Mittwoch, 11. Februar 2015

Frühformen staatlicher Herrschaft.

Ziqqurat
aus nzz.ch, 11.2.2015, 05:30 Uhr 

Stefan Breuer über Frühformen staatlicher Herrschaft
Im Anfang war das Charisma

von Urs Hafner 

Es gibt Begriffe, die wir wie Chiffren ganz selbstverständlich für uns reservieren, überzeugt davon, dass sie für andere Zeiten und andere Menschen keine Gültigkeit hätten. Das Problem fängt indes bereits mit dem Ausdruck «wir» an. Wer kann zum Beispiel in Anspruch nehmen, im Namen aller Menschen des Westens zu reden? Und was wäre «der Westen» über eine geografische Einheit hinaus? Ein zivilisatorisches Projekt, eine vorbildliche Wertegemeinschaft? Aber hat nicht er im letzten Jahrhundert eine der barbarischsten Vernichtungsmaschinen überhaupt hervorgebracht, den nationalsozialistischen Staat?

Eine Webersche Perspektive

Auch «der Staat» ist einer der Begriffe, die wir gemeinhin für uns, für den Westen, reservieren. Er gilt als eine Erfindung des frühneuzeitlichen Europas. Es seien vor allem die Monarchien gewesen, die den Apparat entwickelt hätten, in dem wir noch heute lebten. Aus dem obrigkeitlich-disziplinierenden Fürstenstaat sei ein demokratischer «Rechtsstaat» oder der «Sozialstaat» geworden, der den Bürgerinnen und Bürgern den Rahmen für ein gutes und friedliches Leben biete, indem er sie vor Aggressionen schütze, ihnen die Möglichkeit biete, sich zu bilden, und den Wohlstand umverteile, so dass niemand grosse Not leiden müsse.

Der Hamburger Soziologe Stefan Breuer setzt einen anregenden Kontrapunkt. Für ihn ist der Staat keine moderne Erfindung, sondern begleitet die Menschheit schon in den Anfängen ihrer Geschichte. Anhand einer beeindruckenden Menge älterer und neuerer Forschungsliteratur, die er kontrovers und – für den Laien: mitunter zu – ausführlich diskutiert, porträtiert der Autor für verschiedene Weltgegenden staatliche Organisationsformen, von denen die ersten schon bald nach der neolithischen Revolution, dem Anbruch der Jungsteinzeit, aufgekommen seien. Vertreten ist mit Kreta und Mykene nicht nur Griechenland, in welchem gewöhnlich die Entstehung der Demokratie angesiedelt wird (auch sie erscheint wie selbstverständlich als «westlich»), vertreten sind auch Ägypten, Mesopotamien, China und die Anden (mit den legendären Inka, zu deren Zeit die europäischen Monarchien der Frühneuzeit aufstiegen).

Stefan Breuer ist ein Weberianer. Max Weber, der grosse deutsche Soziologe, ist nicht nur einer seiner wichtigsten Forschungsschwerpunkte, Breuer arbeitet darüber hinaus – keinesfalls unkritisch – mit den höchst differenzierten Begriffen und Kategorien Webers. So identifiziert Breuer in den Frühformen staatlicher Herrschaft ein «charismatisches» Moment. Als «charismatisch» charakterisiert Weber in seiner Herrschaftssoziologie einen der drei Idealtypen legitimer Herrschaft – wobei Herrschaft «die Chance» bedeuten soll, wie Weber formuliert, «für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden». Die beiden anderen Typen sind die traditionale und die legale Herrschaft. Die Reihung gibt tendenziell eine chronologische Abfolge wieder.

