Samstag, 28. Februar 2015

Die Erbschaft der Amazonas-Zivilisationen.

Terra preta unter einer brasilianischen Plantage.aus nzz.ch, 19. 2. 2015, 18.2.2015, 05:33 Uhr                                                               schwarze Erde

Das schwarze Erbe
Die dunklen Erden Südamerikas geben langsam ihre Geheimnisse preis

von Kurt de Swaaf

«Terra preta» zeugt von der Existenz längst verschwundener Kulturen im südamerikanischen Dschungel. Die dunklen Erden könnten der Schlüssel zu einer nachhaltigeren tropischen Landwirtschaft sein.

Bis heute ist nur wenig über die untergegangenen Kulturen des Amazonasbeckens bekannt. Sie hinterliessen keine monumentalen Paläste oder Tempel. Stein ist in diesen Gefilden Mangelware, man baute mit Holz und anderen vergänglichen Materialien. Die wichtigsten Zeugnisse früherer Siedlungsstrukturen sind kaum als solche zu erkennen. Dennoch erstrecken sie sich teilweise über weit mehr als 100 Hektaren, und Bäume schlagen ihre Wurzeln in ihnen: die dunklen Erden Amazoniens. Deren Geheimnisse werden erst langsam gelüftet. Doch immer mehr Forscher befassen sich mit dem seltsamen Erdreich. Denn in seiner Zusammensetzung, so heisst es, liegt womöglich der Schüssel zu einer nachhaltigeren tropischen Landwirtschaft. Sogar der Klimaschutz könnte profitieren.


Das bisher unbekannte Volk lebte in dem dichten Urwald der Region des oberen Purú-Fluss

Erstaunlich fruchtbar

Südamerikanische Dschungelböden mit ihrem oft hohen Eisengehalt gelten als eher unfruchtbar. Sie sind stark verwittert, der Regen hat die meisten Nährstoffe fortgespült. Organisches aus dem Wald wird nach seiner Zersetzung von der Vegetation schnell wieder aufgenommen. Aber es gibt eben Ausnahmen. Einige Areale sind von jenem auffälligen, besonders fruchtbaren Bodentyp bedeckt. Die heutigen Siedler nennen ihn «Terra preta», «schwarze Erde». Man kennt auch eine etwas hellere, braune Variante, die «Terra mulata». Fachleute fassen beide unter der englischen Abkürzung ADE (Amazonian Dark Earths) zusammen.



Die Existenz der ADE und ihr weiträumiges Vorkommen – laut manchen Hochrechnungen könnten mehr als zehn Prozent der Oberfläche Amazoniens von dunklen Erden bedeckt sein – hat die herkömmliche Wahrnehmung der Region infrage gestellt. Die Böden seien das Ergebnis einer langen Besiedlung mit einer hohen Bevölkerungsdichte, sagt Anthropologe William Balée von der Tulane University in New Orleans. Insgesamt könnte das Amazonasbecken vor der europäischen Invasion fünf bis zehn Millionen Menschen beherbergt haben. Sie scheinen vornehmlich in Flussnähe gelebt zu haben, was ihnen eine gute Versorgung mit tierischem Eiweiss in Form von Fisch garantierte. Die Basis der Ernährung bildeten aber Feldfrüchte wie Maniok, Mais und Süsskartoffeln. Nur eine recht intensive Form von Landwirtschaft wäre in der Lage gewesen, die erforderlichen Mengen zu produzieren. Das Bild eines unberührten Urwaldes ist somit zumindest in grossen Teilen des Amazonasbeckens passé. Auch wenn die früheren Siedlungen und Felder längst wieder überwuchert sind.



Knochenmaterial von Fischen

Ihre Farben erhalten die dunklen Böden durch organisches Material. Terra preta könne bei einer Schichtdicke von einem Meter bis zu 500 Tonnen Kohlenstoff pro Hektare enthalten, berichtet der Biologe Thom Kuyper von der niederländischen Universität Wageningen. Die dauerhafte Bindung verhindert, dass diese Mengen in Form von CO2 in die Atmosphäre entweichen und so den Treibhauseffekt verstärken. Der festgelegte Kohlenstoffanteil besteht allerdings nicht aus Torf oder Humus, sondern aus verkohlter Biomasse. Offensichtlich hat Feuer bei der Bildung der Terra preta eine entscheidende Rolle gespielt. Die Bodenqualität wurde dadurch stark verbessert. Abgesehen davon enthält die schwarze Erde viel Knochenmaterial, hauptsächlich von Fischen. «Das ist eine Quelle für Phosphate und Calcium», sagt Kuyper.



Der Wissenschafter erforscht die dunklen Erden bereits seit Jahren und leitet eine internationale Arbeitsgruppe zu dem Thema. Die Experten untersuchen Herkunft und Zusammensetzung der ADE, und sie erörtern deren zukünftiges Nutzungspotenzial. Inzwischen herrscht Konsens darüber, dass die dunklen Böden das Produkt menschlichen Wirkens sind. «Die meisten entstanden zwischen 700 und 1000 nach Christus», erklärt Kuypers Doktorand André Braga Junquiera. Manche seien jedoch viel älter. Sie datieren weit vor Beginn unserer Zeitrechnung. Ihre dauerhafte Fruchtbarkeit inspiriert die Experten, in Wageningen und anderswo. Sie wollen die Herstellung von Terra preta kopieren – zum Nutzen der Landwirtschaft. Manche hoffen, damit auch das Klima entlasten zu können. Thom Kuyper bezweifelt aber, dass beides gleichzeitig möglich ist. Je fester der Kohlenstoff im Boden gebunden sei, desto weniger nutze er den Pflanzen.

Die Beständigkeit der ADE gegen Umwelteinflüsse ist wohl einem komplexen Zusammenspiel ihrer Bestandteile zu verdanken. Die Kohlenstoffkomponente, der sogenannte Biochar, tritt dabei mit Mineralien aus den Knochenresten und der ursprünglichen Bodenkrume in Wechselwirkung. Phosphorverbindungen begünstigen die Zerkleinerung eisenhaltiger Partikel. Deren Gesamtoberfläche, erläutert Kuyper, nehme dadurch zu, wodurch sie mehr organisches Material binden könnten. «Ohne den Zusatz von Phosphaten wäre es wahrscheinlich nicht möglich, so viel Kohlenstoff langfristig zu fixieren.»



Antiker Abfall

Inwiefern die Amazonasureinwohner solche Prozesse bewusst anstiessen, ist unklar. Viele Forscher betrachten die Terra preta schlicht als antiken Abfall. Der Hintergrund: Die schwarzen Böden sind oft mit zahlreichen Keramikscherben durchsetzt. Hätte man die nährstoffreiche Erde eigens zu landwirtschaftlichen Zwecken produziert, wären solche Zugaben kaum sinnvoll gewesen. Terra preta könnte demnach durch das jahrhundertelange Ablagern von Müll entstanden sein, der zum Teil verbrannt wurde. Vermutlich wurden auch Fäkalien hinzugekippt. Terra mulata dagegen ist in der Regel scherbenfrei. Deshalb sei dieser Typus eher das Ergebnis gezielter Bodenverbesserungsmassnahmen, meinen die Wissenschafter.

Live dabei

Antoinette WinklerPrins, Geografin an der John Hopkins University in Boston, sieht die scharfe Trennung zwischen beiden Erdsorten mit Skepsis. «Die Menschen taten Dinge wahrscheinlich bewusst wie auch per Zufall, zur gleichen Zeit und am gleichen Ort», sagt sie. Man könnte halb verbrannten oder kompostierten organischen Abfall als Düngemittel eingesetzt und ehemalige Müllplätze in Äcker umgewandelt haben. In der Nähe von Häusern hätten solche Deponien gute Gärten gegeben, meint auch Kuyper. «Die Pflanzen gedeihen darauf deutlich besser.» Ein Vorteil, den sich auch heutige Bewohner der Region zunutze machen.



