren zufolge vorwiegend aus dem anatolischen Bolkardag im Taurus-Gebirge und von der Ägäisinsel Santorin. Vereinzelt stießen die Forscher auch auf Erze aus Iglesiente im Südwesten von Sardinien.

Auch das Silber von Akko, einer Siedlung aus dem 10. und 9. Jahrhundert vor Christus, stammte aus Anatolien und Sardinien. In Sardinien wurde Silber durch das Verfahren der Kupellation, das dort wahrscheinlich von den Phöniziern eingeführt wurde, mit Hilfe von Blei extrahiert und dann zur Levante verschifft.

Eine Kette von Siedlungen entlang des Transportwegs

Die Herkunft des Edelmetalls ändert sich jedoch im Lauf des 9. Jahrhunderts, wie die Analyse der Funde aus Ein Hofez zeigt: Hier weisen nur noch 2 von 29 Objekten die Signatur anatolischer Erze auf. Alle übrigen Stücke stammen von der Iberischen Halbinsel. Dort reicherten die Phönizier vor allem silberhaltiges Jarosit mit Blei an, um das Edelmetall ebenfalls durch Kupellation zu extrahieren. Das Blei wurde von verschiedenen Orten zu den Produktionsstätten gebracht. Bei 6 der 29 Objekte stammt es aus Linares im heutigen Andalusien. Das Blei der übrigen 21 Objekte kommt von verschiedenen anderen Orten im heutigen Südwestspanien.

"Diese Resultate bieten eine weitere Erklärung für die Dichte der phönizischen Siedlungen im frühen 8. Jahrhundert vor Christus entlang der Flüsse und Küsten im südlichen Iberien", schreiben die Forscher. "Diese dienten als Stationen für den Transport von Blei." Das Silber aus Ein Hofez belege die früheste phönizische Präsenz auf der Iberischen Halbinsel, schreibt das Team. Dieses Silber dominierte den phönizischen Markt demnach länger als ein Jahrhundert.

Die Funde von Ein Hofez zeigten, dass die Silberproduktion mit den frühesten phönizischen Siedlungen entweder einher- oder ihnen sogar vorausgegangen sei, schreibt das Team. "Iberisches Silber war möglicherweise der wichtigste, und wahrscheinlich der früheste Grund für phönizische Aktivitäten auf der Halbinsel", betonen sie.

Später änderte sich die Herkunft des Silbers wieder: Ab dem 7. Jahrhundert vor Christus stammte das Silber den Autoren zufolge aus Lavrio im Südosten Griechenlands. Walter Willems (dpa)

Freitag, 22. Februar 2019

Der europäische Sonderweg.

oder
Asiatische Weisheit und westliche Vernunft.


In Politik und Kulturbetrieb, vor allem aber in Geistesgeschichte und Ethnologie, hieß seit den 50er Jahren als Maßstab aufgeklärter Gewissenhaftigkeit das erste Gebot: Schluss mit dem Eurozentris- mus! Im Gefolge kamen in den 60ern Bhagwan und Hare Krishna nach Europa, dann New Age, der Multikulturalismus und der Überdruss an der grauen seelenlosen Vernunft.

In den Vereinigten Staaten hat letzterer inzwischen das Weiße Haus erobert und sich im Kongress breitgemacht. Europa beginnt, sich über seinen Platz in der Welt Sorgen zu machen, und es ist ausgerechnet Deutschland, auf das hoffnungsvolle Blicke gerichtet werden.

Von uns wird - weil ein anderer sich's nicht zutraut - erwartet, Europa wieder stark zu machen. Und zwar indem wir, sollte man meinen, uns darauf besinnen, was historisch unsere Stärke ist. Just in dem Moment, wo das bei uns selber gar nicht mehr unumstritten ist.
JE

aus Telepolis, 22. Februar 2019


Ist die europäische Diskussionskultur schon Geschichte? 
Der fließende Übergang zwischen Fakt und Fiktion ist für manche asiatische Gesellschaft Tagesgeschäft

von  

Die klassische Diskussion soll das Gegenüber nicht zwingend vom eigenen Standpunkt überzeugen, sondern zu einem Kompromiss oder der beidseitigen Erkenntnis führen, dass unterschiedliche Meinungen herrschen, wobei man zumindest die Gelegenheit hatte, den anderen Standpunkt kennen zu lernen. Was in Westeuropa über lange Zeit allgemein gültig war, gilt mitnichten weltweit und scheint auch in Europa an Bedeutung zu verlieren.

Als ich Anfang der 1990er-Jahre meine ersten Schritte in Fernost unternahm, weil die Nachfrage nach Informationen zu Erneuerbaren Energien und Energieeffizienz soweit angestiegen war, dass es geboten schien, entsprechende Informationsangebote vor Ort bereitzustellen, war ich ziemlich verblüfft ob der Begründung, warum man sich für diese Themen interessierte.


Man hatte erfahren, dass dies in Deutschland ein Thema sei und wollte das im eigenen Land auch, weil Erneuerbare und Energieeffizienz offensichtlich ein Zeichen von Modernität waren. Energieeinsparung war zuvor in China durch staatliche Heizverbote geregelt worden. Zwischen dem 32. und 34. nördlichen Breitengrad verlief die Heizungsgrenze. Nördlich davon wurde zwischen dem 15. November bis zum 15. März geheizt.

Südlich davon war das Heizen seit den 1950er-Jahren verboten, was für viele Betroffene kaum noch mit den allgemeinen Moderinsierungsfortschritten des Landes vereinbar schien. Argumentiert wurde mit dem Vorbild der europäischen Länder. Sachliche Argumente tauchten in den Gesprächen nicht auf. Wenn es dann zu Sache ging, bestand die Kernfrage darin, wer für die Kosten aufkommt. China hatte den Vorteil, dass man als Entwicklungsland auf Unterstützung aus Europa hoffen konnte.

Kausalketten

Kausalketten werden zumeist nur dann akzeptiert, wenn sie offensichtlich sind. So gab es bis zu königlich verordneten Modernisierung Anfang des 20. Jahrhunderts in Thailand keine Familiennamen. Die Verwandtschaftsbeziehungen bestanden nur zwischen Müttern und Kindern sowie zwischen Geschwistern. Der Rest war nicht offensichtlich.