Die charismatische Herrschaft beruht auf den ausserordentlichen Eigenschaften, die sich ein Anführer selbst zuschreibt und die ihm von den Angeführten zugeschrieben werden. Sie entsteht vor dem Hintergrund magischer Denkmuster und ist per se instabil. Eine charismatische Herrschaft besitzt nicht zwingend staatliche Qualität. Mit Weber grenzt Breuer, wenn er mit stupender Detailkenntnis in die Organisationsformen und Funktionsweisen frühgeschichtlicher politischer Gebilde eintaucht, den Staat vom «Häuptlingstum» ab. Im Unterschied zu diesem, aber auch zum «Verband» oder zum «Stamm» weist der Staat Dauerhaftigkeit auf, besitzt ein Zwangsmonopol, übt seine Herrschaft über ein bestimmtes Gebiet und alle darin lebenden Menschen aus und errichtet Monumentalbauten. Von grosser Bedeutung ist die Verfügung über die von den Umweltbedingungen abhängende Produktion von Nahrungsmitteln und Konsumgütern.

Zentral ist schliesslich das «magische Charisma», das ein Staat beziehungsweise die ihn regierenden Gruppen besitzen müssen. Der Herrscher schwingt sich zum Repräsentanten der Götter gegenüber der Gemeinde auf, Herrschaft wird mit den Geistern der Ahnen und mit den Göttern legitimiert. Geistliche und weltliche Herrschaft bestehen unter Umständen nebeneinander; der Staat kann auch eine kirchliche Einrichtung sein. Das Charisma kann indes auch «veralltäglicht» und versachlicht werden. Die Herrschaft wird dann mit der Leistung der Verwaltung legitimiert.

Antiegalitäre Gebilde

Die von Breuer vorgestellten Staaten sind antiegalitär. Ein egalitär in Gemeinden organisiertes Gemeinwesen hat für ihn keinen staatlichen Charakter. Wieso das so ist, leuchtet indes nicht ganz ein, denkt man etwa an die spätmittelalterlichen europäischen Stadtrepubliken, die Eigenschaften von Staatlichkeit aufwiesen und zugleich genossenschaftlich organisiert waren. Schlägt hier etwa Max Webers Perspektive durch, die der Demokratie keinen allzu grossen Stellenwert einräumt?

Hilfreich wäre eine Zusammenschau, die Webers Definitionskriterien sowie die vielen von Stefan Breuer angeführten Beispiele, Grenz- und Sonderfälle systematisierte. Während der Autor sich akribisch fragt, ob und wann ein bestimmtes politisches Gebilde als Staat zu bezeichnen sei oder nicht, würde der seiner eigenen Fährte folgende Leser gern noch mehr über das politische und auch das alltägliche Leben jener archaischen Gebilde erfahren. So oder so aber staunt er, wie einfallsreich die Fundstücke archäologischer Forschung sich deuten lassen.

Stefan Breuer: Der charismatische Staat. Ursprünge und Frühformen staatlicher Herrschaft. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2014. 319 S., Fr. 69.90.


Nota. - Rom und Athen scheinen aus Stammesverbänden hervorgegangen zu sein. Das ist eine andere Quelle 'staatlicher' Herrschaft, die mit dem magischen Charisma von Schamanen und Priestern stets in Konkurrenz gestanden haben mag: die blutsverwandtschaftliche Nähe zu einem mythischen Stammesvater. Beide haben ihre Wurzeln in den Gesellschaften jagender und sammelnder Nomaden. Es mag sinnvoll sein, von Staaten erst zu sprechen, seit eine Autorität benötigt wird, die die Verteilung des Bodens überwacht und garantiert, also seit der neolitischen Revolution. Aber die ist nicht in ein paar Jahren, sondern in ein paar Jahrtausenden geschehen, die Stammesbeziehungen müssen noch lange fortgewirkt haben; in Rom und Athen eben bis in klassische Zeit, während es in den ersten Stadtstaaten Mesopotamiens lange ein Nebeneinander von Stammes- und Priester- herrschaft gegeben zu haben scheint.

Aber vielleicht schreibt Breuer ja darüber, und vielleicht sollte man das Buch deshalb lesen.
JE

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