Eine Kollegin von WinklerPrins, Susanna Hecht, hat den Entstehungsprozess von neuen ADE möglicherweise direkt beobachtet. Die Expertin lehrt an der University of California in Los Angeles, hat aber in vielen Amazonasregionen Feldforschung betrieben. Beim indigenen Stamm der Kayapó, im Einzugsgebiet des Rio Xingú, stiess sie auf eine interessante Praxis. Die Menschen setzen bei der Bewirtschaftung ihrer Felder regelmässig «kalte Feuer» ein. Unkraut, Buschwerk und die Reste abgeernteter Nutzpflanzen werden in langsam vor sich hin glühenden Haufen direkt vor Ort verbrannt. Dabei entsteht reichlich Holzkohle. Später bringt man auch Asche von den Kochplätzen und Mulch aus. Ein ausgeklügeltes System der Bodenpflege. Überaus ertragreiche Anbauflächen sind das Ergebnis.



«Die Kayapó nutzen natürliche Vorgänge, um die Landschaft zu gestalten», sagt Hecht. Das mikrobielle Leben im Erdreich werde durch die Bearbeitung komplett verändert. Eine kürzlich in der Online-Fachzeitschrift «Plos One» erschienene Studie brasilianischer Forscher hat die besondere Vielfalt an Bakterien in ADE aufgezeigt. Laut den genetischen Analysen der Wissenschafter sind viele der Mikroorganismen der Terra preta physiologisch auf die Verwertung von Kohlenwasserstoffen eingestellt. Sie dürften im Nährstoffhaushalt der dunklen Böden eine wichtige Rolle spielen, unter anderem durch das Umsetzen von komplexen organischen Molekülen in für Pflanzen verwertbare Bestandteile. Im Untergrund benachbarter, nicht angereicherter Flächen kommen solche Bakterienstämme nur in geringer Zahl vor.

Veränderte Waldstruktur

Der ehemalige menschliche Einfluss zeige sich im Amazonasbecken indes nicht nur durch das Vorhandensein von ADE, erklärt Braga Junquiera. Auch der Wald selbst sei mancherorts davon geprägt. Man findet dann vermehrt Palmen der Art Elaies oleifera, deren Früchte zur Ölgewinnung genutzt werden, sowie Obstbäume und andere nützliche Gehölze. Höchstwahrscheinlich haben die Ureinwohner sie vor langer Zeit gezielt angesiedelt.

Die heutigen Amazonier profitieren noch immer davon. Sie mögen ihre Kohlenhydrate hauptsächlich aus Landwirtschaftsprodukten beziehen, so Braga Junquiera, «aber die Vitamine kommen aus dem Wald». Dasselbe gilt für Paranüsse. Die Bäume, an denen sie reifen, gedeihen ebenfalls in uralten mutmasslichen Pflanzungen. Das Sammeln der Nüsse ist für viele Familien die Haupteinnahmequelle. Eine klug bewirtschaftete Tropenwaldlandschaft kann offenbar zahlreiche Menschen ernähren, bei gleichzeitigem Erhalt ihrer Biodiversität. Ein Modell für die Zukunft.


Alle Luftbilder aus Spiegel online



Freitag, 27. Februar 2015

Export der neolithischen Revolution.

aus Der Standard, Wien, 27. 2. 2015

Spuren steinzeitlichen Weizenhandels
In Großbritannien wurden Jäger und Sammler erst vor 6.000 Jahren zu Bauern. Neue Funde zeigen aber, dass Weizen schon länger bekannt war

von Thomas Bergmayr

Coventry/Wien - Die Neolithische Revolution kennzeichnet eine der einschneidensten Umwälzungen aller Zeiten. Während der Mensch in der Alt- und Mittelsteinzeit seine Nahrung erjagen und in der Wildnis zusammentragen musste, begann er vor rund 11.500 Jahren im Südosten Anatoliens damit, sein tägliches Mahl selbst herzustellen, hauptsächlich in Form von Getreideanbau. Wenig später kam auch die Viehwirtschaft dazu. Die Entwicklung dürfte sich verhältnismäßig schnell vollzogen haben. Archäologische Funde belegten, dass die die Bewohner des fruchtbaren Halbmonds keine 1.000 Jahre später bereits eine ganze Reihe unterschiedlicher Feldfrüchte kultivierten.

Man sollte annehmen, dass sich diese Neuerungen ebenso schnell weiterverbreitet hatten - doch dem war nicht so. Im Gegenteil: Die landwirtschaftlichen Fertigkeiten wanderten mit geradezu quälender Langsamkeit in Richtung Europa. Auf dem Balkan kam der Feldbau vor 8.000 Jahren an. Entlang der Flüsse gelangte die Landwirtschaft ins zentrale Europa. Die frühesten diesbezüglichen Funde sind rund 7.500 Jahre alt. Weitere 1.500 Jahre gingen schließlich ins Land, ehe die Bewohner der britischen Inseln den Getreideanbau meisterten.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Urbevölkerung der Weizen bis dahin völlig fremd war. Wissenschafter präsentierten in der aktuellen Ausgabe des Fachjournals "Science" Hinweise darauf, dass die Bewohner der britischen Inseln das Getreide bereits rund 2.000 Jahre vor dem dortigen Weizenanbau gekannt haben dürften.

Die Gruppe um Robin Allaby von der University of Warwick entdeckten in Bouldnor Cliff vor der Insel Isle of Wight eine große Menge an Erbmaterial von Weizen, der jenem aus dem Nahen Osten entspricht, allerdings keine Pollen oder andere Hinweise auf Getreidekultivierung. Die Spuren fanden sich in den heute vom Meer bedeckten Überresten einer 8000 Jahre alten Siedlung, die durch eine Torfschicht vor den zerstörerischen Einflüssen des Meeres über die Jahrtausende konserviert worden waren.

Import-Weizen

Für Allaby lässt dies nur einen Schluss zu: "Wir nehmen an, dass dieser Weizen eher vom europäischen Festland importiert als an Ort und Stelle angebaut wurde." Dies wiederum bedeutet für die Forscher, dass es zwischen Europa und dem bereits Landwirtschaft betreibenden Nahen Osten ein intensiv genutztes Handelsnetzwerk gegeben haben muss. Indirekt wurden damit sogar die Jäger und Sammler auf den Britischen Inseln Nutznießer der Neolithischen Revolution, lange bevor sie diese selbst erlebten.  

Science: "Sedimentary DNA from a submerged site reveals wheat in the British Isles 8000 years ago"



Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Donnerstag, 26. Februar 2015

Keynes als Spekulant.


aus Der Standard, Wien, 23. Februar 2015 

Keynes wird als Investor neu entdeckt
Als Volkswirt ist John Maynard Keynes weltbekannt. Von seiner anderen Seite, der des Investors, weiß man weniger

von Johanna Ruzicka

Die Entwicklung, die John Maynard Keynes als Börsenspekulant und Investor nahm, ist aus mehreren Gründen interessant.

Erstens änderte er im Laufe seines Lebens die Art und Weise, wie er spekulierte, grundlegend. Zweitens war es - in der Zeit von Großer Depression, Börsenkrach und Zweitem Weltkrieg - wahrlich nicht einfach, ein stabiles Portfolio oder gar Finanzvermögen aufzubauen. Keynes, der dreimal fast bankrottging, sah beispielsweise den Börsenkrach von 1929 in keinster Weise voraus. Doch hatte er die Gabe, nach einem Verlust sich - bildlich gesprochen - wieder aufzurichten und neu weiterzumachen. Außerdem halfen ihm sein Vater oder wohlwollende Freunde aus der Patsche, wenn es darum ging, Schulden abzudecken und mit einem neuen Grundstock weiter zu spekulieren. Als er 1946 im Alter von 63 starb, war er jedenfalls hoch vermögend.