Noch heute werden kaum zu leugnende Zusammenhänge mit Vorliebe ignoriert. Traditionell wird der Klebreis im Dampfbad über dem offenen Feuer zubereitet. Das Feuer wird mittels Stücken aus alten Autoreifen angezündet, was dem Reis die entsprechende Farbe und den Rauchgeschmack verschafft. 

Dass Lungenkrebs bei Frauen, die das Essen so zubereiten, zu den Haupttodesursachen zählt, verwundert nur dann nicht, wenn Kausalketten auf eine direkte Auswirkung beschränkt sind. Umweltfreundlichere Anzündemöglichkeiten für das tägliche Feuer setzen sich nur dann durch, wenn sie billiger als alte Autoreifen sind.

Mit einer klassischen humanistischen Ausbildung ins Leben geschickt, war für mich das Zusammentreffen mit einem Umfeld, das sich durch das Fehlen jeglicher Argumentations- und Diskussionskultur auszeichnet, durchaus eine Art von Kulturschock.

Da war ich im Übrigen gar nicht so alleine. Entwicklungshilfeprojekte machten die fehlende Wirksamkeit fachlicher Argumente zumeist mit finanziellen Mitteln wett. Um die zuhause erwarteten Erfolge zu erzielen, musste man die lokalen Partner bezahlen und das möglichst so, dass es zuhause nicht als Korruption wahrgenommen wurde. Wenn man über ein ausreichendes Zeitbudget verfügt, kann man auch durch vorbildhaftes Verhalten einiges bewirken.

Warum ist die Argumentations- und Diskussionskultur in Europa beheimatet?

Da muss man ein wenig in der Geschichte kramen und wird bei Platon fündig, von dem erste Ansätze einer Argumentationslehre überliefert sind. Eine erste ausgearbeitete Argumentationstheorie findet man dann in den Schriften seines Schülers und Kritikers Aristoteles. Mit einem gewaltigen Sprung auf der Zeitschiene landet man dann im Zeitalter der Aufklärung, das zumeist von 1650 bis 1800 angesetzt wird, als die Vernunft als universelle Urteilsinstanz zur Anwendung kommt.

Auf dieser Basis hat sich einerseits die Kultur der Diskussion und andererseits die der Debatte entwickelt, die heute vielfach synonym benutzt werden, sich jedoch in ihrer Charakteristik deutlich unterscheiden. Während die Diskussion auf einen Kompromiss zielt, dient die Debatte, wie sie in Parlamenten üblich ist, zur Präsentation der eigenen Ansichten, über welche dann abgestimmt werden kann.

Mit Hilfe der Vernunft und der Naturwissenschaften wurde in der Folge der Aufklärung die Welt neu betrachtet und sortiert und so manches Phänomen, welches zuvor dem Wirken eines höheren Wesens zugeschrieben worden war, erhielt eine rationale Erklärung. Dass sich nicht zuletzt die Kirchen gegen den zunehmenden Verlust ihrer Erklärkompetenz wehrten, ist durchaus nachvollziehbar.

Im Bildungsbürgertum konnten wissenschaftliche Erklärungen zunehmend Raum greifen. Dies galt zumindest, solange die neu gewonnenen Erkenntnisse dabei halfen, die kleine Welt um die Menschen herum zu verstehen. Mit der Globalisierung kam diese kleine Welt jedoch unter die Räder.

Kein "wahr" oder "unwahr", "richtig" oder "falsch"

Je komplexer die Erklärung der Welt wurde und je weniger sie für den Einzelnen nachvollziehbar wurde, desto stärker wurde auch im Westen wieder die Suche nach Vorbildern aufgenommen. Da Text für zahlreiche Zeitgenossen als leicht zu fälschendes Medium gilt und kaum noch jemand Texte auswendig lernen kann, um sie mit niedergeschriebenen Versionen zu vergleichen, wird auch in Europa als Quelle und Beleg für eine Aussage in zunehmender Weise auf Videos zurückgegriffen.
 

Dabei übersehen die meisten, dass Videos heute sehr professionell gerendert werden können und mittels der Lichtfeldtechnik ein fließender Übergang zwischen Fakt und Fiktion möglich ist, der praktisch nicht mehr zu erkennen ist. Aus Fake News werden so mit durchaus überschaubarem Aufwand Fake Videos.

Der fließende Übergang zwischen Fakt und Fiktion, an welchen sich die Bewohner der westlichen noch nicht gewöhnt haben, ist für manche asiatische Gesellschaft Tagesgeschäft und die jeweils spezifische Bewertung davon abhängig, wem eine bestimmte Äußerung zugeschrieben wird.

Es gibt in diesem Zusammenhang kein wahr oder unwahr, richtig oder falsch, sondern letztlich nur das Kriterium glaubhaft und das ist jeweils sehr subjektiv und situationsbezogen. So werden die zwei Kinder einer befreundeten Familie, für welche ich die Ausbildung bezahle, von Fall zu Fall als meine Kinder bezeichnet, die bei mir in Deutschland leben, obwohl sich beide dauerhaft in Fernost aufhalten.

Die europäische Forderung, dass Informationen objektiv und überprüfbar sein sollen, geht an der fernöstlichen Situation weitestgehend vorbei. Wer mit der Situation in Fernost vertraut ist, kann übrigens auch ganz gut mit der in Europa wachsenden Entwicklung umgehen, welche rein subjektive Aussagen als objektiv richtig und wahr bezeichnet, was einer rationalen Argumentation und somit jeglicher Diskussion den Boden entzieht.



Nota. - Auf 1650 datiert er den Anbruch des Vernunftzeitalters - in Europa. Man kann es sogar genauer sagen, denn es wurde darüber eine Akte angelegt: Das war der in Münster und Osnabrück besiegelte Westfälische Frieden, in dem der Grundstein des Völkerrechts gelegt und zum obersten Richter in allen irdischen Angelegenheiten die Vernunft eingesetzt wurde.

