Montag, 29. April 2019

Arabien vor Mohammed.

Zeitloser Anblick: Charles-Théodore Frères Gemälde „Große Karavane von Mekka“
aus FAZ.NET, 28.04.2019                                                        Charles-Théodore Frère, Große Karavane von Mekka

Bowersocks „Wiege des Islam“
Ein Prophet in turbulenter religiöser Landschaft 
Von wegen geschichtslos: In „Die Wiege des Islam“ macht Glen W. Bowersock auf bündige Weise mit dem vorislamischen Arabien bekannt. Es ist ein schmales Buch, doch es hat es in sich. 

Von Wolfgang Günter Lerch

Die Arabische Halbinsel, so noch immer eine landläufige Meinung, sei ein weitgehend „geschichtsloser“ Raum gewesen, bevor Mohammed Ibn Abdallah, der arabische Prophet (571–632), den Islam gestiftet und damit Bewegung in die Geschichte dieses Subkontinents gebracht habe. Schon lange weiß man, dass diese Auffassung falsch ist, im Grunde nur auf das innerste Innere der Halbinsel zutrifft, wo Wüsten und Einöden wie die Nefud, die Rub al Chali und die Dahna sich als extrem menschenfeindliche Regionen darbieten. Auch der von den Muslimen verwendete Begriff der „Dschahiliya“, des religiösen Unwissens, das vor dem Auftauchen des Islams geherrscht habe, hat wohl zu dieser Ansicht geführt, die schon von der Bibel widerlegt wird. Dort ist vom Königreich der Sabäer die Rede, das in der Südwestecke Arabiens lag; und die Königin von Saba, Belkis, hatte eine Affäre mit dem weisen König Salomon. Auch der Koran kennt diese Geschichte.

Über die teilweise turbulenten Entwicklungen des vorislamischen Arabiens informiert der amerikanische Althistoriker Glen W. Bowersock, der vor seiner Emeritierung am Institute of Advanced Study in Princeton forschte. Es ist ein schmales Buch, zudem ohne Anmerkungen, doch es hat es in sich. Sieht man einmal von den Kulturen Arabiens in vorchristlicher Zeit, den Minäern etwa, ab, so stellt sich die Geschichte arabischer Landschaften wie Jemen, Asir, Hedschas, dazu Arabiens Norden, auch in späteren Epochen alles andere als „geschichtslos“ dar. Bis zum Auftreten Mohammeds und der staunenswerten Ausbreitung seiner Lehre unmittelbar nach seinem Tod standen diese Regionen im Brennpunkt teilweise erbitterter Rivalitäten regionaler und großer Mächte. Diese Ereignisse erhellen auch manches über die religiöse Situation vor dem Islam, eine Thematik, die lange schon auch die westlichen Islam- und Religionswissenschaftler beschäftigt, mit teilweise disparaten Ergebnissen. Vieles, was Bowersock bringt, ist nicht neu, doch in dieser Konzentration und Dichte sehr aussagekräftig. Es war ein chaotisches Umfeld, in dem die neue Religion entstand und wuchs. Dies zu zeigen, ist sein eigentliches Anliegen.

Glen W. Bowersock: „Die Wiege des Islam“. Mohammed, der Koran und die antiken Kulturen. Aus dem Englischen von Rita Seuß. Verlag C. H. Beck, München 2019. 160 S., Abb., geb., 22,– Euro.Glen W. Bowersock: „Die Wiege des Islam“. Mohammed, der Koran und die antiken Kulturen. Aus dem Englischen von Rita Seuß. Verlag C. H. Beck, München 2019. 160 S., Abb., geb., 22,– Euro. : Bild: Verlag C. H. Beck
Christentum, Judentum, „paganer Monotheismus“ und „Heidentum“ kennzeichnen nach Bowersock die durchaus entwickelte und bewegte religiöse Landschaft der damaligen Zeit. Unter ihrem König Abraha (um 650) hatten die Äthiopier den Jemen erobert und beherrscht – der zuvor von Königen regiert worden war, die dem Judentum anhingen. Abraha versuchte sogar vergeblich, wie der Koran berichtet, Mekka einzunehmen, nach Bowersock ein lange bereits bekannter „heiliger Ort“, in dem in der Kaaba das alt-arabische Pantheon verehrt wurde, und auch ein wichtiger Handelsplatz. Selbst wenn er die These des belgischen Islamwissen- schaftlers Henri Lammens zurückweist, Mekka sei eine blühende Handelsrepublik gewesen. Nach dem Scheitern der christlichen Äthiopier geriet die Region unter den Einfluss der sassanidischen Perser, die ihrerseits mit Byzanz rivalisierten. Im Jahr 614 hatten sie Jerusalem erobert. Dies war die Lage zu Lebzeiten des islamischen Propheten. 
 
Mit anderen Worten: Das vorislamische Arabien war bereits Generationen vor Mohammed ein Teil der antiken Welt, deren religiöse Vorstellungen eingeschlossen. Byzantinisches Christentum, Judentum, die Lehre Zarathustras, das monophysitische Christentum der Äthiopier, der altarabische Paganismus und der von einzelnen paganen Gottsuchern (Hanifen) praktizierte Monotheismus waren so sehr verbreitet, dass Mohammed gediegene Kenntnisse von ihnen gehabt haben muss. Wie eng dies alles zusammenhing, machte nach Bowersock schon jene „kleine Hidschra“ deutlich, welche die junge Gemeinde des Islams nach Äthiopien (Abessinien) unternahm, um den Nachstellungen der mekkanischen Landsleute Mohammeds zu entgehen. Bei den Äthiopiern war man sozusagen auf vertrautem religiösem Gelände, ihr König fand Mohammeds Lehre anziehend. 
 