In den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts setzte er auf Devisenspekulation. Keynes dachte, er habe "überlegenes Wissen" - aufgrund seiner Publikationen und Vortragstätigkeit und vor allem wegen seiner Beschäftigung mit den Reparationszahlungen, die Deutschland leisten musste. Zunächst ging das auch gut, Keynes hatte enorme Gewinne, im April 1920 jedoch wendete sich das Blatt, und seine Gewinne waren mit einem Schlag ausradiert.

Rohstoffspekulation

Er begann, sich auf das mindestens ebenso schwierige Terrain der Rohstoffspekulation zu verlegen - Metalle, Baumwolle, Getreide. Dem Engagement lag die durchaus richtige Überlegung zugrunde, dass Europa nach dem Ersten Weltkrieg Güter für den Wiederaufbau benötigte. Und während er lautstark eine Regulierung der Rohstoffmärkte forderte, versuchte er die extremen Preisschwankungen für sich auszunutzen. Dies ging recht lange gut, aber halt nicht ewig - beim Börsencrash von 1929 verlor er rund 80 Prozent seines Vermögens.

Erst danach wurde Keynes zu der Art von Investor, als der er heute oft als Vorläufer von Benjamin Graham und Warren Buffett genannt wird. Die Unternehmen, in die er investierte, suchte er sorgfältig aus, und er hielt die Aktien lange und auch durch widrige Zeiten. So setzte er gerne auf (amerikanische) Versorger wie Eisenbahnunternehmen oder Energiebereitsteller. Der britische Motorenhersteller Austin begleitete ihn fast ein ganzes Investorenleben.

Auch in Unternehmen, die Dividenden zahlten und dies wahrscheinlich in der Zukunft tun würden, stieg er gezielt ein. Bei den von ihm geschätzten Versorgerwerten ging er davon aus, dass sie kontinuierlich Ausschüttungen betreiben würden, da sie aufgrund ihres langfristigen Geschäftsmodells und ihrer hohen Infrastrukturinvestitionen an einer stabilen Eigentümerschaft interessiert sein würden.

Langfriststrategie

Bei Aktien, von denen er überzeugt war, kaufte er immer wieder Positionen nach. Er wurde vom kurzfristigen Trader und Spekulanten zum langfristig orientierten Anleger. Bei jedem Kauf achtete er darauf, dass die Werte politische und wirtschaftliche Turbulenzen möglichst unbeschadet überstehen würden. Viele der Einsichten Keynes' zu Investment sind zeitlos.

Diese Art von Kauf- und Halte-Politik betrieb er nicht nur bei seinem Privatvermögen, sondern auch bei einigen Fonds, die er managte. Vor allem das Stiftungsvermögen des King's College der Universität Cambridge, wo er von 1920 bis zu seinem Tod als Dozent lehrte. Als Schatzkanzler des College gelang es ihm, das Vermögen langfristig zu vermehren.

Das Management von King's-College-Fonds und Privatvermögen waren fast ident. Aktien, für die sich Keynes entschied, waren in beiden Portfolios zu finden. Dass das Institut bis heute zu den wohlhabenderen Bildungseinrichtungen Großbritanniens zählt, ist Keynes zu verdanken.

Notlagen aussitzen

Das langfristige Halten von Aktienwerten war nicht immer eine einfache Sache, beschreibt John Wasik in seinem Buch über den Börsenprofi. Als in den 30er-Jahren der King's-Fonds in eine Notlage geriet, drängte der Institutsvorstand zum Verkauf. Keynes weigerte sich. Er schrieb zurück: "Ich glaube, es gibt Zeiten, in denen man bei der Stange bleiben muss und keine Einschnitte versuchen darf." Er hatte aus schmerzlichen Erfahrungen den Schluss gezogen, dass man Tiefstände bei Aktien aussitzen muss - vorausgesetzt, man glaubt an den Wert. Keynes wurde also zum "Bottom-up-Stockpicker". Er sah Tiefstände als eine Möglichkeit, billig bei seinen Lieblingsaktien aufzustocken.

Eine Art Formel, welche Aktien sich der Value Investor Keynes herauspickt, wird man in dem Buch vergeblich suchen. Vielmehr ist es ein inspirierendes Buch, das die Parallelwelten des Ökonomen und des Investors nebeneinanderstellt. Für seine Arroganz und sein intellektuell überlegenes Gebaren berühmt, war er als Investor fast genauso bahnbrechend wie als Volkswirt: Beim Management des King's-Portfolios ging er mit der Ausgewogenheit, die er anstrebte, neue Wege.

Schwankung des Augenblicks

Je älter er wurde, desto mehr versuchte er, die "Schwankungen des Augenblicks", wie er sie nannte, zu ignorieren. Er schrieb: "Es gibt nur wenige Investoren, die den Versuch, Kapitalerträge frühzeitig einzustreichen, mehr scheuen als ich."

Keynes verwaltete auch die Finanzen des King's College in London. Dass diese Institution heute noch immer zu den wohlhabendsten Bildungseinrichtungen Großbritanniens zählt, ist Keynes zu verdanken.

John F. Wasik, "Börsenerfolg mit der Keynes-Methode". Börsenbuch-Verlag, Euro 24,99

Mittwoch, 25. Februar 2015

Vermessung des Glücks.

Dass sich die Statistiker internationaler Organisationen und staatlicher Ämter an die Vermessung des Glücks machen, hat wohl auch mit einer Verschiebung des Politikverständnisses zu tun. aus nzz.ch, 25.2.2015, 05:30 Uhr

Messen von Wohlfahrt
Wenn Statistiker zu Philosophen werden

von Jürg Müller 

«All die guten Dinge, die nicht gemessen werden können» , so lautet der Titel eines kurzen Video-Interviews mit Janis Varoufakis, dem gegenwärtigen Finanzminister Griechenlands. In dem vor knapp zwei Jahren aufgenommenen Gespräch geht der griechische Ökonom auf die Problematik ein, dass das Bruttoinlandprodukt (BIP) nur eine beschränkte Aussagekraft hat. Die Kritik am BIP ist nicht neu. In den letzten Jahren wurde allerdings vermehrt auf sie eingegangen – Statistiker begannen neue Daten zu erheben.

Indikatoren des guten Lebens

Anlässlich des 50. Geburtstags der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wurde 2011 die Initiative «Better Life» lanciert. Dabei sollten neue Indikatoren entwickelt und erhoben werden, welche die Lebensqualität umfassend wiedergeben . Das Ziel ist, gegenwärtige und zukünftige Wohlfahrt zu messen. Auch die Forscher des Bundesamts für Statistik (BfS) haben unlängst ihr «Indikatorensystem Wohlfahrtsmessung» vorgestellt, das ein ähnliches Ziel für die Schweiz verfolgt.


Da die Statistiker Wohlfahrt als ein multidimensionales Konzept auffassen, muss zwischen einer Vielzahl von Indikatoren unterschieden werden. Gewisse Variablen wie die Lebenserwartung können der Politik konkrete Handlungsanweisungen geben. Auch weisen Indikatoren – beispielsweise zur Luftqualität – auf mögliche externe Effekte des Wirtschaftens hin. Sobald es um konkrete Aussagen zum Wohlbefinden der Bevölkerung geht, ist aber sowohl bei objektiven als auch bei subjektiven Werten Vorsicht geboten.

Zum einen ergeben sich bei subjektiven Variablen wie der persönlichen Lebenszufriedenheit methodische Probleme. Aber auch objektive Variablen sind in ihrer Aussagekraft zur Wohlfahrt beschränkt. Als Beispiel kann die Dauer der Ausbildung ins Feld geführt werden. Auch wenn diese Statistik für gewisse Fragestellungen durchaus interessant ist, ist es schwierig, daraus Folgerungen für die Wirtschaftspolitik abzuleiten oder Aussagen zur Wohlfahrt zu gewinnen. Sowohl über den ökonomischen Nutzen einer Ausbildung als auch über den persönlichen Genuss eines Studiums kann die Ausbildungsdauer wenig aussagen.