Damit fing sie erst an. Zuerst eine Sache von Diplomaten und Gelehrten, dann der gebildeten Klassen und ihrer Salons, dann der Literaten, und schließlich am 14. Juli 1789 eine Sache "des Volkes". Das war seither kein gerader breiter Weg, er hat Perepetien und Katastrophen gehabt, aber überstanden hat sie sie bislang doch alle und ist, das darf man staunend feststellen, stärker daraus hervorgegangen. An den paar übellaunigen Garten- zwergen und den ihnen kaum überlegenen politisch korrekten Flaumachern unserer Tage wird sie schon gar nicht zugrunde gehen. Aber ein paar Scharfmacher wird sie schon brauchen, so war es immer.
JE


 

Donnerstag, 21. Februar 2019

Mobilität und Migrationen in der Bronzezeit

 
Frühbronzezeitlicher Kinderschädel aus Schleinbach mit Spuren von Gewalteinwirkung..
aus derStandard.at,  21. Februar 2019

Mobilität und Migrationen in der Bronzezeit
Moderne Analysen alter Gene, Isotopen und Artefakte bringen frische Einblicke in die dynamische, vernetzte Welt der Bronzezeit in Europa 

von Katharina Rebay-Salisbury

Mitte Dezember 2018 fand am Institut für Orientalische und Europäische Archäologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die Konferenz "Genes, Isotopes and Artefacts" statt. Es war eine seltene Gelegenheit, Spezialistinnen und Spezialisten verschiedenster Fachdisziplinen zusammenzubringen, um Bewegung in die Bronzezeitforschung zu bringen. Denn auch vor drei- bis viertausend Jahren waren Menschen und Güter weit mobiler als lange Zeit angenommen. Der modernen Archäologie steht heute eine Vielzahl an Analysemethoden zur Verfügung, die vor Jahrzehnten noch undenkbar waren. Untersuchungen des menschlichen Erbguts lassen Verwandtschaftsmuster, Abstammungen und genetische Herkunft rekonstruieren. Isotopenanalysen prähistorischer Zähne bieten wertvolle Informationen über Ernährung und Ortswechsel.

Mobilität und Migration können heute direkt am prähistorischen Menschen erforscht werden, und nicht nur indirekt über materielle Hinterlassenschaften. Die Erforschung des Handels mit Rohstoffen und fertigen Produkten wie Schmuck, Geräten und Waffen aus Bronze hat durch neue Analysemethoden ebenfalls Impulse erfahren. Trotzdem bleibt die Erfassung von Artefakten, deren räumlicher Verteilung und chronologischer Entwicklung – die Kernkompetenzen der Archäologie – unerlässlich für die Kontextualisierung und Interpretation der Ergebnisse.

Dialog der Disziplinen

Moderne Archäologie ist vielfältig. Die Analyse menschlicher Knochen und Zähne sowie Funde verschiedenster Materialien erfordert interdisziplinäre Zusammenarbeit. Dies gestaltet sich nicht immer einfach, da jede Disziplin ihre eigene Sprache, Arbeitsweise, Methoden, erkenntnistheoretischen Ansätze und Erwartungen hat. Die Archäologie saß dabei immer schon zwischen den Stühlen von Natur- und Geisteswissenschaft. Auch die Archäologie bedient sich hypothesengeleiteter Forschung, misst und macht messbar. Trotzdem geht es immer wieder darum, komplexe Zusammenhänge dazustellen und zu interpretieren. Nicht immer lassen sich eindeutige Antworten auf Fragen an die Vergangenheit finden.

Die Forschungsgruppe "Prähistorische Identitäten" und das Institut für Orientalische und Europäische Archäologie verfolgen systematisch einen diskursiven Weg in der Forschung, der kulturelle und kontextuelle Informationen gleichwertig mit bioarchäologischen Daten diskutiert. Erforschung alter DNA – des Kaisers neue Kleider?

Die Erforschung unserer genetischen Geschichte hat Dynamik in die Landkarte bronzezeitlicher Kulturen gebracht. Großräumige Wanderungsbewegungen wurden zwar bereits aufgrund von Fundverteilungen postuliert, doch nun verdichten sich die Hinweise auf zahlreiche Migrationswellen vom eurasischen Steppenraum und dem Nahen Osten nach Europa. Das Bild von reinen Populationen, die über längere Zeit in einem Raum gelebt haben, musste revidiert werden.

Heute diskutieren Genetiker über Mischverhältnisse des Genoms und den prozentuellen Anteil geografisch zugeordneter Abstammungslinien, der in jedem analysierten Individuum zu finden ist. So könnte zum Beispiel die Herkunft des Genoms eines bronzezeitlichen Menschen aus Österreich zu je einem Drittel europäischen Jäger-Sammlern, neolithischen Bauern aus Anatolien und Reitern aus der eurasischen Steppe zugeschrieben werden. Zu wenig wird diskutiert, wie genau die Zuordnung bestimmter Cluster von Genen zu archäologischen Kulturen und Völkern funktioniert. Alte DNA zu erforschen ist schon längst von einer Labor- zu einer Computerwissenschaft geworden. Mitunter sind die Vorgänge der Datenbearbeitung und Statistik auch für den geübten Betrachter nicht mehr nachvollziehbar.

Die Faszination von Ethnizität scheint ungebrochen. Bisweilen fragt man sich, ob die Erforschung von Clustern alter Gene nicht einfach nur Rassenforschung in neuer Gestalt ist. Die Archäologie hat nach den Schrecken des Nationalsozialismus lange gebraucht, um sich neu zu orientieren und über ihre eigene Fachgeschichte zu reflektieren. Des Potenzials politischen Missbrauchs archäologischer und nun auch genetischer Daten sowie der daraus resultierenden Verantwortung sind sich Archäologinnen und Archäologen sehr bewusst. Wie also neue Wege einschlagen?

Menschen sind das Produkt von Natur und Kultur. Die biologische Herkunft ist nur ein Aspekt des Menschseins, und das Genom alleine erklärt noch lange nicht soziale Beziehungen, menschliches Verhalten und kulturelle Entwicklungen. In welchen gesellschaftlichen Gruppen Menschen lebten, wie sie sich und andere kategorisierten, ist nur aus dem archäologischem Zusammenhang – dem Kontext – erkennbar.