Die im Jahr 622 vollzogene „große Hidschra“ von Mekka nach Medina markiert dann den eigentlichen Beginn eines strukturierten Gemeindelebens und den Anfang der Zeitrechnung des Islams. In der teils friedlichen, teils militärischen Auseinandersetzung mit den heidnischen Mekkanern, jüdischen Gemeinden, christlichen Lehren und rivalisierenden arabischen „Propheten“, deren Anzahl nicht gering war – die islamische Tradition kennt beispielsweise den „Lügenpropheten“ Musailima –, obsiegte schließlich Mohammed. Zehn Jahre nach seinem Tod hatten Muslime weite Teile Vorderasiens unter ihre Herrschaft gebracht, freilich nicht als Unbekannte wie ein kriegerischer Sturmwind aus den Wüsten hervorgebrochen (auch dies ist nach Bowersock ein altbekanntes Stereotyp), sondern als Teil von Auseinandersetzungen unter den Mächten, die sich – wie Byzanz und Persien – auch wechselseitig geschwächt hatten.
 
Mit der Omajjaden-Dynastie verloren Mekka und Medina nach dem Ende des ersten Bürgerkrieges an Bedeutung. Der Schwerpunkt muslimischer Herrschaft verschob sich endgültig nach Norden, nach Damaskus, Syrien und Palästina. Dort herrschte nun der Islam, freilich über ein Reich, das multireligiös war. Der Islam wurde dort nicht „mit Feuer und Schwert“ verbreitet. Noch der Kalif Abd al Malik erbaute in Jerusalem den „Felsendom“ als ein Symbol der drei Monotheismen, die im Reich der Omajjaden praktiziert wurden. Der bekannte Islamwissenschaftler Julius Wellhausen nannte dieses Reich denn auch zu Recht ein „arabisches“, nicht ein muslimisches. 
 
Glen W. Bowersock: „Die Wiege des Islam“. Mohammed, der Koran und die antiken Kulturen. Aus dem Englischen von Rita Seuß. Verlag C. H. Beck, München 2019. 160 S., Abb., geb., 22,– Euro.

Sonntag, 28. April 2019

Der frühe Erfolg des Christentums.

aus SPIEGEL Geschichte 6/2017; 28.11.2017                                                              Paolo Veronese, Das letzte Abendmahl 

Die ersten Anhänger  
"Das Christentum war subversiv und gefährlich"
Der christliche Glaube gilt meist als westliches Phänomen. Doch anfangs breitete sich die Lehre Jesu vor allem im Osten aus, sagt der Oxforder Historiker Peter Frankopan. Sogar im heutigen Afghanistan gab es Bischöfe.

Ein Interview von Johannes Saltzwedel

SPIEGEL: Professor Frankopan, selten gab es so viel religiöse Vielfalt im Nahen Osten wie in der Antike: Griechisch-römische Götterwelt, Ägyptische Kulte, Judentum und vieles mehr. Dann aber stieg von Palästina aus das Christentum auf. Eine konsequente Entwicklung - oder staunt da auch der Fachmann?

Peter Frankopan: Natürlich ist der Vorgang erstaunlich, aus mindestens zwei Gründen: Das Christentum war weit beständiger als andere Glaubensrichtungen, und es erstreckte sich bald auf ein verblüffend großes Gebiet, vor allem nach Osten, sodass es schließlich eine Weltreligion werden konnte.

SPIEGEL: Aber wie ist das zu erklären? Erlösungsprediger gab es zur Zeit Jesu in Mengen, das haben ja schon die britischen Filmsatiriker der "Monty Python"-Truppe in ihrer frechen Evangelienparodie "Das Leben des Brian" gezeigt. Ein Argument klingt sogar plausibel: Jesus gewann Vorsprung gerade dadurch, dass man ihn kreuzigte; so jemand meinte es offenbar ernst.

Frankopan: Eine reichlich zynische Betrachtungsweise. Ebenso wichtig scheint mir, dass sich sehr früh im Christentum Strukturen bildeten. Das geschieht normalerweise nicht bei gesellschaftlichen Außenseitern. Also: Jesus löste mit seiner Botschaft echten Widerhall aus; die Menschen, die ihm und seiner Lehre folgten, fühlten sich wirklich verwandelt, und das beeindruckte immer mehr Menschen.


Peter Frankopan ist Professor für Weltgeschichte in Oxford und leitet dort das Zentrum für Byzanzforschung. 2016 erschien sein Buch „Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt“ (Verlag Rowohlt Berlin).Peter Frankopan ist Professor für Weltgeschichte in Oxford 
und leitet dort das Zentrum für Byzanzforschung. 2016 erschien sein Buch „Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt“ .


SPIEGEL: Gab es nicht anfangs eher kleine, verstreute Gemeinden, wie das in den Briefen des Paulus um das Jahr 55 steht, mit oft verschiedenen Lehrschwerpunkten?
 
Frankopan: Es ist wahr, dass die Quellen oft ein einseitiges Bild zeichnen. So breitete sich das Christentum am Mittelmeer keineswegs sehr rasch aus. Im Osten, in Asien dagegen hatte es schneller Erfolg, bis nach Indien. Um das Jahr 600 findet man von Mesopotamien, zum Beispiel in Basra, bis ins heutige Afghanistan und in Kaschgar eine Menge Erzbischöfe, also schon sehr gefestigte Strukturen.

 
SPIEGEL: So etwas wird in westlichen Kirchengeschichten kaum erwähnt. Warum ging es im Osten schneller?
 
Frankopan: Wir können fast nur spekulieren. Offenbar bildete sich gerade die richtige Mischung von Motiva- tionen heraus, die geeignete Atmosphäre für Bekehrungen. Warum bin ich Historiker geworden? Aus Interesse, aber auch weil ich damit Geld verdiene, weil Zufall und Glück mitgespielt haben, weil mir sinnvoll und nach- haltig erscheint, was ich tue, und so weiter.
 
SPIEGEL: Was heißt das, auf das Christentum übertragen?
 
