Der chinesische Traum und die Welt von morgen
China ist unter Xi Jinping nach Jahren der wirtschaftlichen Reformen auch mitten in einem politischen Erneuerungsprozess. Dieser entspricht nicht den westlichen Hoffnungen von politischer Öffnung. Er wird aber Chinas Verhältnis zur Welt prägen.
von Markus Ackeret, Peking
Im Winter vor zwei Jahren tauchten an Pekinger Plakatwänden fein gezeichnete Figuren auf, mit roten Bäckchen und bunter Kleidung. Die schlichten Bilder auf weissem Grund handelten vom Glück und von einem neuen Traum, dem «chinesischen Traum». Das war eine ganz andere Bildsprache als die breiten roten Spruchbänder, die mit wechselnden Propaganda-Floskeln die Bevölkerung allerorts belehren. Bald darauf fehlte der «chinesische Traum» in keiner Antwort oder Rede eines Funktionärs mehr. Eine neue Metapher prägte sich ein, die sich von den drögen ideologischen Konstrukten vergangener Jahrzehnte abhob. Xi Jinping, im November 2012 als Generalsekretär der Kommunistischen Partei (KP) Chinas ins Amt gekommen, verlor keine Zeit, um China und der Welt klarzumachen, dass er nicht bloss als Sachwalter, sondern als Gestalter eines Aufbruchs an die Spitze der Volksrepublik gerückt war.
Jahrzehnt der Stagnation
Der «chinesische Traum» ist seither um viele Facetten erweitert und vielfach hinterfragt worden. Xi hatte ihn in seiner allerersten Ansprache als Generalsekretär erwähnt, als er zusammen mit den anderen Mitgliedern des Ständigen Ausschusses des Politbüros vor die Öffentlichkeit trat. Aufsehen erregte er erst damit, als er kurze Zeit später im Nationalmuseum vor einem Revolutions-Gemälde innehielt und den «chinesischen Traum» mit der Erneuerung der Nation in China und in der Welt verband. Von einem chinesischen Traum und der Wiederkehr Chinas auf der Weltbühne hatten chinesische Wissenschafter und Parteiideologen schon länger gesprochen. Es gibt eine Vielzahl von Konzeptendazu. Keines davon ist nun einfach Staatsdoktrin. Xis chinesischer Traum ist die Hülle, in die die politische und wirtschaftliche Erneuerung der Volksrepublik gekleidet ist.
Politischen Aufbruch in China haben chinesische und ausländische Beobachter seit Jahren herbeigesehnt. Im Sommer und Herbst 2012 erschienen in einheimischen und westlichen Medien lange Berichte über das Jahrzehnt unter der Führung des Staats- und Parteichefs Hu Jintao und des Ministerpräsidenten Wen Jiabao. Hu hatte als hölzerner Apparatschik Mühe gehabt, aus dem Schatten seines Vorgängers Jiang Zemin zu treten. Wen, von Amtes wegen für die Wirtschaftspolitik zuständig, tat gerne volkstümlich und trug den Übernamen «Opa Wen». Zehn Jahre lang sprach er darüber, dass auch politische Reformen angepackt werden müssten. Entweder konnte er sich in den Parteigremien nicht durchsetzen, oder er hatte es nie ernst gemeint. Nach zehn Jahren diagnostizierten selbst parteiinterne und zum politischen System einigermassen loyale Beobachter einen Reformstau. Vor dem Parteitag der KP, der den «Generationenwechsel» von Hu zu Xi und von Wen zu Li Keqiang einleiten sollte, breitete sich jedoch so etwas wie Hoffnung auf einen Neuanfang aus.
Die Vergleiche, die dafür verwendet wurden, waren von Anfang an irreführend. Xi, der Sohn eines unter Mao verfolgten Revolutionärs und späteren Wirtschaftsreformers unter Deng Xiaoping, war nicht der «chinesische Gorbatschow», als den ihn vor allem westliche Beobachter gerne gesehen hätten. Im Gegenteil wurde schnell deutlich, dass Gorbatschow so etwas wie die negative Folie für Xis Vorstellung von der Reform des chinesischen Staatswesens sein würde. Mit ihm verbindet er den Zusammenbruch der Sowjetunion und des sowjetischen kommunistischen Machtapparats. In der Volksrepublik hat Xi das Umgekehrte vor: Seine Reformen sollen das Machtmonopol der Kommunistischen Partei stärken und eine zur sowjetischen vergleichbare Entwicklung ausschliessen. Ohne das durch Korruption und Bereicherung, Willkür und Günstlingswirtschaft stark angeschlagene Vertrauen der Bevölkerung in die Partei dramatisch zu verbessern, gelänge das nicht – und damit auch nicht die Realisierung des chinesischen Traums, der die neu gewonnene innere Stärke Chinas auch in der internationalen Politik sichtbar machen soll.