Auch Krankheitserreger sind mobil

Die Bevölkerungsdynamik der Bronzezeit (circa 2200 bis 800 v. Chr.) ist nicht nur durch Migrationen, sondern auch durch Wachstum unter guten Umwelt- und Klimabedingungen und zahlreichen Rückgängen gekennzeichnet. Der Erforschung der DNA von Pathogenen, also Krankheitserregern, kommt eine immer größere Rolle dabei zu, diese oft kleinräumigen Entwicklungen nachzuzeichnen. Quasi als Nebenprodukt der Analyse alten menschlichen Erbguts werden Bakterien, Viren, Pilze und Parasiten untersucht, die seit Jahrtausenden mit dem Menschen interagieren. In dem ständigen Wettkampf zwischen Krankheitserregern und ihren Wirten findet Evolution statt.

Das Herpesvirus etwa wurde erst kürzlich in einer Art steinzeitlichem Kaugummi – einem 5.000 Jahre alten Stück abgekauten Birkenharzes – entdeckt. Der Ursprung, die Verbreitung und die Genealogie des Pestbakteriums (Yersinia pestis) konnte anhand von zahlreichen Proben prähistorischer Individuen nachvollzogen werden. Durch Handel und Mobilität über die Seidenstraße kamen immer wieder neue Stämme des Bakteriums nach Europa. Besonders interessant ist dabei, dass das Bakterium anfangs relativ harmlos war und erst im Lauf seiner Evolution zu einer tödlichen Bedrohung wurde.

Pestbakterium. Yersinia pestis

Spannend ist auch, dass der genetische Code spezifischer Krankheitserreger nun zunehmend in bereits publizierten Datensätzen wiederentdeckt wird. Dass Archäologie in alten Computerdaten wertvolle Ergebnisse liefert, zeigt den Wert vom freien Zugang zu Daten und umfangreichen Datensammlungen (Stichworte: Big Data, Open Access).

Die Erforschung historischer Pandemien und deren Ausbreitung kann durch ein besseres Verständnis der Mutationsmechanismen dazu beitragen, auch beim Wettlauf mit modernen Krankheitserregern die Oberhand zu behalten.

Geschlechterspezifische Mobilität

Bis vor kurzem dominierten männliche Handwerker, Händler und Krieger das Bild bronzezeitlicher Mobilität. Die zunehmende Anwendung von Isotopenanalysen ergab jedoch, dass auch Frauen in weit größerem Ausmaß als angenommen mobil waren. Die Isotopenverhältnisse des lokalen geologischen Untergrunds, besonders von Strontium, werden während der Entwicklung im Zahnschmelz gespeichert. Ihre Analyse kann Einblicke liefern, wo Menschen aufwuchsen, ob und in welchen Lebensabschnitten sie ihren Wohnort wechselten.

Betrachtet man nun die Anteile lokale und nichtlokaler Individuen in Bezug auf ihr Geschlecht, erhält man Hinweise auf geschlechterspezifische Mobilität. Im späten Neolithikum, der Glockenbecher- und Schnurkeramikzeit, dürften besonders Männer sehr mobil gewesen sein. Die spätneolithisch-frühbronzezeitliche Migrationswelle aus dem Steppenraum umfasste einen hohen Anteil von Männern.

In der frühen Bronzezeit jedoch ist der Anteil nichtlokaler Frauen fast überall in Europa höher als der der Männer. Das könnte durch eine neue gesellschaftliche Ordnung erklärt werden, in der weibliche Exogamie und Patrilokalität eine besondere Bedeutung erfahren. Frauen dürften ihre Kinder in der Gemeinschaft ihrer Männer aufgezogen haben. Es bleibt zu diskutieren, in welcher Form die gesellschaftliche Einbindung fremder Frauen passierte – durch Liebesbeziehungen, Heiratskreise oder gar Frauenraub? Die Hinweise auf Krieg und Gewalt in der Bronzezeit häufen sich in der Form von erschlagenen und getöteten Menschen, die begraben oder in Gruben beseitigt gefunden wurden.

Das weibliche (mitochondriale) Genom ist auch durch eine wesentlich höhere Diversität gekennzeichnet als das männliche (Y-Chromosom). Das könnte wiederum für Polygamie sprechen, da einige wenige Männer Fortpflanzungserfolg mit zahlreichen Frauen gehabt haben müssen. Die zunehmende soziale Stratifizierung der bronzezeitlichen Gesellschaft ermöglichte einigen wenigen nicht nur den Zugang zu materiellen Ressourcen wie Gold und Bronze, sondern auch Macht über andere Menschen.

foto: rasmus christiansen Lebensbild der Bronzezeit aus dem Jahr 1907.

Ein neues Bild der Bronzezeit

In der europaweiten Zusammenschau der Fallstudien zeigte sich die unglaubliche zeitliche und kulturelle Vielfalt prähistorischer Entwicklungen. So wird es immer schwieriger, ein einheitliches Narrativ für die Bronzezeit zu formulieren. Doch darin liegt auch die Erkenntnis, dass die Vergangenheit genauso komplex war wie das Leben heute. Mehr denn je sind wir in der Lage, spezifische (Ur-)Geschichten zu rekonstruieren. Das Bild der statischen, archäologischen Kulturen wird zunehmend durch ein Bild vernetzter, mobiler, kreativ und aktiv agierender Menschen ersetzt. Dabei können wir aus dem archäologischen Kontext Fragen an die Vergangenheit beantworten, die auch heute gesellschaftlich relevant sind. Themen wie Migration, Ethnizität, Geschlechterverhältnisse, Mutterschaft, Epidemien und Gewalt verbinden die Bronzezeit mit der Gegenwart und bieten ein breites Potenzial für neue Forschungen.

Katharina Rebay-Salisbury ist Archäologin und forscht am Institut für Orientalische und Europäische Archäologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Als Spezialistin für die europäische Bronze- und Eisenzeit untersucht sie derzeit im Rahmen eines ERC-Starting-Grant-Projekts biologische und soziale Auswirkungen von Mutterschaft in den letzten drei Jahrtausenden v. Chr. 

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Dienstag, 19. Februar 2019

Bronzezeitliche Zeitenwende.

Tiepolo d. J.
aus Tagesspiegel.de, 

Schlüsseljahr 1177 v.Chr.  
Als die Welt wirklich aus den Fugen war
Der US-Historiker Eric H. Cline schildert den Zusammenbruch einer globalisierten Welt in der Antike. 

von
Es vergeht beinahe kein Tag, an dem nicht irgendein Politiker oder Leitartikler ausruft, die Welt sei aus den Fugen, ihre bisherige Ordnung in Gefahr, der Westen ohnehin. In derlei Äußerungen spiegelt sich ein zutiefst ahistorisches Denken: Wann hat es jemals eine Ordnung, gar Weltordnung gegeben, die nicht im Wandel begriffen war durch den steten Strom historischer Ereignisse oder zumindest infrage gestellt wurde von Kräften und Mächten, die diese Ordnung verändern wollten? 