Bei aller Kritik an der Messung der Wohlfahrt steht ausser Frage, dass auch das Konzept des BIP mit Mängeln behaftet ist. Es ist wichtig, dass man sich der Grenzen dieses Wirtschaftsindikators bewusst ist. Allerdings ist das BIP nur ein kleiner Teil der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) . Wenn man diese international standardisierte Zusammenstellung verschiedener Statistiken in Betracht zieht, wird beispielsweise die Problematik der externen Effekte wie auch jene der Veränderung von Kapitalbeständen entschärft. Zusammen mit Zahlen zur Verteilung ergibt sich mit der VGR bereits ein differenziertes Bild der Wirtschaft.

Natürlich hat die OECD recht, wenn sie auf ihrer Website schreibt: «Im Leben geht es um mehr als nackte Zahlen wie das BIP und andere Wirtschaftsdaten.»Auch wenn Qualitäten des persönlichen Netzwerks keine Wirtschaftsdaten im klassischen Sinne sind, so sind sie doch auch nur nackte Zahlen. Interessanterweise gilt gerade Varoufakis' Kritik am BIP noch stärker für die Messung der Wohlfahrt: Dinge, die nicht gemessen werden können, können eben nicht gemessen werden.

Politisierung des Glücks

Das Glück ist zur Hauptsache eine persönliche Angelegenheit. Für eine Leseratte bedeutet Glück etwas anderes als für einen Sportler. Damit macht sich aber jeder Versuch, Glück zu messen, einer gewissen Willkür schuldig. Soll die Anzahl Bibliotheken registriert werden oder die Anzahl Sportanlässe? Wenn Statistiker eine Variable instrumentalisieren, ist das eine methodische Entscheidung. Wenn aber die Variable Glück instrumentalisiert wird, um damit der Politik ein sogenannt umfassenderes Bild der Wirtschaft zu geben, ist das nicht ohne Gefahr. Denn mit der Auswahl der Variablen entscheiden die Statistiker, was überhaupt für die Messung des Glücks infrage kommt.

Dass sich die Statistiker internationaler Organisationen und staatlicher Ämter an die Vermessung des Glücks machen, hat wohl auch mit einer Verschiebung des Politikverständnisses zu tun. Traditionell galt es, staatliche Machtansprüche und Willkür so gut wie möglich zurückzubinden. Der Staat hatte dafür zu sorgen, dass jeder seines Glückes Schmied werden konnte. In jüngster Zeit wird vom Staat aber vermehrt gefordert, das Glück doch gleich selber mit zu schmieden. Dies mag auf den ersten Blick bequem erscheinen, doch der Preis von weniger Freiheit und staatlicher Willkür ist hoch.

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, das Messen von Wohlfahrt nicht zu verklären. Wohl warten die alternativen Indikatoren – aber auch das BIP – mit interessanten Erkenntnissen auf. Doch solche neuen Einsichten in gewisse Lebensbereiche sollten nicht über die Gefahr politischer Instrumentalisierung von Glück hinwegtäuschen.



Dienstag, 24. Februar 2015

Die Pest kam aus Mittelasien - immer wieder.

aus scinexx

Der Schwarze Tod kam aus Asien - mehrfach
Klimaschwankungen brachten Pesterreger immer wieder nach Europa

Tödliche Fernwirkung: Das Klima in Asien war schuld an den immer wiederkehrenden Pest-Epidemien in Europa. Immer dann, wenn dort die Nagetiere – und ihre Flöhe - dank günstigem Klima florierten, kam es 15 Jahre später in Europa zu einem Pestausbruch. Kamelkarawanen dienten dem Pesterreger dabei als "Taxi", um die gut 4.000 Kilometer nach Westen zu überwinden, wie Forscher im Fachmagazin "Proceedings of the National Academy of Sciences" berichten.

Die Pest war über Jahrhunderte als der Schwarze Tod in Europa gefürchtet. Immer wieder lösten Ratten und ihre Flöhe als Überträger neue Epidemien aus. Der Erreger, das Bakterium Yersinia pestis stammt ursprünglich aus Asien, über die Seidenstraße gelangte es im frühen 14. Jahrhundert nach Europa. Dort etablierte er sich dauerhaft in den hiesigen Rattenpopulationen - so dachte man jedenfalls bisher.

Freispruch für Europas Ratten

Boris Schmid von der Universität Oslo und seine Kollegen machten sich deshalb auf die Suche nach den Auslösern der alten Pest-Epidemien. Sie analysierten dafür Daten von mehr als 7.700 historischen Pestausbrüchen und glichen sie mit Klimadaten aus Baumringen aus dieser Zeit ab. Ihre Hypothese: Immer dann, wenn ein günstiges Klima herrschte und sich die Nagetiere erst massenhaft vermehrten, dann aber ihre Population zusammenbrach, folgte ein Pestausbruch. Denn die Rattenflöhe gingen dann aus Mangel an Wirten vermehrt auf den Menschen über.

Doch zu ihrer Überraschung fanden sie keinerlei Zusammenhang mit dem europäischen Klima oder den hiesigen Rattenpopulationen. "Wir haben keinerlei Beleg dafür gefunden, dass es im mittelalterlichen Europa ein Pestreservoir in heimischen Wildtieren gab", konstatieren Schmid und seine Kollegen. Hinzu kommt, dass die Ausbrüche oft in heißen Sommern oder sehr kalten Herbstzeiten begannen – Klimabedingungen, unter denen Rattenflöhe nicht gut gedeihen und daher auch nicht sehr beißfreudig gewesen sein können.
Transport der Pesterreger von Zentralasien nach Europa

Pestherd im Karakorum-Gebiet

Stattdessen entdeckten die Forscher eine überraschende Korrelation mit dem Klima im fernen Asien: Wenn im Karakorum das Klima zunächst besonders günstig war, dann aber schlechter wurde, begann rund 15 Jahre später ein neuer Pestausbruch in Europa. Die ersten europäischen Fälle traten dabei auffallenderweise meist in Hafenstädten auf – den Orten, die am stärksten mit Handelsreisenden aus Asien in Kontakt kamen.

Der Pesterreger legte diese Reise allerdings ohne seinen Hauptwirt, die asiatischen Nagetiere zurück: "Wenn das Klima schlecht wird, begünstigt es den Zusammenbruch pestinfizierter Nagetier-Populationen", erklären die Forscher. Die Flöhe müssen sich dann alternative Wirte suchen – und sorgen so für eine Ausbreitung der Pest über das Verbreitungsgebiet der Nagetiere hinaus. 

Kamele als Transportmittel

Wie aber legte der Pesterreger den mehr als 4.000 Kilometer langen Weg von Zentralasien bis nach Europa zurück? Auch das haben die Forscher untersucht. Ihr Ergebnis: Kamele dienten den Bakterien als "Taxi". "Kamele werden relativ leicht durch Flohbisse infiziert und können dann die Krankheit auch auf Menschen übertragen", erklären Schmid und seine Kollegen. Vermutlich dauerte es rund zehn bis zwölf Jahre, bis die Erreger über Kamelkarawanen aus dem fernen Asien bis an die Mittelmeerküsten gelangten. Von dort aus reisten sie mit Schiffsratten oder infizierten Menschen weiter nach Europa.