Repression und Ideologie
Xi Jinping antwortete damit auf jene, die von ihm politische Reformen erwarteten: Er präsentierte sie in Form einer harschen Anti-Korruptions-Kampagne, einer Re-Ideologisierung von Partei, Staat und Gesellschaft und einer Stärkung der Autorität des Parteiführers. Für jene, die auf liberale politische Reformen, eine Öffnung und Pluralisierung des politischen Systems mit dem – fernen – Ziel einer Mehrparteiendemokratie gehofft hatten, ist die Zwischenbilanz ernüchternd. Xis Vorstellung von politischer Reform bedeutet mehr Glaubwürdigkeit und damit mehr Stärke für das Einparteisystem. Alles andere wäre nur schon deshalb erstaunlich, weil es die Macht Xis und seiner Mitstreiter bedrohen würde. Die Disziplin-Inspektions-Kommission der KP ist nicht nur der parteiinterne Schrecken für korrupte Beamte fast jeden Rangs. In vergleichsweise offenen staatlichen Forschungseinrichtungen wie der Akademie für Sozialwissenschaften, an Universitäten und in Parteigremien geht es auch um die Durchsetzung einer ideologischen Disziplin. Statt «westlicher Werte» wie Pluralismus, Bürgergesellschaft, unabhängiger Justiz und politischer Freiheit soll der marxistischen Lehre und «traditionellen» chinesischen Werten der Vorrang gelten.
Das Klima für jene Chinesen, die sich mehr Pluralismus wünschen, die Missstände anprangern und gesellschaftliche Eigeninitiative jenseits staatlicher Vorgaben zeigen, ist rau geworden. Unter dem Vorwand der «Störung öffentlicher Ordnung» und «Untergrabung der Staatsgewalt» sind auch vergleichsweise milde Oppositionelle wie der Bürgerrechtsaktivist Xu Zhiyong und der intellektuelle Kämpfer für die Rechte der Uiguren in der Provinz Xinjiang, Ilham Tohti, festgenommen und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Die Anti-Korruptions-Kampagne hat zwar mit dem früheren Sicherheitschef Zhou Yongkang höchste Kreise erreicht. Sie säte aber auch Angst in der Verwaltung und damit Lähmung; und dass es Xi nicht nur darum geht, gegen die Bereicherung vorzugehen, sondern auch um Macht und die Ausschaltung unliebsamer Faktionen in der KP, ist kein Geheimnis. Trotz Reformen im Justizbereich, die mehr Transparenz und weniger Abhängigkeit der Richter von politischen Vorgesetzten versprechen, ist jedem klar, dass Recht aus Parteiinteressen gesprochen wird.
Chinas politischer und wirtschaftlicher Aufbruch im Innern strahlt auf die internationale Ordnung aus und stellt westliche Werte infrage.(Andy Wong / AP)
Wohlwollende Stimmen sagen, diese Repression gegen Andersdenkende sei der anfängliche Preis für Xis politische Erneuerung und wirtschaftlichen Umbau hin zu einem innovativen Wirtschaftsmodell. Sie übersehen, dass Unterdrückung abweichender Meinungen und die Ausschaltung auch moderater kritischer Intellektueller kein fruchtbares Umfeld für gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Innovation und Stabilität schafft. Es ist ein kurzatmiger Erfolg. Die Abgrenzung von westlichen Werten hat, ähnlich wie nun in Putins martialischem Russland, zugleich zum Ziel, die eigenen Vorstellungen von politischer Ordnung in die Welt hinauszutragen. Offenheit ist für Willkürregime nicht nur im Innern der Gesellschaft gefährlich, sondern – in der globalisierten Welt – auch nach aussen. Selbstbewusst sagen chinesische Funktionäre und Wissenschafter, die Volksrepublik lasse sich nicht mehr sagen, was Demokratie oder Freiheit sei. Sie definierten das selbst. Deshalb gilt das Interesse der chinesischen Zensurbehörden immer mehr auch dem, was aus und über China in der Welt verbreitet wird. Die «Great Firewall», die «Mauer» ums chinesische Internet, wird immer dicker, Austausch mit unliebsamen ausländischen Inhalten immer schwieriger. Auch was in Deutschland, den USA oder der Schweiz über China geschrieben oder gesendet wird, wird nach den Gesichtspunkten der offiziellen «Wahrheit» über Chinas politische, soziale und wirtschaftliche Realitäten zu beeinflussen versucht. China lädt zu eigenen Internet-Konferenzen und will so seine Vorstellung von der Organisation des Netzes auch dem Rest der Welt schmackhaft machen. Je einflussreicher China in der Welt wird, je mehr an seine Verantwortung appelliert wird und Peking diese wahrzunehmen bereit ist, desto mehr werden chinesische Funktionäre auch mitreden wollen bei der Gestaltung der Weltordnung, der transportierten Werte, letztlich der Freiheit in westlichen Gesellschaften.