Schlüsseljahr 

Hier ist die Lektüre von „1177 v. Chr.“ zu empfehlen. Eric H. Cline erzählt die Geschichte eines Ordnungs- zusammenbruchs, der diese Bezeichnung wirklich verdient. Der Professor für Klassik und Anthropologie sowie Direktor des Archäologischen Instituts an der George Washington Universität in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten nimmt seine Leser mit in ein Jahr, das für die damals lebenden Menschen eine derart einschneidende Zäsur bedeutete wie für ihre Nachfahren 476 das Ende des Restes des fast tausendjährigen Römischen Reiches oder 1492 die Entdeckung Amerikas und damit einer globalen Welt durch Christoph Kolumbus.

Das titelgebende „1177 v. Chr.“ markiert die Schlacht zwischen dem ägyptischen Pharao Ramses III. und maro- dierenden Seevölkern. Mit Schwerpunkten seiner Forschungsarbeit in der biblischen Archäologie, Militärge- schichte und in den internationalen Beziehungen des Mittelmeerraumes ist Cline bewusst, dass es sich dabei lediglich um eines von mehreren Ereignissen gehandelt hat, die zu jener Zeit den östlichen Mittelmeerraum und die Zivilisationen der Mykener, Hethiter und Ägypter erschütterten.

Die damaligen Umwälzungen führten im gesamten anatolisch-ägäischen Raum und darüber hinaus zum Unter- gang bronzezeitlicher Kulturen, die sich über Jahrhunderte herausgebildet und ein beachtliches Entwicklungs- stadium erreicht hatten, wie der Prähistoriker Hermann Parzinger in seinem Vorwort zu Clines Buch betont. Auch der Fall Trojas gehört für ihn in diesen Kontext. 

Die Kollaps-Frage

Cline treiben hierbei Fragen um, die bereits Generationen von Altertumsexperten beschäftigt haben: Wie konnte es zum Zusammenbruch von Kulturen kommen, die ihre Widerstandsfähigkeit über zwei Jahrtausende hindurch immer wieder aufs Neue bewiesen hatten? Was waren die Stärken, aber auch die Schwächen der komplexen internationalisierten Welt, in der Minoer, Mykener, Hethiter, Assyrer, Babylonier, Mitanni, Kanaaniter, Zyprer und Ägypter im Mittelmeerraum der späten Bronzezeit miteinander interagierten – eine kosmopolitische und globalisierte Welt, wie es sie in der Geschichte der Menschheit bis heute nur selten gegeben hat? Cline vermutet, dass es eben jener Internationalismus war, der zu einer geradezu apokalyptischen Katastrophe führte, mit der die Bronzezeit zu Ende ging. Ihm scheinen der alte Orient, Ägypten und Griechenland im Jahr 1177 vor Christus so stark miteinander verflochten und voneinander abhängig gewesen zu sein, dass der Untergang der einen Kultur letztlich den Untergang der anderen nach sich zog.

Zugleich muss auch Cline eingestehen, dass die genauen Ursachen für den Zusammenbruch der Zivilisationen der Ägäis und des östlichen Mittelmeerraumes und damit für den Übergang von der Spätbronzezeit zur Eisenzeit bislang nicht mit Sicherheit zu ermitteln sind. Neuere Forschungen haben ergeben, dass die Seevölker, die 1177 vor Christus eine Schneise der Verwüstung über das südöstliche Mittelmeer legten, vom griechischen Mykene über Troja und Milet am Rande Vorderasiens, über Ugarit im heutigen Syrien bis in das Ägypten von Ramses III., nicht nur Aggressoren, sondern auch Flüchtlinge vor Naturkatastrophen waren. Dennoch bleibt weiterhin unklar, wer genau sie waren, woher sie im Einzelnen kamen und was sie wollten

So fern, so nah

Umso größer ist – bei aller Unklarheit im Detail – das Verdienst von Cline, die damaligen Ereignisse, die an sich unendlich fern wirken, derart anschaulich darzustellen, dass sie ähnlich nah rücken wie die heutige Nachrichten- lage. Dies würdigt der Theiss-Verlag jetzt mit einer Sonderausgabe des zuerst 2015 erschienenen Buchs, das inzwischen mit dem ersten Preis der American School of Oriental Research für das beste populäre Buch aus- gezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden ist.

Eric H. Cline: 1177 v. Chr. Der erste Untergang der Zivilisation. Aus dem Englischen von Cornelius Hartz. Mit einem Vorwort von Hermann Parzinger. Theiss Verlag, Darmstadt 2018. 352 S., 17,95 Euro.

Montag, 18. Februar 2019

Warum gibt es so wenig Ostler in Führungspositionen?

Frauen und Männer in Führungspositionen.
aus Tagesspiegel.de, 18 2. 2019

Kaum Posten für den Osten
Intrigen! Seilschaften! Daran liegt es, glauben viele, dass Ostdeutsche in Spitzenjobs selten vorkommen. Doch die Gründe gehen tiefer. Ein Gastbeitrag.

von Holger Lengfeld  

Es herrscht Frust im Osten. Allerdings geht es nicht mehr nur um bekannte Themen wie Flüchtlingspolitik, infrastrukturell abgehängte Dörfer oder ungleiche Löhne, sondern um Grundlegendes: um das Empfinden vieler Ostdeutscher, in der Gesamtgesellschaft nicht gleichberechtigt, mithin nicht voll anerkannt zu sein. Eine Dia- gnose, die wohl auch die Bundeskanzlerin teilt. Es sei für sie „nicht so verwunderlich, dass es in Ostdeutschland Frustrationen gibt“, sagte Merkel kürzlich in einem Interview. Sie benannte als einen wichtigen Grund, dass Ostdeutsche auf Führungspositionen unterrepräsentiert sind.