"Das wirft ein neues Licht auf die Ausbreitung von Yersinia pestis in Eurasien – von nur einer einzigen Einschleppung nach Europa vor der ersten großen Epidemie hin zu klimabedingten Wellen immer neuer Stämme, die aus Nagetierpopulationen im fernen Asien kamen", konstatieren die Forscher. Europäische Ratten spielten demnach in den Zeiten zwischen den großen Ausbrüchen wahrscheinlich nur eine untergeordnete Rolle als Erregerwirt. (Proceedings of the National Academy of Sciences., 2015; doi: 10.1073/pnas.1412887112)

Abstract
PNAS: "Climate-driven introductions of the Black Death and successive plague reintroductions into Europe"
(PNAS, 24.02.2015 - NPO)

Montag, 23. Februar 2015

Europäische Unternehmen in China sind skeptisch.

Shanghai's iconic TV tower turns blue to mark World Diabetes Day
Shanghai

Handelskammer skeptisch über Chinas Zukunft

Henrik Ankenbrand berichtete am 11. d. M. in der FAZ:

"Als Stefan Sack, Vorstandsvorsitzender der Europäischen Handelskammer in Chinas Wirtschaftsmetropole Schanghai, jüngst die Mitgliedsunternehmen befragen wollte, wie sie die Lage der Internetfreiheit in China und die möglichen Folgen für das eigene Geschäft einschätzen, gab es ein Problem. Viele der Adressaten erhielten den per Email verschickten Fragebogen nicht oder konnten ihn nicht zurückschicken. Grund ist, dass die chinesische Regierung zu Jahresbeginn jene Tunneldienste teilweise hat ganz abschalten, teilweise auf Schneckentempo verlangsamen lassen, mit denen bislang die vielen Schranken in Chinas bis in den letzten Winkel zensierten Internets umgangen werden konnten...

'Moderat skeptisch' sei er hinsichtlich der Entwicklung in der nach Kaufkraft bereits heute größten Volkswirtschaft der Welt, sagte Unternehmensvertreter Sack bei einer Vorstellung eines Positionspapiers am Mittwochvormittag in Schanghai: 'Wir haben den Eindruck, in China beginnen die Reformen, wenn überhaupt, erst im Jahr 2017.' Erst dann werde Chinas vor gut zwei Jahren ins Amt gelangte Präsident Xi Jinping seine Machtbasis konsolidiert haben." 

Die Internetzensur habe seit Xis Machtantritt rapide zugenommen, wodurch die Kommunikation verlangsamt und  verteuert würde. 

"Die Willkür der chinesischen Behörden ist es, die den Gewerbetreibenden nach eigener Einschätzung am meisten zu schaffen macht. Dazu gehört etwa die zumindest gefühlte Ungleichbehandlung ausländischer und chinesischer Unternehmen, zum Beispiel bei der Strafverfolgung durch Kartellbehörden. Auch  Protektionismus, Korruption und der Zwang, in vielen Branchen mit einem chinesischen Unternehmen zusammengehen zu müssen, sind weiter erhebliche Marktzugangsbarrieren. In diesen sogenannten Joint Ventures verbringen die deutschen Manager etwa in der Autoindustrie die Tage mit Streit mit ihren chinesischen Gegenübern um Kompetenzen und die strategische Ausrichtung."

Auch die neue Shanghaier Freuhandelszone habe die Erwartungen nicht erfüllt: "Die Zone war als Experimentierfeld geplant, in dem westliche und chinesische Unternehmen mehr dürfen als andernorts in China. Ginge das Experiment gut, hätte laut der ursprünglichen Idee die Praxis in der Zone auf das ganze Land ausgedehnt werden sollen. Doch noch immer ist die Liste der  Geschäfte, die auch in der Schanghaier Zone weiter verboten sind, lang – weit länger als noch vor zwei Jahren erhofft... Und weil das Experiment zunächst auf drei Jahre begrenzt ist und sich bisher nicht ein einziger chinesischer Politiker zu einer Verlängerung offiziell geäußert hat, weiß niemand, ob die Zone nach Ablauf der Drei-Jahresfrist überhaupt noch weiter bestehen wird."

Zur Zeit herrsche in den europäischen Unternehmen eine große Ungewißheit über die Zukunft. „Wenn jetzt die nächste Reformwelle angestoßen wird, kann China die nächste Wachstumsstufe erreichen. Allerdings muss China dies dann auch jetzt tun.“





Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Samstag, 21. Februar 2015

China und die Welt.

aus nzz.ch, 21.2.2015, 10:00 Uhr

China und die internationale Ordnung
Der chinesische Traum und die Welt von morgen 
China ist unter Xi Jinping nach Jahren der wirtschaftlichen Reformen auch mitten in einem politischen Erneuerungsprozess. Dieser entspricht nicht den westlichen Hoffnungen von politischer Öffnung. Er wird aber Chinas Verhältnis zur Welt prägen.

von Markus Ackeret, Peking 

Im Winter vor zwei Jahren tauchten an Pekinger Plakatwänden fein gezeichnete Figuren auf, mit roten Bäckchen und bunter Kleidung. Die schlichten Bilder auf weissem Grund handelten vom Glück und von einem neuen Traum, dem «chinesischen Traum». Das war eine ganz andere Bildsprache als die breiten roten Spruchbänder, die mit wechselnden Propaganda-Floskeln die Bevölkerung allerorts belehren. Bald darauf fehlte der «chinesische Traum» in keiner Antwort oder Rede eines Funktionärs mehr. Eine neue Metapher prägte sich ein, die sich von den drögen ideologischen Konstrukten vergangener Jahrzehnte abhob. Xi Jinping, im November 2012 als Generalsekretär der Kommunistischen Partei (KP) Chinas ins Amt gekommen, verlor keine Zeit, um China und der Welt klarzumachen, dass er nicht bloss als Sachwalter, sondern als Gestalter eines Aufbruchs an die Spitze der Volksrepublik gerückt war.

Jahrzehnt der Stagnation

Der «chinesische Traum» ist seither um viele Facetten erweitert und vielfach hinterfragt worden. Xi hatte ihn in seiner allerersten Ansprache als Generalsekretär erwähnt, als er zusammen mit den anderen Mitgliedern des Ständigen Ausschusses des Politbüros vor die Öffentlichkeit trat. Aufsehen erregte er erst damit, als er kurze Zeit später im Nationalmuseum vor einem Revolutions-Gemälde innehielt und den «chinesischen Traum» mit der Erneuerung der Nation in China und in der Welt verband. Von einem chinesischen Traum und der Wiederkehr Chinas auf der Weltbühne hatten chinesische Wissenschafter und Parteiideologen schon länger gesprochen. Es gibt eine Vielzahl von Konzeptendazu. Keines davon ist nun einfach Staatsdoktrin. Xis chinesischer Traum ist die Hülle, in die die politische und wirtschaftliche Erneuerung der Volksrepublik gekleidet ist.

Politischen Aufbruch in China haben chinesische und ausländische Beobachter seit Jahren herbeigesehnt. Im Sommer und Herbst 2012 erschienen in einheimischen und westlichen Medien lange Berichte über das Jahrzehnt unter der Führung des Staats- und Parteichefs Hu Jintao und des Ministerpräsidenten Wen Jiabao. Hu hatte als hölzerner Apparatschik Mühe gehabt, aus dem Schatten seines Vorgängers Jiang Zemin zu treten. Wen, von Amtes wegen für die Wirtschaftspolitik zuständig, tat gerne volkstümlich und trug den Übernamen «Opa Wen». Zehn Jahre lang sprach er darüber, dass auch politische Reformen angepackt werden müssten. Entweder konnte er sich in den Parteigremien nicht durchsetzen, oder er hatte es nie ernst gemeint. Nach zehn Jahren diagnostizierten selbst parteiinterne und zum politischen System einigermassen loyale Beobachter einen Reformstau. Vor dem Parteitag der KP, der den «Generationenwechsel» von Hu zu Xi und von Wen zu Li Keqiang einleiten sollte, breitete sich jedoch so etwas wie Hoffnung auf einen Neuanfang aus.