Frankopan: Religionen, die ewiges Leben versprachen, waren offenbar recht attraktiv. Der christliche Lebensstil mit seiner Grundansicht, dass Tugenden belohnt werden, erschien plausibel. Nicht zu stehlen, dem Nachbarn nichts anzutun und dergleichen war kein bloßer Rechtssatz mehr, auch nicht an Belohnung oder Profit geknüpft, sondern wurde zur persönlichen Überzeugung aufgewertet. Christen, die es ernst meinten, erschienen als bessere Menschen, als Menschen mit einem echten Lebenszweck. Natürlich ist auch Gruppendruck dabei, natürlich braucht es eine kritische Masse, um die Mehrheit der Bevölkerung zu überzeugen. Aber das gelang eben erstaunlich oft. Übrigens, rund um das Mittelmeer scheint sich das Christentum vornehmlich durch Frauen verbreitet zu haben, speziell Frauen von hohem gesellschaftlichem Status. Sie fanden damit offenbar eine Stimme, gesellschaftlich wie spirituell. Im Mittleren Osten spielte ein anderer Faktor mit: Hier war der Blick weiter, man handelte mit Kulturen in aller Welt, war neugierig auf kluge Weltanschauung.

 
SPIEGEL: Wollen Sie andeuten, es wurde auf einmal modisch, Christ zu sein?
 
Frankopan: Das ginge zu weit - schließlich riskierte man in den frühen Jahrhunderten einiges. Christen waren Verfolgungen ausgesetzt, nicht nur im römischen Kaiserreich, auch unter den Sassaniden, die in Persien den Zarathustra-Glauben recht gewaltsam durchsetzten. Aber tatsächlich machten "Heilige", die ihren Glauben - auch und gerade als Askese - lebten, weithin Eindruck. Strenge und Disziplin, gerade solche antiindividua- listischen Merkmale genossen Achtung. Ähnliches ist heute interessanterweise am radikalen Islam zu beob- achten.
 
SPIEGEL: Nun verlangte nicht nur das Christentum Selbstzucht, auch Juden, Zoroastrier, Buddhisten und andere taten das.
 
Frankopan: Mag sein, aber von wem? Das Christentum trat ausdrücklich als nicht-elitär auf. Dadurch stand es über den sozialen Schranken, ja jenseits von ihnen. Es war subversiv und intern gemeinschaftsbildend zugleich, deshalb erschien es den Kaisern ja als so gefährlich. Und gewandt im Anpassen war es auch - zum Beispiel kennen wir ein Dokument, worin der Heilige Geist mit der Heiligkeit eines Buddha parallelisiert wird.
 
SPIEGEL: Ganz zu schweigen von hellenistischen Denkern wie Clemens von Alexandria um das Jahr 200, die dem Christentum mit seiner dem Volksglauben nahen Bildlichkeit philosophische Würde verliehen und es so auch für die Gebildeten akzeptabel machten.
 
Frankopan: Wir sollten auch nicht vergessen, dass das Christentum eine sehr menschliche Religion ist, dass es den Gläubigen auf seiner Lebensreise begleitet, dass es Mitteltöne zulässt, während es bei Zarathustra und Buddha doch eher um ein Schwarzweiß, um Reinigung vom irdischen Ballast und Leiden geht.
 
SPIEGEL: Konstantin der Große, der Gründer Konstantinopels und erste Imperator, der das Christentum als Glaubensrichtung anerkannte, war selbst bis kurz vor seinem Tod Verehrer des Sol invictus, huldigte also der Sonne als oberster Gottheit. War in solchen Kulten der Monotheismus angelegt?
 
Frankopan: Ach, das ist eher eine Streitfrage für Professoren. Sol invictus war eine von vielen Gottheiten im erstaunlich reichen, pluralen Spektrum antiker Religiosität. Wichtiger ist doch, dass die Evangelien bezeugten, Christus sei der Sohn Gottes. Und der wird hingerichtet! Und er überwindet den Tod! Dieser Sieg in der Niederlage rührt emotional an, er verbindet die Menschen viel existenzieller mit der Gottheit als der antike Glaube, wo Halbgötter, Dämonen und zahllose andere Zwischenwesen agieren. Alles in allem: Das Christentum scheint einfach ein attraktives Gesamtkonzept angeboten zu haben.
 
"Es gibt eine Menge Märtyrergeschichten"
 
SPIEGEL: Spielten aber nicht auch säkulare Faktoren eine Rolle? In Ihrer Weltgeschichte erzählen Sie, wie im Kaukasus das Christentum aufblühte, weil man sich so von den verhassten Sassaniden noch besser abgrenzte.
 
Frankopan: Man zeigte eben im Glauben seine Identität. Auch später erweist sich die armenische Christenheit dann als besonders eigenwillig.
 
SPIEGEL: Was antworten Sie auf die alte Streitfrage, ob das Christentum den Fall des Römischen Reiches mit verschuldet hat?
 
Frankopan: Das bezweifle ich. Die Völkerwanderung war eine Kettenreaktion, sie wurde durch Klimaveränderungen ausgelöst, die zu einem kriegerischen Druck von Steppenvölkern aus dem Nordosten führten. Als das Imperium unter den Angriffswellen in die Defensive geriet, war es im Inneren schon christlich; die Kaiser hatten sich ja für das Christentum entschieden, gerade weil sie es als stabilisierenden Faktor betrachteten.
 
SPIEGEL: Der Jesusglaube war in den frühen Jahrhunderten keineswegs normiert. Weiß man von Synkretisten, die mehreren Religionen zugleich oder einem Mischmasch huldigten?
 