Dies birgt ein ernsthaftes Integrationsproblem. Für viele Menschen in den neuen Ländern ist die Gruppeniden- tität als Ostdeutsche, 30 Jahre nach dem Mauerfall, immer noch prägend. Unterrepräsentanz bedeutet dann, dass Vorbilder aus der eigenen Gruppe fehlen, an denen man sich orientieren kann und die allen signalisieren, dass die Gesellschaft offen ist und es jede/r bis ganz nach oben schaffen kann.

Neue Studien sind rar

Wie groß das genaue Ausmaß der Unterrepräsentanz ist, ist nicht bekannt, denn neuere Studien sind rar. Zudem variieren die Ergebnisse, je nachdem, was genau als Führungsposition definiert wird und welche gesellschaftlichen Bereiche man untersucht.

Ich betrachte im Folgenden den Anteil gebürtiger Ostdeutscher an den absoluten Top-Jobs auf dem Gebiet der neuen Länder. 

Die jüngste mir hierzu bekannte Studie stammt von Kollegen der Leipziger Universität. Sie haben für die Jahre 2015 und 2016 die Bereiche Politik (Landesregierungen), Unternehmen (Vorstände), Wissenschaft (u. a. Rekto- ren), Medien (Chefredakteure), Justiz (Richter) und Bundeswehr (Generäle) untersucht. Heraus kam: Im Osten (ohne Berlin) betrug der Anteil Ostdeutscher nur 23 Prozent, bei etwa 87 Prozent Bevölkerungsanteil. Zudem stellt die Studie fest, dass es im Vergleich zum Jahr 2004 kaum Veränderung gab. Andere, etwas ältere Studien zeigen darüber hinaus, dass Ostdeutsche noch seltener Top-Positionen bekleiden, wenn man Gesamtdeutschland als Maßstab heranzieht.

Warum gibt es so wenig ostdeutsche Funktionseliten in den neuen Ländern? Eine naheliegende Antwort würde lauten: Diskriminierung, Seilschaft! Westdeutsche gäben Jobs an ihresgleichen weiter, um als Gruppe ihre Pfründe zu sichern. Zwar zeigt die Forschung, dass Führungskräfte (in der Wirtschaft) eher dazu neigen, Personen zu rekrutieren, die ihnen in sozialer Hinsicht ähneln. Ob das auch zutrifft, wenn die Personen Ost-Biografien haben, wissen wir nicht, es scheint aber nicht sehr plausibel zu sein. Die Forschung deutet vielmehr auf Ursachen hin, die wenig mit Diskriminierung, aber viel mit Demografie zu tun haben. 

Alles begann mit der Wiedervereinigung. Weil diese als Ausdehnung des westdeutschen Institutionensystems organisiert wurde, waren in den neuen Ländern Experten gefragt, die sich mit den West-Institutionen auskennen mussten. In der Folge erlebte der Osten binnen kurzer Zeit einen enormen Austausch seiner Führungseliten – eben durch Westdeutsche. Entscheidend ist, dass viele der neuen, damals zugezogenen Eliten auch heute noch auf „dem Posten“ sind, weil sie in den frühen 1990er Jahren, bei Stellenantritt, relativ jung waren. Um den riesigen Bedarf zu decken, bekamen viele Westdeutsche, wenn sie in den Osten gingen, die Chance auf einen Karriereaufstieg, auf den sie im Westen noch viele Jahre hätten warten müssen. Man stelle sich etwa einen 38-jährigen Westdeutschen vor, der in Leipzig im Jahr 1993 Richter am Landgericht oder Universitätsprofessor wurde und später zum Gerichtspräsidenten oder Rektor befördert wurde. Wenn er seine Stelle zwischenzeitlich nicht verlassen hätte, würde er, im Alter von 65, erst 2020 aus dem Dienst ausscheiden. Bis dahin ist seine Stelle für den Nachwuchs blockiert, egal wie qualifiziert dieser auch immer ist. 

Pool an Ost-Führungskräften verkleinert

Verschärfend kommt hinzu, dass nach der Wende weit über eine Million Ostdeutsche Richtung Westen gezogen sind, darunter überwiegend jüngere und gut qualifizierte. Das verkleinert den Pool an zukünftigen Ost-Führungskräften auf dem Gebiet der neuen Länder. Zwar zeigen Berechnungen des Bundesamts für Bevölkerungsforschung, dass der Auswanderungstrend 2017 gestoppt zu sein scheint. Bei den 18- bis 29-Jährigen verliert der Osten aber nach wie vor Potenzial an den Westen.

Schließlich gibt es in den neuen Ländern anteilig weniger Personen, die über eine für Spitzenpositionen notwendige Hochschulbildung verfügen. Das zeigt ein Vergleich der Akademikerquoten der Bundesländer im aktuellen nationalen Bildungsbericht. Dies gilt selbst für jene, die ihren Abschluss erst nach der Wende gemacht haben – offenbar ein spätes Erbe der niedrigen DDR-Akademikerquote und ein weiterer Grund dafür, warum es weniger Ostdeutsche in Führungspositionen gibt.

Etwas anders ist die Lage in der Landespolitik. Hier führt der Wahlmechanismus dazu, dass Spitzenpolitiker öfter ausgetauscht werden. Deshalb sind die Chancen für gebürtige Ostdeutsche größer. Laut Leipziger Studie stellten sie im Jahr 2016 70 Prozent der Ministerposten und Regierungschefs, was fast ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Aber auch bei den Staatssekretären, den zweitwichtigsten Positionen im Politikbetrieb, gibt es Veränderungen. Hier stieg der Anteil der Ostdeutschen von 20 Prozent im Jahr 2004 auf knapp die Hälfte aller Positionen in 2016 an. Vermutlich geht das auf Änderungen bei den oft wechselnden parlamentarischen Staatssekretären zurück, die von Politikern besetzt werden, und nicht auf die verbeamteten Staatssekretäre, die aus dem Berufsbeamtentum rekrutiert werden.

Integrationsprobleme weniger emotional diskutieren

Zusammengenommen scheinen der Transfer von überwiegend jüngeren westdeutschen Eliten nach 1990 und die ungünstige demografische Entwicklung im Osten wichtige strukturelle Ursachen dafür zu sein, warum es bisher nur wenige gebürtige Ostdeutsche auf Spitzenpositionen geschafft haben. Ich formuliere dieses Fazit bewusst vorsichtig. Denn die zugrunde liegenden Prozesse sind komplex. Für Betroffene sind sie zumeist unsichtbar und auch für die Forschung schwer zu identifizieren. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass hochsensible Daten benötigt werden, die oftmals gar nicht oder nur sehr aufwendig erhoben werden können.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Leipzig.