Peking will mitreden
Mit plumper Einmischung und einem harten Kulturkampf hat das nichts zu tun. Jene Ausprägung des «chinesischen Traums», die China als Zentrum von ihm abhängiger Vasallenstaaten sieht, ist auch in den politischen Zirkeln Pekings nicht mehrheitsfähig. China weiss um die Bedeutung der globalen Vernetzung und profitiert davon. Xi sucht ein Einvernehmen mit Amerika, Europa und mit Russland. Wenn aber chinesische Unternehmen wie Dalian Wanda in die Filmproduktion Hollywoods investieren, sind sie an Themen, die eine pluralistische Weltordnung propagieren oder Kritisches über China verbreiten, nicht interessiert. Ausländischen Korrespondenten, die in China nach ihrem journalistischen Selbstverständnis arbeiten und über Regionen und Probleme berichten, die chinesische Funktionäre lieber verschweigen möchten, drohen die Behörden immer öfter mit dem Verlust der Akkreditierung und des Visums. Wissenschafter, die für ihre Forschungen nach China reisen wollen, überlegen es sich zweimal, ein Thema anzupacken, das dem chinesischen Staat missfallen könnte.
So dringt Chinas illiberale Staats- und Gesellschaftsordnung auf vielen verborgenen Kanälen auch in die westliche Welt ein. Politiker und Unternehmer, die Chinas Entwicklung der vergangenen 35 Jahre zu Recht bewundern, sehen daran nichts Schlechtes – weil sie oft selbst an der Funktionsfähigkeit und «Effizienz» der westlichen freiheitlichen Ordnung zweifeln, obwohl keiner von ihnen ganz persönlich Freiheit gegen Willkür tauschen würde. Der Ruf nach mehr Verantwortung für China in der Welt hat deshalb auch eine Kehrseite: Peking verlangt – verständlicherweise – danach, nicht nur Verantwortung übernehmen zu müssen, sondern auch Hand bei der Gestaltung dieser Weltordnung anlegen zu dürfen, in der der «chinesische Traum» seinen Platz haben soll.
Von Peking nach Berlin
Markus Ackeret (mac.) ist nach vier Jahren als Korrespondent in Peking unterdessen in Berlin angelangt, von wo aus er über die deutsche Politik berichtet. Viel grösser könnte der Gegensatz kaum sein: Nach dem aufstrebenden Schwellenland, das auf den Status als Supermacht aspiriert, nun also die saturierte Bundesrepublik, der in der Euro-Krise die Rolle der europäischen Führungsmacht zugefallen ist. In Peking waren Ackerets Themen Chinas wirtschaftliche Aufholjagd, Willkür und Korruption der Eliten, aber eben auch das zarte Pflänzchen der Zivilgesellschaft in den Hongkonger Protesten.
Nota. - Der chinesische Traum möchte wohl auch Putins Traum sein: ein weltmarktfähiger Staatskapitalismus mit dynamischer privatkapitalistischer Speerspitze unter enger Kontrolle einer straff charismatisch geführten Einheitspartei mit einer arkanischen Nationalmythologie. Auch weltpolitisch kommen sie sich näher. Putins 'eurasische' Idee passt gut auf einen russisch-chinesischen Block.
Aber das staatskapitalistische Modell ist eine Chimäre. Es kann nicht anders funktionieren - wenn es funktio- niert - denn als ein bürokratisches Monstrum, und Bürokratie ist Korruption und Unsachlichkeit, da mögen die zyklischen Reinigungskampagnen noch so terroristisch durchgeführt werden. Ein monolithischer Staat müsste totalitär verfasst sein, aber bei seiner privat- und staatskapitalistischen Doppelnatur kann er nicht totalitär verfasst sein. Die konfuzianische Reichsbürokratie hielt eine asiatische Wasserbaugesellschaft zusammen, die ohne sie nicht bestehen konnte. Eine sozusagen säkularisierte "Partei", die sich bei einer - wie bei Kung Ze - rein pragmatischen Mentalität aus den jeweils Besten eines Studienjahres rekrutiert, wäre, gerade weil sie entbehrlich und für den Auftritt auf dem Weltmarkt sogar hinderlich ist, nicht nur Spiegel, sondern Hohlspiegel aller widerstreitenden sozialen Interessen. Es ist zu befürchten, dass das mit einem ganz großen Knall endet, an den sich die Welt noch lange erinnern wird.
Es ist zu hoffen, dass es nicht erst soweit kommt. Aber knallen dürfte es noch oft und laut. An ein Ende der Geschichte ist vorerst nicht zu denken.
JE
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
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