Die Vergleiche, die dafür verwendet wurden, waren von Anfang an irreführend. Xi, der Sohn eines unter Mao verfolgten Revolutionärs und späteren Wirtschaftsreformers unter Deng Xiaoping, war nicht der «chinesische Gorbatschow», als den ihn vor allem westliche Beobachter gerne gesehen hätten. Im Gegenteil wurde schnell deutlich, dass Gorbatschow so etwas wie die negative Folie für Xis Vorstellung von der Reform des chinesischen Staatswesens sein würde. Mit ihm verbindet er den Zusammenbruch der Sowjetunion und des sowjetischen kommunistischen Machtapparats. In der Volksrepublik hat Xi das Umgekehrte vor: Seine Reformen sollen das Machtmonopol der Kommunistischen Partei stärken und eine zur sowjetischen vergleichbare Entwicklung ausschliessen. Ohne das durch Korruption und Bereicherung, Willkür und Günstlingswirtschaft stark angeschlagene Vertrauen der Bevölkerung in die Partei dramatisch zu verbessern, gelänge das nicht – und damit auch nicht die Realisierung des chinesischen Traums, der die neu gewonnene innere Stärke Chinas auch in der internationalen Politik sichtbar machen soll.

Repression und Ideologie

Xi Jinping antwortete damit auf jene, die von ihm politische Reformen erwarteten: Er präsentierte sie in Form einer harschen Anti-Korruptions-Kampagne, einer Re-Ideologisierung von Partei, Staat und Gesellschaft und einer Stärkung der Autorität des Parteiführers. Für jene, die auf liberale politische Reformen, eine Öffnung und Pluralisierung des politischen Systems mit dem – fernen – Ziel einer Mehrparteiendemokratie gehofft hatten, ist die Zwischenbilanz ernüchternd. Xis Vorstellung von politischer Reform bedeutet mehr Glaubwürdigkeit und damit mehr Stärke für das Einparteisystem. Alles andere wäre nur schon deshalb erstaunlich, weil es die Macht Xis und seiner Mitstreiter bedrohen würde. Die Disziplin-Inspektions-Kommission der KP ist nicht nur der parteiinterne Schrecken für korrupte Beamte fast jeden Rangs. In vergleichsweise offenen staatlichen Forschungseinrichtungen wie der Akademie für Sozialwissenschaften, an Universitäten und in Parteigremien geht es auch um die Durchsetzung einer ideologischen Disziplin. Statt «westlicher Werte» wie Pluralismus, Bürgergesellschaft, unabhängiger Justiz und politischer Freiheit soll der marxistischen Lehre und «traditionellen» chinesischen Werten der Vorrang gelten.

Das Klima für jene Chinesen, die sich mehr Pluralismus wünschen, die Missstände anprangern und gesellschaftliche Eigeninitiative jenseits staatlicher Vorgaben zeigen, ist rau geworden. Unter dem Vorwand der «Störung öffentlicher Ordnung» und «Untergrabung der Staatsgewalt» sind auch vergleichsweise milde Oppositionelle wie der Bürgerrechtsaktivist Xu Zhiyong und der intellektuelle Kämpfer für die Rechte der Uiguren in der Provinz Xinjiang, Ilham Tohti, festgenommen und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Die Anti-Korruptions-Kampagne hat zwar mit dem früheren Sicherheitschef Zhou Yongkang höchste Kreise erreicht. Sie säte aber auch Angst in der Verwaltung und damit Lähmung; und dass es Xi nicht nur darum geht, gegen die Bereicherung vorzugehen, sondern auch um Macht und die Ausschaltung unliebsamer Faktionen in der KP, ist kein Geheimnis. Trotz Reformen im Justizbereich, die mehr Transparenz und weniger Abhängigkeit der Richter von politischen Vorgesetzten versprechen, ist jedem klar, dass Recht aus Parteiinteressen gesprochen wird.

Chinas politischer und wirtschaftlicher Aufbruch im Innern strahlt auf die internationale Ordnung aus und stellt westliche Werte infrage. Chinas politischer und wirtschaftlicher Aufbruch im Innern strahlt auf die internationale Ordnung aus und stellt westliche Werte infrage.(Andy Wong / AP)

Wohlwollende Stimmen sagen, diese Repression gegen Andersdenkende sei der anfängliche Preis für Xis politische Erneuerung und wirtschaftlichen Umbau hin zu einem innovativen Wirtschaftsmodell. Sie übersehen, dass Unterdrückung abweichender Meinungen und die Ausschaltung auch moderater kritischer Intellektueller kein fruchtbares Umfeld für gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Innovation und Stabilität schafft. Es ist ein kurzatmiger Erfolg. Die Abgrenzung von westlichen Werten hat, ähnlich wie nun in Putins martialischem Russland, zugleich zum Ziel, die eigenen Vorstellungen von politischer Ordnung in die Welt hinauszutragen. Offenheit ist für Willkürregime nicht nur im Innern der Gesellschaft gefährlich, sondern – in der globalisierten Welt – auch nach aussen. Selbstbewusst sagen chinesische Funktionäre und Wissenschafter, die Volksrepublik lasse sich nicht mehr sagen, was Demokratie oder Freiheit sei. Sie definierten das selbst. Deshalb gilt das Interesse der chinesischen Zensurbehörden immer mehr auch dem, was aus und über China in der Welt verbreitet wird. Die «Great Firewall», die «Mauer» ums chinesische Internet, wird immer dicker, Austausch mit unliebsamen ausländischen Inhalten immer schwieriger. Auch was in Deutschland, den USA oder der Schweiz über China geschrieben oder gesendet wird, wird nach den Gesichtspunkten der offiziellen «Wahrheit» über Chinas politische, soziale und wirtschaftliche Realitäten zu beeinflussen versucht. China lädt zu eigenen Internet-Konferenzen und will so seine Vorstellung von der Organisation des Netzes auch dem Rest der Welt schmackhaft machen. Je einflussreicher China in der Welt wird, je mehr an seine Verantwortung appelliert wird und Peking diese wahrzunehmen bereit ist, desto mehr werden chinesische Funktionäre auch mitreden wollen bei der Gestaltung der Weltordnung, der transportierten Werte, letztlich der Freiheit in westlichen Gesellschaften.

Peking will mitreden

Mit plumper Einmischung und einem harten Kulturkampf hat das nichts zu tun. Jene Ausprägung des «chinesischen Traums», die China als Zentrum von ihm abhängiger Vasallenstaaten sieht, ist auch in den politischen Zirkeln Pekings nicht mehrheitsfähig. China weiss um die Bedeutung der globalen Vernetzung und profitiert davon. Xi sucht ein Einvernehmen mit Amerika, Europa und mit Russland. Wenn aber chinesische Unternehmen wie Dalian Wanda in die Filmproduktion Hollywoods investieren, sind sie an Themen, die eine pluralistische Weltordnung propagieren oder Kritisches über China verbreiten, nicht interessiert. Ausländischen Korrespondenten, die in China nach ihrem journalistischen Selbstverständnis arbeiten und über Regionen und Probleme berichten, die chinesische Funktionäre lieber verschweigen möchten, drohen die Behörden immer öfter mit dem Verlust der Akkreditierung und des Visums. Wissenschafter, die für ihre Forschungen nach China reisen wollen, überlegen es sich zweimal, ein Thema anzupacken, das dem chinesischen Staat missfallen könnte.

So dringt Chinas illiberale Staats- und Gesellschaftsordnung auf vielen verborgenen Kanälen auch in die westliche Welt ein. Politiker und Unternehmer, die Chinas Entwicklung der vergangenen 35 Jahre zu Recht bewundern, sehen daran nichts Schlechtes – weil sie oft selbst an der Funktionsfähigkeit und «Effizienz» der westlichen freiheitlichen Ordnung zweifeln, obwohl keiner von ihnen ganz persönlich Freiheit gegen Willkür tauschen würde. Der Ruf nach mehr Verantwortung für China in der Welt hat deshalb auch eine Kehrseite: Peking verlangt – verständlicherweise – danach, nicht nur Verantwortung übernehmen zu müssen, sondern auch Hand bei der Gestaltung dieser Weltordnung anlegen zu dürfen, in der der «chinesische Traum» seinen Platz haben soll.