Frankopan: Wenig - in der Regel achtete man auf Exklusivität. Aber es gibt Inschriften und Münzen aus dem Reich von Kuschan, dessen Zentrum in Nordwestindien und im Hindukusch lag, die zeigen, dass der Herrscher, obwohl er prinzipiell den Buddhismus förderte, sich als Erlöser, ja als Gottessohn darstellen ließ. Das mag politisch ein kluger Schachzug gewesen sein, aber natürlich ist es ebenso sehr eine spirituelle Aussage, in der offenbar christliche Elemente aufgegriffen sind.
 
SPIEGEL: Fanden Christenverfolgungen auch im Osten statt?
 
Frankopan: Ja, es gibt eine Menge Märtyrergeschichten, überwiegend aus der Sassanidenzeit. Wir müssen uns klarmachen, was das heißt: Die Menschen waren damals sicher geistig nicht beschränkter als heute. Sie entschieden sich meist sehr bewusst, einer Religion zu folgen. Fragen wie: "Worin finde ich Seelenfrieden, welcher Lehre vertraue ich?" konnten existenziell sehr wichtig sein.
 
SPIEGEL: Aber es waren doch nicht alle tief religiös?
 
Frankopan: Natürlich nicht. Die meisten im Perserreich werden das Glaubensproblem etwa so betrachtet haben, wie wohl heutige Europäer mehrheitlich denken: Es kümmerte sie kaum. Immer aber gab es lautstarke Minderheiten, die ihre Botschaften verkündeten und unablässig in Streit lagen.
 
SPIEGEL: Sie haben die Konkurrenz der Religionen einen Wettlauf genannt...
 
Frankopan: Ja, es gab große Konkurrenz um Anhängerschaft. Wenn zum Beispiel der Schah die Christen schützte, war das ein Durchbruch.
 
SPIEGEL: Gerade in den ersten Jahrhunderten traten neue, oft dualistisch geprägte Religionssysteme auf wie der Manichäismus oder die Verehrung des Stiertöter-Heilands Mithras. Musste das Christentum inmitten solcher Konkurrenz nicht unentwegt sein Profil schärfen?
 
Frankopan: Wenn es um Erlösung und den richtigen Weg zu Gott geht, dann gibt es kein Ungefähr. Alles muss stimmen: Was sagte Jesus wirklich? Wie ist ein Bibelspruch oder eine dogmatische Vorschrift zu verstehen? Oder jenseits der heiligen Schriften: Unter welchen Umständen darf jemand wieder heiraten? Darf ich meinen Sklaven auspeitschen? Wenn ein Kind vor der Taufe stirbt, kann es dennoch in den Himmel kommen? So fingen die Bischöfe an, in Streitschriften und Konzilien über Fragen zu debattieren, die uns heute manchmal furchtbar kleinkrämerisch vorkommen und selbst für Fachleute nicht leicht verständlich sind.
 
SPIEGEL: Riskierten sie damit nicht, viele Gläubige zu verschrecken?
 
Frankopan: Mag sein, aber in erster Linie rang man tatsächlich um die richtigen Antworten. Nun weiß jeder, der mal in einem Komitee saß, dass da Kompromisse nötig werden. Oft aber verheddert man sich auch in bizarren Sonderfällen. Die Bischöfe haben die Herausforderung insgesamt erstaunlich gut bewältigt. Schon bald nach dem Jahr 300 war der Klerus so einflussreich, dass man auf seine Beschlüsse achtete. Ketzerverfolgung wird ein wichtiger Weg, Autorität zu behaupten. Das zeigt sich noch Jahrhunderte später in den diversen Kirchen- spaltungen, vom Großen Schisma 1054 bis zur Reformation und weiter.
 
SPIEGEL: Ein entscheidender Schritt war die Ausbreitung des Christentums jenseits der dicht bevölkerten Zone von Gibraltar bis zum Ganges, etwa nach Norden. Steppenvölker, slawische Stämme, germanische Stämme, selbst Nomaden wurden missioniert. Warum gelang das den Christen besser als anderen Religionen?
 
Frankopan: Stadtbewohner neigen seit je dazu, auf Landbewohner herabzublicken, sie als dumme Bauern und wilde Barbaren zu verachten. Auch vom Christentum gab es eine Metropolen-Version für Intellektuelle, aber letztlich richtete sich seine Botschaft an alle Menschen. "Gehet hin und lehret alle Völker", hatte Jesus gesagt. Das trieb die Missionare an - samt der Aussicht, ein heiliges Werk zu verrichten, die eigene Seele zu retten und schlimmstenfalls als Märtyrer zu enden. Um 550 ist sogar auf der Insel Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, eine christliche Gemeinde bezeugt.

SPIEGEL: Aber war die christliche Lehre mit der Dreieinigkeit und anderen Formeln nicht schwieriger vermittelbar als etwa der Zarathustra-Glaube?

Frankopan: Im Prinzip ja. Dennoch hatten die Missionare viel Erfolg. Es waren wohl gute Prediger - eine bessere Erklärung habe ich auch nicht. Bisweilen passten sie ihre Lehre den örtlichen Bedingungen an, griffen buddhistische oder germanische Jenseitsvorstellungen auf.

SPIEGEL: Aber wie schafften sie es, dass schließlich sogar der Kaiser von China im Jahr 635 seine Abgrenzung aufgab und den christlichen Glauben als gleichberechtigt anerkannte?
 
Frankopan: Hartnäckigkeit, Zielbewusstheit? Genau weiß man es nicht. Aufseiten des Kaisers spielt vermutlich die Einsicht mit, dass es seine Stellung nicht schmälerte, sondern ihr zugutekam, wenn Handelspartner aus dem fernen Westen sich respektiert sahen.
 
SPIEGEL: Schon früh ist das weit nach Osten vorgedrungene Christentum von den theologischen Debatten im Westen abgekoppelt: Am Konzil von Nicäa 325 nehmen die persischen Christen nicht mehr teil. In vielen Kirchengeschichten wird der Osten nicht mehr erwähnt. Was geschah mit diesen Gemeinden?
 
