aus nzz.ch, 11.2.2015, 10:00 Uhr Will den Kapitalismus vor sich selber retten: der Wirtschaftswissenschafter Thomas Piketty
Thomas Piketty – eigentlich ein Anti-Marx
Demokratie und Meritokratie
Thomas Piketty ist als radikaler Umverteiler und Kapitalismusfeind kritisiert worden. Doch sein Buch «Das Kapital im 21. Jahrhundert» ist, recht betrachtet, ein Lob der Leistungsgesellschaft – mit allerdings letztlich fatalistischer Botschaft.
von Jan-Werner Müller
Anfang des Jahres hat Thomas Piketty die Aufnahme in die französische Ehrenlegion abgelehnt. Dies gemahnt an die radikale Geste eines anderen berühmten französischen Intellektuellen: 1964 verzichtete Jean-Paul Sartre auf den Literaturnobelpreis. Doch wie radikal ist Pikettys Werk «Das Kapital im 21. Jahrhundert» eigentlich? Anstatt sich mit den Thesen und Forderungen des französischen Ökonomen und Sozialwissenschafters auseinanderzusetzen, fragt derzeit alle Welt nach den Gründen für den Verkaufserfolg seines Buches. Dabei lohnte sich vor allem ein näherer Blick auf Pikettys Vorstellungen von Gerechtigkeit und Demokratie. Der Autor hat zu Recht darauf hingewiesen, dass sein Buch historische und ökonomische Perspektiven vereine – doch ist es auch dezidiert normativ und beschränkt sich keineswegs, wie er selbst aber behauptet, auf «eine systematische Erforschung des Sachverhalts». Die normativen Grundannahmen jedoch sind, anders als Hernando de Soto kürzlich nahelegte, keineswegs radikal oder gar marxistisch; Pikettys Lob der Leistungs- gesellschaft könnte sogar «Neoliberalen» gefallen.
Balzacsche Figuren und – Statistiken
Der an der Pariser Ecole des hautes études en sciences sociales lehrende Ökonom spart nicht mit Kritik an seiner Zunft: Die Wirtschaftswissenschafter frönten einer «kindlichen Vorliebe für die Mathematik» und seien gleichzeitig längst nicht so ideologieresistent, wie es ihre abstrakten Modelle suggerierten. Piketty kann da auch schnell persönlich werden: Vor allem Ökonomen aus ärmeren Ländern, welche an amerikanischen Hochschulen das (für die Verhältnisse von Wissenschaftern) ganz grosse Geld verdienten, seien stets schnell bereit, die heutige Version des US-Kapitalismus als beste aller möglichen Welten zu verherrlichen (in der Leistung natürlich objektiv honoriert werde). Dabei liessen sie – aber auch viele Historiker – eine zentrale Frage jeder Gesellschaftsordnung links liegen: die nach der Entwicklung der Ungleichheit und, nicht weniger wichtig, nach den Rechtfertigungen, die für die Ungleichheit gegeben werden.
Piketty hat einen beeindruckenden Datenschatz angehäuft; noch nie hat jemand so systematisch die Entwicklung der Kapitalverteilung seit dem achtzehnten Jahrhundert – und noch gleich für mehrere westliche Länder – analysiert und seine Ergebnisse dann so ansprechend aufbereitet. Man hat Pikettys anschauliche Beispiele aus Filmen wie «Aristocats» sowie aus den Romanwelten von Jane Austen und Balzac gelobt (vielleicht auch, weil Feuilletonisten davon ausgehen, dass Ökonomen überhaupt keine «schöngeistige» Literatur lesen, und angenehm überrascht wurden). Doch es sind gar nicht die finanziell motivierten Heiratsstrategien der Balzacschen Protagonisten, die Pikettys Buch zum Teil spannend wie einen Thriller machen. Es sind die Tatsachen selbst (und nicht zuletzt die Zahlen), die immer wieder fabelhaft interessant sind. Big Data wird hier wirklich zu einer Big Story.
Die Geschichte – und eben keine ökonomische Theorie – lehre, so Piketty, dass die Kapitalrendite meist über der Wachstumsrate liege. Dieser Umstand führe, auch bei ganz kleinen Anfangsunterschieden, zu einer enormen Verschärfung der Ungleichheit. Der Normalzustand sei damit eine Welt, in der es sich für gewöhnlich eher lohne, eine reiche Erbin zu heiraten, anstatt hart zu arbeiten – so der Rat Vautrins, der dem jungen Rastignac in Balzacs «Le Père Goriot» vorrechnet, warum er besser gleich per Ehe Rentier wird, als sich abzurackern.
Die Französische Revolution habe ihr Gleichheitsversprechen nie eingelöst, so Piketty; noch die Belle Epoque sei durch eine «nach oben offene Spirale der Ungleichheit» gekennzeichnet gewesen. Erst die Weltkriege hätten systematisch Kapital vernichtet und zur «Euthanasie der Rentiers» (John Maynard Keynes) geführt. Im zwanzigsten Jahrhundert sei dann zum ersten Mal eine vermögende Mittelschicht in Europa entstanden (welche allerdings im Vergleich mit den Schwerreichen immer nur «Krümel» ergattert habe). Eine Pointe von Pikettys Analyse ist, dass sich einzig während der sozialdemokratisch geprägten Nachkriegsjahre Unternehmer und leitende Angestellte im Vergleich zu den Erben besser gestanden hätten.