Nota. - Ungerecht wäre das, wenn damals die Bundesrepublik zusammengebrochen wäre und der Westen die politische Strukturen der DDR übernommen hätte. Doch das war gottlob nicht der Fall. Und wenn einer wünscht, es wär so gewesen, soll er's nur sagen. Vielleicht haben sie einen Posten in Nordkorea für ihn, aber die werden dort so knapp sein wie alles andere.
JE

Freitag, 15. Februar 2019

Eine gemeinsame Wurzel der Megalithkultur?

Megalithgrab auf Sardinien
aus scinexx                                                                                                              Dolmen di Sa Coveccada  auf Sardinien

Megalith-Kultur: Von Steinzeit-Seefahrern verbreitet?

Ob Steinkreis, Ganggrab oder Dolmen: Alle Megalith-Bauwerke Europas könnten auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen, wie nun eine Studie enthüllt. Demnach entstand diese von monumentalen Steinanlagen geprägte Kultur vor rund 6.500 Jahren im Nordwesten Frankreichs und breitete sich dann entlang der Meeresküsten Europas aus. Das Spannende daran: Die Übermittler der Kultur waren offenbar Seefahrer – was ein ganz neues Licht auf die maritimen Fähigkeiten unserer Vorfahren wirft.

In der Zeit vor 6.500 bis 4.500 Jahren errichteten die Menschen in Europa charakteristische, monumentale Stein-Heiligtümer und Grabanlagen. Insgesamt 35.000 solcher Megalith-Bauwerke sind heute bekannt, darunter das berühmte Stonehenge, die stehenden Steine im bretonischen Karnak, aber auch viele Dolmen und Ganggräber in Spanien, Skandinavien und im Mittelmeerraum.

 Steinkreis
Steinkreis von Callanish auf den Hebriden

Gleiche Bauten in ganz Europa

Merkwürdig nur: Selbst Megalith-Anlagen an entgegengesetzten Enden Europas ähneln sich auf verblüffende Weise. „Sie haben teilweise sogar identische architektonische Merkmale über ihr gesamtes Verbreitungsgebiet hinweg“, erklärt Bettina Schulz Paulsson von der Universität Göteborg. Zudem gruppieren sich diese Bauten auffallend oft in Küstengebieten: entlang des Atlantiks, aber auch rund ums Mittelmeer.

Wie sind diese Parallelen zu erklären? Könnte die Megalith-Kultur in ganz Europa auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen? Oder kamen Menschen unabhängig voneinander auf die Idee, riesige Steine zurechtzuhauen und in bestimmter Weise aufzustellen? Schon vor rund 100 Jahren hielten einigen Archäologen letzteres für extrem unwahrscheinlich. Stattdessen vermuteten sie, dass eine steinzeitliche Priesterkaste existierte, die umherzog und die Idee der Megalith-Bauten verbreitete.

Ursprung in Nordwest-Frankreich

Das Problem jedoch: Lange war die Datierung der Megalith-Bauten zu ungenau und unvollständig, um dieses Szenario zu bestätigen oder zu entkräften. Auch wo die Ursprungsregion dieser Kultur lag, ließ sich daher nicht feststellen. Inzwischen jedoch sind deutlich mehr Anlagen datiert. Schulz Paulsson hat daher nun 2.410 Datierungen sowie archäologische Daten für Megalith-Bauten in ganz Europa ausgewertet und daraus die Entwicklung und Verbreitung dieser Kultur rekonstruiert.

Das überraschende Ergebnis: Es gibt tatsächlich eine erkennbare zeitliche und räumliche Abfolge der Megalith-Anlagen in Europa. Demnach tauchten erste einfache Megalith-Gräber etwa um 4.700 vor Christus im Nordwesten Frankreichs auf. „Diese Region ist auch die einzige in Europa, in der es prämegalithische Monumentalbauten und Übergangsstrukturen gab“, berichtet die Forscherin. Zu diesen Anlagen gehörten komplexe, bis zu 280 Meter lange Erdgräber. „Diese Gräber könnten die ältesten Monumentalgräber Europas sein“, so Schulz Paulsson.

Megalith-Ausbreitung
Rekonstruktion der drei Haupt-Ausbreitungschübe der Megalith-Kultur (rot, grün, gelb) sowie Phasen der Stagnation (braun). 

Über Atlantik und Mittelmeer in den Rest Europas

Von der Bretagne aus breiteten sich Großsteingräber erst bis an die Küsten Südfrankreichs und der Iberischen Halbinsel aus. Es folgten Gräber in Katalonien, Sardinien und Korsika, aber auch im Norden Italiens. Vor etwa 6.300 Jahren bahnte sich dann ein kultureller Wandel an: Während die Toten zuvor in einfachen Einzelgräbern bestattet wurden, errichtete man nun Ganggräber. „Diese Grabstätten konnten für wiederholte Bestattungen wieder geöffnet werden“, erklärt Schulz Paulsson. „Dies markiert einen radikalen Wandel der Bestattungsriten in Europa.“

Das Interessante daran: Auch dieser neue Trend hatte den Datierungen nach seinen Ursprung in Frankreich und breitete sich dann entlang der Atlantikküste Frankreichs, der Iberischen Halbinsel, Irlands, Englands und Schottlands aus. In der zweiten Hälfte des vierten Jahrtausends vor Christus erreichte die Megalith-Kultur dann auch Skandinavien. „Und auch hier gibt es Belege für eine Verbreitung über das Meer“, sagt die Archäologin. Denn die ältesten bekannten Ganggräber Skandinaviens liegen an der Westküste der schwedischen Inseln Oland und Gotland.

Megalith-Grab in Schweden
Überreste eines Megalith-Grabes im schwedischen Haväng.

Steinzeitliche Seefahrer? 

Nach Ansicht von Schulz Paulsson sprechen diese Ergebnisse dafür, dass die frühen Archäologen zumindest in Teilen richtig lagen: Die Megalith-Kulturen in Europa sind offenbar nicht unabhängig voneinander entstanden, sondern gehen auf einen gemeinsamen Ursprung zurück. „Wir haben klare Indizien für eine Ausbreitung der Megalithe in drei großen Schüben über die Seeroute gefunden“, so die Forscherin.