Frankopan: Sie blühten weiter, und zwar erstaunlich lange. Als Ende des 15. Jahrhunderts die Portugiesen nach Indien vordrangen und etwas über Jesus und das Christentum erzählen wollten, bekamen sie zur Antwort: Hier steht doch unsere Kirche. Bis etwa 1300 gab es in Asien mehr Christen als in Europa. Noch der frühe Islam ließ die Christen oft unbehelligt; der Kalif hat Synagogen und christliche Kirchen wiederherstellen, teilweise sogar bauen lassen.
 
SPIEGEL: Weshalb?
 
Frankopan: Natürlich um der politischen Stabilität willen. Aber die sogenannten Schriftreligionen werden im Koran - mit seinem komplizierten, oft in sich widersprüchlichen Text - eben auch besonders behandelt. Den Glauben durch Furcht zu verbreiten, erschien unweise; Jerusalem und Alexandria ließen sich nicht einfach islamisch machen.
 
SPIEGEL: Das klingt jetzt aber milde. Wurde der Glaube des Propheten nicht in raschen, brutalen Eroberungszügen verbreitet?
 
Frankopan: Aus christlicher Sicht erschien das sicher so, und muslimische Historiker erzählen verständlicherweise vom Triumph des Islam. Natürlich gab es immer wieder Unterdrückung, aber nicht unentwegt und überall. Weit im Osten, etwa im zentralasiatischen Samarkand, schauen Muslime interessiert auf den Erfolg des christlichen Glaubens. In Tatarstan huldigt man nach der Eroberung äußerlich dem Islam, aber wenn die neuen Herren wegschauen, betet man wieder zum altvertrauten Sonnengott. Solche Mischungen, solche Durchlässigkeit wird es vielfach gegeben haben.
 
SPIEGEL: Als Historiker scheinen Sie mehr an Ähnlichkeiten und Kulturbeziehungen als am Schicksal einer Gruppe interessiert zu sein.
 
Frankopan: Gewiss - alles andere wäre einseitig und führte zu falschen Schlüssen. Darum ist mir die Sache mit dem Heiligenschein wichtig.
 
SPIEGEL: Was meinen Sie?

Frankopan: Wenige wissen, dass der Heiligenschein als Bildsymbol in erstaunlich vielen Religionen existiert: im Hinduismus, Buddhismus, Zoroastrismus und natürlich im Christentum. Da müssen gegenseitige Einflüsse am Werk sein. Genau wird sich das nicht mehr aufklären lassen. Aber der Sachverhalt genügt eigentlich. Wer so etwas weiß, dem wird klar, dass Religionen sich unentwegt gegenseitig anregen und die spirituelle Suche des Menschen immer neue Formen findet.
 
SPIEGEL: Professor Frankopan, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Samstag, 27. April 2019

Amazonien wurde von Ackerbauern neu besiedelt.

Spuren einer alten Siedlung: eine verdächtige Bauminsel
aus spektrum.de, 25.04.2019

Menschen siedelten schon früh auch in Amazonien
Bisher dachte man: Menschen kamen vielleicht schon früh nach Südamerika, siedelten aber erst spät, zumindest im Amazonasgebiet. Oder hat man frühe Spuren bisher einfach übersehen? 

von Jan Osterkamp

Womöglich haben Menschen schon viele Jahrtausende früher als gedacht feste Siedlungen im Amazonasbecken gebaut. Das schließen Forscher um José Capriles von der Pennsylvania State University zumindest aus Indizien, die sie bei gezielten Grabungen in Bolivien ans Licht gebracht haben: Sie fanden Spuren von Herdfeuern, verbrannter Erde und Kohle, Scherben und menschliche Überreste in Bodenschichten, die bis zu knapp 7000 Jahre alt waren.

Die Funde lagen in etwa zwei Meter Tiefe inmitten von drei »Waldinseln« – verdächtig runden, durch ihre typische Vegetation abgehobenen Arealen, die Archäologen als Hinweise darauf deuten, dass hier vor langer Zeit eine menschliche Siedlung gelegen hat. Die dort entdeckten Toten waren nach der Analyse ihres Gebisses wohl recht alt geworden und hatten sich eher vielfältig ernährt. In noch tieferen Schichten bargen die Ausgräber größere Mengen von Knochen von Jagdwild, Fischgräten und Weichtierschalen. Offenbar könnten vor Ort also schon ab einer Zeit vor 10 000 Jahren Menschen dauerhaft gelebt haben, spekulieren die Wissenschaftler in ihrer Studie im Fachblatt »Science Advances«.

Bestattung in Amazonien

In der bolivianischen Grabungsstelle bei La Chacra fanden die Archäologen menschliche Überreste in rund zwei Meter Tiefe. Der Tote ist hier wohl vor 6250 bis 6820 Jahren beerdigt worden. Die Funde aus noch tieferen Schichten zeigen, dass hier Jäger und Sammler über einen langen Zeitraum gesiedelt haben.
 
Dies wäre ein Hinweis auf eine deutlich frühere Sesshaftigkeit als bisher: Man ist zwar anders als noch vor einigen Jahren auf Grund vieler Untersuchungen mittlerweile sicher, dass im Amazonasgebiet größere Siedlungen durchaus existiert haben und Menschen Landwirtschaft mit Maniok, Erdnüssen und Süßkartoffel getrieben haben. Allerdings hatte man vermutet, dass diese sesshaften Kulturen frühestens kurz vor der Zeitenwende entstanden sind, obwohl Menschen schon vor 13 000 bis 17 000 Jahren durch Amazonien gezogen sein dürften.