Doch sollte sich die Linke über diese Nachricht nicht zu früh freuen: Es seien, so Piketty, Ausnahmejahre gewesen. Frankreich und Deutschland hätten sich durch Inflation und Währungsreform ihrer Schulden entledigt; der Wiederaufbau habe enorme Kräfte entfesselt und Wachstumsraten produziert. Es sei eine Illusion zu glauben, man müsse nur den Thatcherismus rückgängig machen und den Staat wieder stärker ordnend eingreifen lassen, um eine weitere sozialdemokratische Ära einzuläuten. Blieben Produktions- und Bevölkerungswachstum im Westen weiter so schwach wie seit den siebziger Jahren, werde sich die Kapitalkonzentration und damit die Ungleichheit immer weiter verstärken. Nicht die «Trente Glorieuses», die Jahre 1945 bis 1975, die im Nachhinein wie ein Kapitalismus ohne Kapitalisten erschienen, seien der historische Normalzustand, sondern die «Trente Piteuses», die wirtschaftlich alles andere als glorreichen jüngstvergangenen dreissig Jahre, die einen Vorgeschmack gäben auf einen neuen (und eigentlich doch altbekannten) Kapitalismus der Erben.
Doch ist es keineswegs so, dass Politik für Piketty überhaupt keine Rolle spielt. So analysiert er eingehend die Entwicklung der Gehälter von Führungskräften in den USA der vergangenen Jahrzehnte – ein, so Piketty mit deutlichem Dégoût, in der Menschheitsgeschichte wohl beispielloser Anstieg, der sich allein damit erklären lasse, dass die Chefs ihre Gehälter – anders als im «Rheinischen Kapitalismus» – selber festsetzen könnten. Nicht der Markt sei der Grund für diesen «meritokratischen Extremismus», sondern politische Entscheidungen über die Macht von Vorständen und Vergütungsausschüssen seien es. Dabei setzt Piketty sonst Meritokratie und Demokratie durchaus gleich und bekräftigt, dass der «Glaube, Ungleichheiten sollten eher auf Arbeit und individuellem Verdienst beruhen», konstitutiv für «unsere demokratische Moderne» sei. Die dabei entstehenden Ungleichheiten seien gerechtfertigt, solange sie allen zugutekämen – eine Idee, für die sich Piketty bei der Erklärung der Menschenrechte von 1789 ebenso wie bei dem wichtigsten politischen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts, John Rawls, rückversichern kann.
Die Grenzen
Doch woran lassen sich, in den Worten Pikettys, «inakzeptable und willkürliche Ungleichheiten» genau erkennen? Aller Reichtum, so räumt der Verfechter des Leistungsprinzips ein, sei zwar «potenziell» zu gross, aber doch zugleich teilweise gerechtfertigt. Den schieren Diebstahl gebe es ebenso selten wie das vollständig Verdiente. Und doch glaubt Piketty, dass einer «hypermeritokratischen Gesellschaft» politische Grenzen gesetzt seien. Nur: Wo diese Grenzen liegen, weiss auch er nicht zu sagen.
Letztlich will Thomas Piketty – darin durchaus eine Art Anti-Marx – den Kapitalismus retten: vor dessen eigenen destruktiven Tendenzen. Seine konkrete Forderung ist eine globale, progressive Steuer auf Kapital. Wobei dieser vergleichsweise harmlose Vorschlag noch einmal dadurch relativiert wird, dass eine solche weltweite Steuererhebung vor allem Transparenz schaffen, Einblick in die tatsächlichen Vermögensverhältnisse ermöglichen solle – und Transparenz, so Piketty, wiederum Vorbedingung einer echten demokratischen Debatte sei. Der Franzose ist also gar nicht sonderlich «präskriptiv» – in gut aufklärerischer Manier versteht er sein Buch vielmehr in erster Linie als einen Beitrag zur «Demokratisierung des Wissens». Doch genau besehen könnte Pikettys Wissen die depressive Stimmung in vielen Demokratien noch verstärken: Seine grosse Erzählung lehrt, dass es eben nicht «demokratische und meritokratische Rationalität» war, welche die westlichen Gesellschaften – wenn auch nur vorübergehend – dem «Ideal der Leistungsgesellschaft» näherbrachte. Es waren Kriege.
Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert. Aus dem Französischen von Ilse Utz und Stefan Lorenzer. Verlag C. H. Beck, München 2014. 816 S., Fr. 38.15.
Nota. - Seien wir etwas genauer: Es waren nicht nur "Kriege", die den zeitweiligen glorreichen Sieg des sozial- demokratischen Modells möglich gemacht haben; es war das, was die einen "den europäische Bürgerkrieg" und die andern die "Epoche der Weltrevolution" genannt haben. Die haben Europa und namentlich Mitteleuropa in Schutt und Asche gelegt und gleich darauf den "rheinischen Kapitalismus" geschaffen. Es war das "kurze zwanzigste Jahrhundert", und das dürfte doch hoffentlich einmalig bleiben.
JE
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