Von Peking nach Berlin
Markus Ackeret (mac.) ist nach vier Jahren als Korrespondent in Peking unterdessen in Berlin angelangt, von wo aus er über die deutsche Politik berichtet. Viel grösser könnte der Gegensatz kaum sein: Nach dem aufstrebenden Schwellenland, das auf den Status als Supermacht aspiriert, nun also die saturierte Bundesrepublik, der in der Euro-Krise die Rolle der europäischen Führungsmacht zugefallen ist. In Peking waren Ackerets Themen Chinas wirtschaftliche Aufholjagd, Willkür und Korruption der Eliten, aber eben auch das zarte Pflänzchen der Zivilgesellschaft in den Hongkonger Protesten.


Nota. - Der chinesische Traum möchte wohl auch Putins Traum sein: ein weltmarktfähiger Staatskapitalismus mit dynamischer privatkapitalistischer Speerspitze unter enger Kontrolle einer straff charismatisch geführten Einheitspartei mit einer arkanischen Nationalmythologie. Auch weltpolitisch kommen sie sich näher. Putins 'eurasische' Idee passt gut auf einen russisch-chinesischen Block.

Aber das staatskapitalistische Modell ist eine Chimäre. Es kann nicht anders funktionieren - wenn es funktio- niert - denn als ein bürokratisches Monstrum, und Bürokratie ist Korruption und Unsachlichkeit, da mögen die zyklischen Reinigungskampagnen noch so terroristisch durchgeführt werden. Ein monolithischer Staat müsste totalitär verfasst sein, aber bei seiner privat- und staatskapitalistischen Doppelnatur kann er nicht totalitär verfasst sein. Die konfuzianische Reichsbürokratie hielt eine asiatische Wasserbaugesellschaft zusammen, die ohne sie nicht bestehen konnte. Eine sozusagen säkularisierte "Partei", die sich bei einer - wie bei Kung Ze - rein pragmatischen Mentalität aus den jeweils Besten eines Studienjahres rekrutiert, wäre, gerade weil sie entbehrlich und für den Auftritt auf dem Weltmarkt sogar hinderlich ist, nicht nur Spiegel, sondern Hohlspiegel aller widerstreitenden sozialen Interessen. Es ist zu befürchten, dass das mit einem ganz großen Knall endet, an den sich die Welt noch lange erinnern wird. 

Es ist zu hoffen, dass es nicht erst soweit kommt. Aber knallen dürfte es noch oft und laut. An ein Ende der Geschichte ist vorerst nicht zu denken.
JE




Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Freitag, 20. Februar 2015

Auch Krankheiten gehen mit der Zeit.

aus nzz.ch, 19.2.2015                                                                                                                   Daumier, Le Malade imaginaire

Lexikon moderner Störungen
Krankheiten im Wandel der Zeit

Ronald D. Gerste ⋅ Die Zeiten waren schon immer hart. So litt man im späten 19. Jahrhundert gerne an Neura-sthenie, einer nervlichen Erschöpfung. Was die typischen Gesundheitsstörungen im frühen 21. Jahrhundert sind, lässt sich im «Lexikon der modernen Krankheiten» nachlesen. Mit wissenschaftlicher Akribie wird darin ein bunter Strauss von Gesundheitsstörungen vorgestellt.

Dabei kann das, was wir unserer Moderne – ein relativer Begriff, haben doch frühere Zeitgenossen ihre Epoche ebenfalls als unschlagbar modern empfunden – an gesundheitlichem Tribut zollen, durchaus erschrecken. Viele der systematisch (mit Begriffserklärung, Geschichte, Symptomatik, Therapie und Fachliteratur) dargestellten Leiden sind längst im Allgemeinbewusstsein verankert. Dazu zählen etwa das Burnout-Syndrom (der legitime Nachfolger der Neurasthenie), der Hörsturz, die Bulimie, Lebensmittelallergien oder die Amalgam-Intoxikation bei Zahnfüllungen aus der Quecksilberzeit.

Manch anderes mag dem nicht betroffenen Laien wie eine Satire vorkommen: die Arbeitsplatzphobie, die generalisierte Heiterkeitsstörung, pathologisches Kaufen oder der SMS-Daumen (eine Sehnenscheidenent- zündung). Für die Patienten indes sind diese Leiden real und oft belastend – vor allem, wenn man ungern über sie spricht, wie dies etwa bei Dyspareunie (Schmerzen bei der körperlichen Vereinigung) oder einer neurogenen (überaktiven) Blase der Fall sein dürfte. Einige psychogene Störungen sind unzweifelhaft auf die Ausbreitung des Internets zurückzuführen, das Anfällige offenbar ähnlich krank machen kann wie die grosse Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, die Eisenbahn, ihre psychosomatischen Opfer fand.

Dass es so viele moderne Krankheiten gebe, zeige auch, dass in der Medizin und im Verständnis davon, was Krankheit sei, ein stetiger Wandel stattfinde, sagt der Basler Augenarzt Josef Flammer. Im Laufe der Zeit werde sich die Spreu vom Weizen trennen, das heisst die tatsächlichen Störungen von modischen Befindlichkeiten differenzieren. Flammer selbst findet sich ebenfalls im Lexikon – er hat eine als Flammer-Syndrom bekannte Regulationsstörung der kleinen Blutgefässe beschrieben, die zu einer Sonderform des grünen Stars prädisponieren kann.

In einigen Fällen hat eine etablierte Störung einfach einen neuen Namen bekommen, so etwa die seit Jahrtausenden bekannte Hautkrankheit Vitiligo, die mit weissen Flecken einhergeht und die nun, mit einem Hauch von Bösartigkeit gegenüber dem Frühverstorbenen, Michael-Jackson-Syndrom heisst.

Moderne Krankheiten werden nicht nur durch die von Patienten beschriebenen Symptome und von Ärzten objektivierbar gemachten klinischen Zeichen definiert. Die Herausgeber weisen auch auf Versuche der pharmazeutischen Industrie hin, «zu bestehenden Medikamenten Krankheitsbilder zu erfinden». Dazu zählen offenbar das Aging-Male-Syndrom, das mit Testosteron behandelt werden solle, und das Sissi-Syndrom, eine (vermeintliche) Erkrankung aus dem depressiven Formenkreis.

Überhaupt sind die Herausgeber des Buches Freunde eines hintersinnigen Humors. Zwei der Krankheiten im Lexikon, so räumen sie im Vorwort launig ein, hätten sie kurzerhand erfunden. Da kann beim Leser wahrlich keine Dysthymie, eine mit «schlechter Laune» kaum adäquat übersetzte Verstimmung mit dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, aufkommen.

Donnerstag, 19. Februar 2015

Unterdrückte Traditionen der römischen Kirche.