Spektrum Kompakt:  Amazonien – Lebensraum am mächtigsten Fluss der Erde
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Die neuen Funde weisen darauf hin, dass einig Gruppen sich deutlich früher als gedacht auf Dauer an einem Ort einrichten konnten. Dabei handelte es sich jedoch kaum um agrarisch geprägte Siedlungen, sondern mehr um dauerhafte Zentren von Jägern und Sammlern, schließen Capriles und Co. Als direkte Vorläufer späterer Agrarkulturen kommen die uralten Siedler eher nicht in Frage: Die einstigen Siedlungen waren schon einige Jahrhunderte aufgegeben, als sich die Landwirtschaft im Amazonasbecken durchgesetzt hat.


Nota. - Der tropische Regenwald ist die Landschaft, aus der die Gattung Homo ursprünglich stammt. Sie hat sie verlassen und ist in die offene Savanne übergelaufen - und hat dabei den aufrechten Gang erworben, der für den Urwald viel weniger geeignet ist als das ursprüngliche Klettern. Die typische Lebensweise in der Savanne ist aber das Wandern.

In Südamerika sind - wie in Afrika - Menschengruppen später in den Urwald zurückgekehrt. Aus welchen Gründen, ist ungeklärt, und womöglich waren sie von Fall zu Fall verschieden. Doch konnten sie die wandernde Lebensweise aus der Savanne hier nicht beibehalten, das lässt die Topik nicht zu. Sie mussten sich in dauernden Lagern festsetzen - aber ganz ohne Ackerbau: Sie lebten wir in der Savanne als Jäger und Sammler, die nur selten ihren Siedlungsort wechselten. Den Übergang vom Sammeln zu regulärem Hackbau ließ vermutlich (?) die Vegetation nicht zu. Eine autochthone Entwicklung zum Ackerbau fand jedenfalls nicht statt.


 Ackerbau wurde im Amazonaswald erst eingeführt von Populationen, die bereits über entwickelte Technik zur Kultivierung des Bodens verfügten, namentlich die Verwendung von Feuer zur Rodung und Asche zum Düngen; und über eine entwickelte Arbeitsteilung, die die Urbarmachung größerer Flächen erlaubte. Ob der Niedergang der Amazonaszivilisation schon vor dem Eintreffen der Europäer begonnen hat, ist noch ungeklärt. Nicht einmal über das Ausmaß der Besiedlung im gesamten Amazonasbecken gibt es begründete Annahmen.
JE





 

Donnerstag, 25. April 2019

Ursprung ostasiatischer Sprachen.

aus Die Presse, Wien,

Am Gelben Fluss lag die Urheimat von über 400 Sprachen
Nach der indoeuropäischen Sprachfamilie ist die sinotibetische die zweitgrößte. Linguisten in Shanghai zeigen nun, dass die Mutter dieser Familie vor ungefähr 6000 Jahren im nördlichen China gesprochen wurde – und sich mit den Bauern von dort ausbreitete.



Wie Wanderlust, Weltschmerz und Zeitgeist ist auch Urheimat ein Wort, das es aus dem Deutschen ins Englische geschafft hat – zumindest in wissenschaftliche Arbeiten über Linguistik. Es bedeutet die Weltgegend, in der einst eine – längst nicht mehr lebendige – Protosprache gesprochen wurde, deutscher gesagt: die Urmutter einer Sprachfamilie. Am häufigsten wird es für die Sprachfamilie verwendet, zu der Deutsch und Englisch gehören: die indoeuropäische. Sie ist mit drei Milliarden Muttersprachlern heute die am weitesten verbreitete Sprachfamilie. Ihre Urheimat liegt vermutlich in der heutigen Türkei, von dort sollen sich Bauern vor ca. 9000 Jahren ausgebreitet haben – und mit ihnen das Ur-Indoeuropäisch, das sie sprachen.


Auf Platz zwei folgt mit eineinhalb Milliarden Sprechern die sinotibetische Familie, zu der man über 400 Sprachen zählt, die vor allem in Ostasien gesprochen werden. Über ihre Urheimat – für Leser, die dieses Fachwort nicht verstehen, auch als „area of origin“ übersetzt – schreiben nun Linguisten um Li Jin (Fudan University, Shanghai) in Nature (24. 4.). Sie haben dazu Wörter aus 109 sinotibetischen Sprachen analysiert. 

Ähnlich wie man aus dem Vergleich von Genen auf die Verwandtschaft von Lebewesen schließt, kann man ja aus der Verwandtschaft von Wörtern – wenn nicht Lehn- und Fremdwörter das Bild verzerren – auf die Verwandtschaft der Sprachen schließen, man denke an das (mittlerweile veraltete) Schema, die indoeuropäischen Sprachen nach den Wörtern für die Zahl 100 in Kentum- und Satemsprachen einzuteilen.

Bei den sinotibetischen Sprachen drängt sich eine Teilung in zwei Untergruppen auf. Zu den sinitischen Sprachen gehören zwar nur acht, einander sehr ähnliche Sprachen. Darunter ist aber Mandarin mit fast 900 Millionen Muttersprachlern (zum Vergleich: 330 Millionen haben Englisch als Muttersprache). Viel stärker aufgesplittert ist die zweite Gruppe: Man kennt 330 tibetobirmanische Sprachen, die aber nur von insgesamt 70 Millionen gesprochen werden. Am häufigsten ist noch das Birmanische, die Amtssprache in Myanmar, mit 35 Millionen.


Auf Chinesisch wird nicht dekliniert

Die beiden Untergruppen sind auch vom Typus her ziemlich unterschiedlich: Die sinitischen Sprachen sind isolierend, kennen also keine Flexion von Wörtern; die tibetobirmanischen Sprachen sind oft agglutinierend. Das heißt: Die grammatische Funktion eines Wortes wird durch angehängte Affixe ausgedrückt (das kennen wir zum Beispiel vom Türkischen und Ungarischen.)