Das könnte bedeuten, dass die Menschen der Steinzeit bereits überraschend gute Seefahrer waren. „Die maritimen Fähigkeiten, das Wissen und die Technologie dieser Gesellschaften müssen weiter entwickelt gewesen sein als bisher angenommen“, sagt Schulz Paulsson. Sollte sich dies bestätigen, könnten die Anfänge der Seefahrt 2.000 Jahre weiter zurückliegen als gedacht. „Das eröffnet eine neue wissenschaftliche Diskussion über die maritime Mobilität und Organisation der neolithischen Gesellschaften und die Natur ihrer Wechselbeziehungen.“ (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2019; doi: 10.1073/pnas.1813268116)

Quelle: PNAS


Dolmen di Sa Coveccada
aus spektrum.de, 11.02.2019

Eine gemeinsame Wurzel der Megalithkultur?
In der Jungsteinzeit errichteten Menschen überall in Europa viele Jahrhunderte lang imposante Steinkreise und Grabmonumente. Kann man heute noch herausfinden, wo die Megalithmode einst ihren Anfang nahm?

von Jan Osterkamp

Man zählt heute rund 35 000 über ganz Europa verstreute typische Megalith-Bauwerke, also Dolmengräber, Steinkreise oder »Hinkelstein«-Menhire, die meist irgendwann zwischen dem 5. und 3. Jahrtausend vor der Zeitenwende errichtet wurden. Die früher gängige Bezeichnung »Megalithkultur« als Klammer für dieses Phänomen haben Archäologen aber mittlerweile im Wesentlichen zu den Akten gelegt: Von einer zusammenhängenden Kultur mit gemeinsamer Idee oder ideologischer Wurzel könne man angesichts der weit verstreuten, unterschiedlich alten und enorm vielfältigen Steinartefakte kaum sprechen. Wahrscheinlich haben die Europäer der Jungsteinzeit solche am Ende verblüffend ähnlichen Megalithstrukturen immer wieder unabhängig voneinander neu erfunden. Oder vielleicht doch nicht, meint nun die Jungsteinzeitexpertin Bettina Schulz Paulsson von der Universität Göteborg im Fachmagazin »PNAS«: Neue Analysen ergaben auffällige Hinweise auf eine allmähliche Ausbreitung der Megalith-Idee aus einem Ursprungszentrum heraus, die wohl vor 4500 v. Chr. im Nordwesten Europas ihren Anfang nahm.
 
Paulsson hatte sich mit ihrem Team zum Ziel gesetzt, eine umfassende und genauere Zeitreihe möglichst vieler europäischer Megalith-Fundstellen mit Radiokarbonanalysen aufzustellen. Einen ersten ähnlichen Versuch hatte schon in den 1970er Jahren Colin Renfrew unternommen, der Pionier der Kohlenstoffdatierung. Mit deutlich verbesserter Analysetechnik konnte Paulssons Team nun aber viel mehr Fundstücke wesentlich exakter und sicherer datieren: Sie bestimmte so das Alter von 2410 Fundstellen anhand von zum Teil bereits früher untersuchten Proben im Kontext der Megalithbauten und von gleich alten Artefakten benachbarter Kulturen. Am Ende schälte sich dabei ein recht klares Bild heraus, so Paulsson: Offenbar entstanden die frühesten Megalithstrukturen im Nordwesten des heutigen Frankreich im frühen 5. Jahrtausend v. Chr. in nur rund 200 bis 300 Jahren. Als Vorläufer, die bloß hier zu finden sind, bieten sich auffällige prämegalithische Erdwerke an – somit womöglich die eigentlichen Urahnen der vielfältigen späteren Megalitharchitektur.

Haväng-Megalithgrab  
Das Megalithgrab von Haväng in Schweden.

Vom Nordwesten des Kontinents aus verbreitete sich die Megalith-Idee dann allem Anschein nach in einer ersten Welle an den Küsten entlang, interpretiert Paulsson ihre Daten: Man findet im späten 5. und frühen 4. Jahrtausend vor der Zeitenwende Megalithbauten an der Atlantikküste und in küstennahen Regionen der Iberischen Halbinsel und des Mittelmeerraums. Erst noch etwas später boomten Megalith-Bauwerke dann auf den Britischen Inseln und Sardinien, um schließlich im 2. Jahrtausend Mitteleuropa und den skandinavischen Raum zu erreichen. Noch etwas später gab es einen letzten Boom der Megalith-Artefakte in Süditalien, auf kleineren Mittelmeerinseln und in Richtung Levante, bis die großen Megalithbauten dann um den Beginn des ersten vorchristlichen Jahrtausends endgültig in ganz Europa aus der Mode gekommen waren.


Heftcover Spektrum der Wissenschaft Mai 2017
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 Eindeutig sei hier ein Muster von drei Ausbreitungswellen mit Ursprung in Nordwestfrankreich zu erkennen, meint Paulsson – und zwar über mögliche Seerouten. Dies könnte nahelegen, dass die maritime Expertise in der Jungsteinzeit deutlich ausgeprägter war, als man bisher vermutet hat. Vielleicht haben Megalith-Pioniere so ihr Knowhow und religiöse oder gesellschaftliche Vorstellungen in die Ferne getragen. Ganz ähnliche Ideen zur Erklärung archäologischer Gemeinsamkeiten hatten bereits Archäologen im 19. und frühen 20. Jahrhundert vertreten. Dabei hatten sie allerdings angenommen, dass die Megalithkultur vom Nahen Osten aus nach Europa vorgedrungen ist. Einer der differenzierteren Vertreter eines solchen Kultur-Diffusionismus war der berühmte Archäologe Gordon Childe, der seine Beiträge bereits in den 1950er Jahren, vor dem Aufkommen der Karbondatierung, formulierte. Paulsson sieht die älteren Spekulationen mit ihren Daten nun teilweise bestätigt – auch wenn der Megalithismus eher aus Nordwesteuropa in den Mittelmeerraum gelangt sei statt umgekehrt. In jedem Fall sei es angebracht, den europäischen Megalith-Horizont angesichts der neuen Daten und der möglichen maritimen Interaktionen wissenschaftlich noch einmal neu zu diskutieren.