Mittwoch, 6. Februar 2019

Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Boulevards.

Pissarro, Boulevard des Italiens
 aus Badische Zeitung, 6. 2. 2019

Die Geburt der Moderne aus der Operette SACHBUCH: Ethel Matala de Mazza zeigt, wie leichte Kultur Einfluss nahm auf die Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts. 

Von Harald Loch

Endlich ist die Brücke gebaut, die notwendige Verbindung zwischen der um 1830 einsetzenden populären Kultur und der Moderne. Die Berliner Literaturwissenschaftlerin Ethel Matala de Mazza, Professorin an der Humboldt-Universität, räumt in ihrem Großessay "Der populäre Pakt" mit dem Irrtum auf, die Moderne sei ausschließlich aus der "Hochkultur", aus Philosophie und Roman entstanden. Sie hebt die Rolle der "minderen Genres" wie der Operette und der Revue oder der Kleinprosa des Feuilletons hervor – sie waren ebenbürtig an der Geburt der Moderne beteiligt.
 

"Für die vorliegende Studie", schreibt die Autorin, "ist Kracauers Angestellten-Serie Anlass und Ausgangspunkt gewesen." Seine Studie über das Angestellten-Milieu in Berlin hat der Kulturjournalist Siegfried Kracauer 1929 zunächst im Feuilleton der Frankfurter Zeitung, ein Jahr später als Buch veröffentlicht. Er beobachtet darin detailliert die soziale Wirklichkeit und das alltägliche Dasein sowie die soziale Teilhabe an den Genres, die dieser Angestellten-Klasse leichter zugänglich waren als die Hochkultur etwa der Oper.

Der Boulevard wird zum Synonym der neuen Genres

Die neue Schicht der Angestellten war sozusagen einer der Geburtshelfer der Moderne. Matala de Mazza geht zurück in das Paris des 19. Jahrhunderts, aus dem Heinrich Heine für die Augsburger Allgemeine berichtete und in dem Jacques Offenbach sagenhafte Erfolge mit seinen Operetten feierte, die für diese neue Schicht geschrieben waren. Mit ihren Eintrittsgeldern beförderten die Angestellten den Aufstieg dieses unterhaltsamen Musiktheaters. Die petite presse – die kleinformatigen Massenblätter vom Ende des 19. Jahrhunderts mit ihren "feuilletons" – nahm daran Anteil, der "Boulevard" wurde zum Synonym für die neuen Genres, deren demokratische Grundzüge auch im deutschen und österreich-ungarischen Kaiserreich Wirkung zeigten.



Die neue Wissenschaft der Soziologie beschrieb diese neue Schicht, Kracauers Angestellten-Studie, Walter Benjamins Passagenwerk, Max Webers Untersuchungen – die Protagonisten der Moderne nahmen die Veränderungen der Gesellschaft wahr. Den wirklichen Anteil dieser Veränderungen an der Moderne aber konnten sie aus ihrer zu nahen Perspektive noch nicht ausmachen.

Für viele vermutlich überraschend stellt nun Matala de Mazza deutlich sichtbare Verbindungen zwischen Feuilleton oder Boulevard und Ikonen der Hochkultur der Moderne her, zu Baudelaires "Fleurs du mal" oder zu Gustave Flaubert: "Es sind die vaudevillehaften Seiten von Madame Bovary, die ihr ihren Erfolg eingebracht haben", soll der Autor im Beisein der Goncourt-Brüder gesagt haben.

Die minderen Genres reflektieren einerseits die Entwicklungen innerhalb dessen, was seit der Moderne "Gesellschaft" heißt, und beeinflussen andererseits diese Wirklichkeit, indem sie Trends und Moden verstärken und auch wieder abschaffen. Sie formulieren das, was zum Bewusstsein der neu partizipierenden Schichten gehört, sie schärfen den Blick auf die Wirklichkeit und banalisieren diese andererseits konstruktiv.

Ethel Matala de Mazza zitiert wichtige O-Töne und Meinungen, um gegenseitige Einflüsse zu belegen, und macht damit ihre Studie auch zu einem kurzweiligen Lesebuch. Sie meistert den schwierigen Spagat zwischen Wissenschaftlichkeit und Unterhaltung spielend, vermittelt ihre Urteilskraft in einem schönen essayistischen Stil.

Natürlich gelangt sie auch zu Bertolt Brechts "Dreigroschenoper", setzt sich mit den Operetten von Johann Strauß oder Franz Lehárs "Lustiger Witwe" und deren permanentem Verriss durch Karl Kraus auseinander, sieht das ganze Projekt der Moderne jedenfalls in Deutschland im Jahre 1933 an die Wand fahren.

Ganz nebenbei entsteht ein politisches Panorama Frankreichs und Deutschlands über das Jahrhundert nach 1830, das ohne die Moderne nicht denkbar wäre, die wiederum das Ergebnis des gesellschaftlichen Wandels war. Selten sind die Wechselwirkungen von Kultur und Gesellschaft, von Politik und Unterhaltung so zwingend dargestellt worden, wie in diesem sehr interdisziplinär angelegten populären Pakt.


Ethel Matala de Mazza: Der populäre Pakt. Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 480 Seiten, 25 Euro.

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