Wann und wo haben sich also diese beiden Gruppen auseinanderentwickelt? Da gibt es zwei Thesen: vor 4000 bis 6000 Jahren im Becken des Gelben Flusses, also im nördlichen China; oder vor 9000 bis 10.000 Jahren, entweder im südwestlichen China oder in Nordostindien. Für die zweite These spricht, dass dort die Vielfalt der tibetobirmanischen Sprachen besonders groß ist.

Doch die Analyse der Linguisten um Li Jin spricht eindeutig für die erste These – und das passt gut zur Archäologie: Vor ca. 6000 Jahren begannen die Menschen am Gelben Fluss mit dem Anbau von Hirse. Viel Wald wurde gefällt, die Menschen wurden sesshaft, die Bevölkerung wuchs rasch. Neolithische Revolution nennt man das, eine solche hat in etlichen Weltgegenden zu unterschiedlichen Zeiten stattgefunden. Ganz typisch für eine solche ist, dass Bauern – weniger aus Wanderlust, vielmehr aufgrund der wachsenden Bevölkerung – aus ihrer Heimat auswandern und neue Heimaten suchen, in die sie ihre Kenntnisse der Landwirtschaft mitbringen. Und eben auch ihre Sprache.


Mittwoch, 17. April 2019

Lässt die Nachrichtenflut die Aufmerksamkeit abstumpfen?

aus Die Presse, Wien, 17.04.2019
 
Wir treiben die Sau immer schneller durchs Dorf
Erstmals bewiesen: Die wachsende Flut an Themen verkürzt unsere kollektive Aufmerksamkeit für sie.
 

Notre-Dame brennt: Das bewegte am Montag die ganze Welt. Morgen ist es schon fast vergessen. Wir werden rund um die Uhr mit immer neuen Themen bombardiert, vor allem über soziale Medien. Da kann sich der einzelne Aufreger nicht mehr lang halten. Viele haben das im Gefühl, es klingt plausibel, aber erforscht war es bisher nicht. Das sollte uns skeptisch machen. Vor vier Jahren ging die Meldung um die Welt, unsere individuelle Aufmerksamkeitsspanne – die Fähigkeit, uns auf etwas zu konzentrieren – sei seit dem Jahr 2000 von zwölf auf acht Sekunden gesunken und damit nun kürzer als bei Goldfischen. Das waren Fake News. Gut, dass es die meisten rasch vergessen haben. 

Aber jetzt liefert ein dänisch-irisch-deutsches Team von Forschern den Nachweis, dass unsere kollektive Aufmerksamkeitsspanne – wie lang ein Thema „in aller Munde“ ist – tatsächlich sinkt (in Nature Communications, 15. 4.).

Zunächst haben sie empirische Daten gesammelt, mit Twitter beginnend: Im Jahr 2013 konnte sich ein Hashtag im Schnitt noch 17,5 Stunden im Ranking der 50 global am meisten verwendeten halten, 2016 waren es nur mehr 11,9 Stunden. Aber der Trend ist älter und nicht auf soziale Netzwerke beschränkt. Untersucht wurde etwa auch, wie rasch sich die Häufigkeit von Fünf-Wörter-Blöcken (wie etwa „der Brand von Notre-Dame“) in Büchern der vergangenen 100 Jahre ändert oder wie schnell sich seit 40 Jahren die Blockbuster an US-Kinokassen ablösen. Alles wird kurzlebiger. 

Allerdings stumpft unsere Begeisterungsfähigkeit nicht ab: Auf dem Höhepunkt interessieren sich nicht weniger Menschen für ein Thema. Was treibt also die Entwicklung? Um das zu klären, haben die an der Studie beteiligten Mathematiker ein einfaches Modell erstellt. Es liefert dann die besten Ergebnisse – nämlich ganz nah an den empirischen Daten –, wenn es nur eine erklärende Variable enthält: die steigende Menge an Informationen, die Medien generieren und Leser konsumieren.

Schnell erregt, schnell gelangweilt

Im Ganzen ergibt sich aus Modell und Empirie folgendes Bild: Die Kapazität unserer kollektiven Aufmerksam- keit ist begrenzt. Es strömen mehr Informationen auf uns ein, sie sind viel schneller in aller Munde. Aber damit ist auch der Speicher in kürzerer Zeit voll. Das zeigt sich daran, dass uns ein Thema bald langweilt („war ja schon gestern“) und sich der Durst nach Neuem rascher wieder regt. So steil die Popularität einer Nachricht ansteigt, so brutal stürzt sie gleich wieder ab. Die Konkurrenz der Themen sorgt dafür, dass der nächste Aufreger gleich zur Hand ist und sofort durchstarten kann.

Ist das schlimm? Vielleicht kann sich unser Hirn an die neue Situation gut anpassen. Vielleicht aber lässt die News-Flut auch viele überfordert und orientierungslos zurück – angefangen bei den Journalisten selbst, die sie verbreiten. Wie lassen sich schädliche Effekte abmildern? Die Studie zeigt: Es gibt einen Bereich, der von der Schnelllebigkeit verschont geblieben ist – die Wissenschaft. Das Interesse an Wikipedia-Einträgen und Artikeln in Fachzeitschriften unterliegt nicht den heute üblichen hektischen Zyklen. Wie gut also, dass Sie diesen Artikel zu Ende gelesen haben. Sie werden sich noch morgen daran erinnern.


Nota. - Die Frage, wie lange ein Thema im Mittelpunkt öffentlicher Beachtung steht, geht eigentlich nur Jour- nalisten und Politiker an - und die Demoskopen, die ihnen zuarbeiten. Auf die Dauer aber wird entscheiden, wie lange - ja - etwas im Gedächtnis gespeichert bleibt, und - vor allem - unter welchem Wichtigkeitsgrad es dort verzeichnet ist. Denn davon hängt ab, wie lange und wie stark es die Entscheidungen der Personen prägen wird.