Christ Church Cathedral, Oxford
aus nzz.ch, 18.2.2015

«Krypta» von Hubert Wolf
Unterdrücktes aus der Geschichte der katholischen Kirche

von Friedrich Wilhelm Graf

«Wir wissen, dass es an diesem Heiligen Stuhl schon seit einigen Jahren viele gräuliche Missbräuche in geistlichen Dingen und Exzesse gegen die göttlichen Gebote gegeben hat, ja dass eigentlich alles pervertiert worden ist. So ist es kein Wunder, wenn sich die Krankheit vom Haupt auf die Glieder, das heisst von den Päpsten auf die unteren Kirchenführer, ausgebreitet hat. Wir alle – hohe Prälaten und einfache Kleriker – sind abgewichen, ein jeder sah nur auf seinen eigenen Weg, und da ist schon lange keiner mehr, der Gutes tut, auch nicht einer.» Dieses Schuldbekenntnis stammt nicht von irgendeinem selbstkritischen Kleriker der Gegenwart, sondern von Papst Hadrian VI., der es durch einen Nuntius auf dem Nürnberger Reichstag 1523 den Reichsständen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vortragen liess. In Antwort auf jene radikale Kritik der römischen Kirche, speziell des Papstes, die Martin Luther seit 1517 ebenso aggressiv wie erfolgreich verkündet hatte, gab der Papst dem Wittenberger Mönch und Theologieprofessor im Entscheidenden recht. So kündigte er tätige Reue und eine umfassende Reform der Kurie an, damit die Kirche ihre verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen könne.

«Selbstanwendung» eines Prinzips

Hubert Wolf, der bekannte Kirchenhistoriker in Münster, erinnert zu Beginn seines Buches über «unterdrückte Traditionen» in der römischen Kirche an Hadrians päpstliche Selbstkritik, um den gegenwärtigen Reformdebatten ein historisches Fundament zu erschliessen. Gern spielt er die subversive Kraft historischer Erinnerung gegen ein Dogma aus, das in Rom als überzeitlich gültig, von Gott selbst geoffenbart verkündet werde, genau gesehen aber nur ein Produkt kontingenter historischer Prozesse sei. Oft wurde und wird in Rom gesagt, dass man dieses oder jenes gar nicht ändern könne und dürfe, weil es nun einmal zur verbindlichen «Tradition der Kirche» gehöre.

Lebt der Protestantismus von der Fixierung auf den Ursprung, das biblische Wort Gottes, so betont der Katholizismus neben der Heiligen Schrift eben auch die kirchliche Tradition als normativ bindende Quelle von Selbstverständnis und Sozialgestalt der Kirche. Dieses genuin römische Traditionsprinzip wendet Wolf nun auf den Traditionsbegriff selbst an. Mit einer ganz konventionellen historistischen Hermeneutik will er zeigen, dass «die Tradition der Kirche» alles andere als in sich stimmig, einheitlich, gar geschlossen ist. Was als von Gott gegeben behauptet wurde, war oft nur interessengeleitete menschliche Erfindung, und viele kirchliche Dogmen dienten bloss dem Zweck, die autoritäre Herrschaft von Klerikern über Laien zu sichern.

Wolfs Kirchengeschichtsschreibung will der dringend gebotenen Reform seiner Kirche dienen: «Alle Ausprägungen der Kirche, ihrer Institutionen, Ämter und Lehren, die sich im Lauf von zweitausend Jahren Kirchengeschichte entwickelt haben, kommen als Reservoir von Ideen für eine heutige Reform der Kirche in Betracht.» So sucht er in der Christentumsgeschichte nach «alternativen Modellen», die der derzeit in der römisch-katholischen Kirche geltenden Ordnung «komplementär an die Seite gestellt werden können». Dabei betont er die innere Vielfalt des Katholischen, die Geschichtlichkeit des kirchlichen Rechts und die hohe Wandlungsfähigkeit theologischer Lehre.

Als Beispiel wählt Wolf die allmähliche Anerkennung von Errungenschaften der Aufklärung, insbesondere der Menschenrechte und der Religionsfreiheit, sowie die «grundsätzliche Wende» im Verhältnis zu den Juden, wofür er jeweils auf das Zweite Vatikanische Konzil verweist. Wenn die Kirche diesbezüglich «ihre Position radikal ändern beziehungsweise reformieren konnte, dann kann sie es – zumindest theoretisch – auch in anderen Bereichen». In der «Krypta» der Geschichte seiner Kirche, also den verborgenen, verschütteten, verdrängten und gezielt unterdrückten Traditionen, will Wolf mögliche Alternativvarianten zu den heutigen Verhältnissen finden. Die Krypta, der unter der Erdoberfläche gelegene verborgene Raum unterhalb des Altars, in dem oft die Gräber von Heiligen lagen, sei bei vielen Kirchengebäuden im Lauf der Zeit zugeschüttet worden. Doch wer hier zu graben beginne, könne schnell viele wunderbare Schätze entdecken.

Aus dem Schutt der Kirchengeschichte holt Wolf Äbtissinnen hervor, die achthundert Jahre lang Leitungsfunktionen mit der jurisdiktionellen Autorität eines Bischofs wahrnahmen, Pfarreien errichteten, Pfarrer einsetzten und Dispens von Ehehindernissen erteilten. Lange Zeit hätten die wohl nicht eigens geweihten Frauen Vollmachten wie ein Bischof gehabt. Auch seien in der alten Kirche die Bischöfe von den Laien gewählt worden. Der päpstliche Absolutismus, die Konzentrierung aller Klerikalmacht in Rom, sei überhaupt erst ein Phänomen der Moderne, speziell des 19. Jahrhunderts. Indirekt plädiert Wolf damit für eine neue Regionalisierung, die mit der Stärkung der Ortsgemeinden auch eine entschiedene Mündigkeit der Laien fördere. Die Kirche müsse nur das von ihr für die Gesellschaft entwickelte Subsidiaritätsprinzip endlich auf sich selbst anwenden. Dann könne sie elementare einheitsstiftende Institutionen in Rom belassen, aber vieles anderes an die Diözesen und Gemeinden freigeben.

Immer geht es Wolf darum, mögliche Analogien zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. In wirklich klarem, gut lesbarem Stil zeigt er am Beispiel der «Williamson-Affäre», also der Rehabilitierung des aggressiv antisemitischen Holocaustleugners und illegal geweihten Bischofs der radikal traditionalistischen Priesterbruderschaft Sankt Pius X. Richard Williamson, wie die Kardinäle von wenigen machtfixierten Akteuren in der römischen Kurie entmachtet wurden. Daraus leitet er «Optionen gegen den autokratischen Führungsstil» ab. Die nostalgische Verklärung der «tridentinischen Messe» sei nur ein Mythos, den freilich ein deutscher Papst für historisch bare Münze genommen habe. Auch dessen Nachfolger, den charismatischen Franziskus im Kleinwagen, stellt Wolf in einen traditionsgeschichtlichen Kontext. Auf zwanzig Seiten zur «Option einer Kirche der Armen» beschreibt er knapp und prägnant, wie die charismatische Gemeinschaft der Anhänger des Franz von Assisi im Lauf der Zeit kirchlich domestiziert wurde. Zur Wahl eines lateinamerikanischen Jesuiten zum Bischof von Rom mit «franziskanischem» Papstnamen fällt Wolf nur die assoziative Formel «Sprengkraft einer Utopie» ein. Er hofft auf die kommende Bischofssynode und weiss zugleich um die alles blockierende Beharrungskraft traditionalistischer Kardinäle.

Zusammenfall der Gegensätze

Hubert Wolf will allerdings keine eigene Reformagenda entfalten. Er sucht nur für ein breiteres gebildetes Publikum – gut lesbar – Prozesse und Strukturen transparent zu machen, die es in der Geschichte der lateinischen Kirche einmal gab und die vielleicht als gegenwärtige Reformimpulse genutzt werden können. Allerdings wird darüber noch immer in Rom und nicht am Schreibtisch eines hervorragend informierenden Professors der Kirchengeschichte entschieden. Dies sollte reformgläubige Katholiken und ihre traditionsfixierten Antipoden aber nicht davon abhalten, Hubert Wolfs «Krypta» zu lesen. Alle können dabei lernen, dass «das Katholische» immer schon jene «complexio oppositorum» bedeutete, die für welche Zukunft auch immer höchst vielfältige Optionen eröffnet.

Hubert Wolf: Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte. C. H. Beck, München 2015. 231 S., Fr. 29.90.