Dass das ein anderes Feld ist als das Vorbeijagen der Neuigkeiten zeigt ausgerechnet die anhaltende Aufmerk- samkeit für wissenschaftliche Facheinräge; und die geben sich so schnell die Klinke in die Hand wie die Faits divers. Aber die werden eher individuell beachtet als kollektiv, oder?
JE

Montag, 15. April 2019

Der Aufbau Ost ist eine Erfolgsgeschichte.

 aus welt.de, 5. 4. 2019                                                                          Dresden

Das Ruhrgebiet ist das neue Armenhaus DeutschlandsTeile Deutschlands werden sich weiter entvölkern, warnen Forscher. Während die am wenigsten zukunftsfähigen Kreise im Westen liegen, haben sich Teile Ostdeutschlands überraschend gut entwickelt. Doch auch ihre Erfolgsgeschichte ist akut gefährdet.



Deutschlands Bevölkerung schrumpft und altert, das ist bekannt. Oder doch nicht? Eine aktuelle Untersuchung bestätigt jetzt, was sich schon seit Längerem abzeichnet: Die verstärkte Zuwanderung vor allem aus dem EU-Ausland und ein überraschender, seit Jahren anhaltender Babyboom sorgen dafür, dass die Bevölkerung hierzulande bis zum Jahr 2035 stabil bleiben wird.

Dann werden in Deutschland 82,3 Millionen Menschen leben, schreiben die Autoren der aktuellen Bevölkerungsprognose des gemeinnützigen Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Die Bevölkerung sinke damit um weniger als ein Prozent und weit weniger stark als lange erwartet.

Diese überraschend positive Entwicklung kann allerdings nicht verhindern, dass Teile des Landes weiter entvölkern, warnen die Forscher. Es sei absehbar, dass vor allem in ländlichen Gebieten und ganz besonders denen in Ostdeutschland die Bevölkerung weiter schrumpfen und überdurchschnittlich stark altern werde.

 
Quelle: Infografik WELT

Die Autoren der Studie sprechen gar von „demografischen Krisenregionen“ in Ostdeutschland. Einzelne Landkreise in Brandenburg und Sachsen-Anhalt, die jetzt schon dünn besiedelt und überdurchschnittlich alt sind, könnten bis 2035 ein Viertel ihrer jetzigen Bevölkerung verlieren.
 
Die Großstädte hingegen, die mit ihren Hochschulen und innovativen Unternehmen jetzt schon Magnete vor allem für junge Menschen sind, wüchsen weiter, heißt es von den Forschern des CIM, die im Auftrag des Berlin-Instituts die Berechnungen angestellt haben. Die großen Metropolen und Uni-Städte wie Heidelberg, München, Frankfurt am Main, Münster und Regensburg profitieren dabei doppelt: Die Bevölkerungen wachsen nicht nur, sie sind auch überdurchschnittlich jung.


Quelle: Infografik WELT  

Stadt boomt, Land schrumpft – diese Entwicklung wird in den kommenden Jahrzehnten eine der dominierenden Trends hierzulande sein und Jobs, Mieten, Gesundheitsversorgung und viele weitere Lebensbereiche beeinflussen. Dabei gebe es eine relativ einfache Regel, um die Entwicklung vorherzusagen, sagt Manuel Slupina, Leiter der Abteilung Demografie am Berlin-Institut: „Je entlegener eine Region, desto stärker der Bevölkerungsrückgang.“ 

Von der Regel gibt es allerdings auch Ausnahmen: Die Landkreise Cloppenburg, Emsland und Vechta in Niedersachsen gehören dazu. Abseits gelegen und in Grenznähe, galten sie vor einigen Jahrzehnten als armutsgefährdet. 

„Der Aufbau Ost ist eine Erfolgsgeschichte“
 
Das ist vorbei: Ausgerechnet um die Landwirtschaft herum haben findige Unternehmer dort äußerst profitable Wertschöpfungsketten aufgebaut. Es gibt dort Jobs, gute Einkommen und offenbar eine hohe Lebensqualität: Die Familien hier haben viele Kinder, und junge Menschen aus der Region kommen nach Studium und Ausbildung zurück, um Familien zu gründen.
 
Kein Wunder, dass die Region den Forschern auch als besonders zukunftsfähig gilt: Um herauszufinden, wie gut alle 401 Landkreise und kreisfreien Städte hierzulande auf die kommenden Jahrzehnte vorbereitet sind, haben die Wissenschaftler Wirtschaftsdaten, Bevölkerungsentwicklung und soziale Infrastruktur untersucht.


Quelle: Infografik WELT

Wenig verblüffend landen Landkreise aus Bayern und Baden-Württemberg in der Rangliste der Kreise mit den besten Zukunftsaussichten ganz weit vorne. Erstaunlich allerdings ist deren Dominanz: Von den 20 am besten aufgestellten Kreisen hierzulande liegen 19 in den beiden wirtschaftsstarken süddeutschen Bundesländern; allein die Stadt München und drei angrenzende Landkreise belegen vier der sechs ersten Plätze.

Lediglich auf Platz 15 taucht eine Stadt aus einem anderen Bundesland auf: Dresden. Die sächsische Kulturmetropole sei dynamischer als häufig vermutet, sagt Institutschef Klingholz. Frauen bekommen dort überdurchschnittlich viele Kinder, was für eine familienfreundliche Stadt spreche, die Universität ziehe viele junge Leute an, und um Dresden habe sich eine florierende Hightech-Industrie gebildet. Jeder zweite in Europa hergestellte Mikrochip komme beispielsweise aus Silicon Saxony

Das Ruhrgebiet hat den Niedergang von Kohle und Stahl bis heute nicht wirtschaftlich verkraftet
Das Ruhrgebiet hat den Niedergang von Kohle und Stahl bis heute nicht wirtschaftlich verkraftet

Die gute Lage in Dresden unterstreicht einen der zentralen Befunde der Untersuchung, den Institutsleiter Klingholz bei der Vorstellung der Ergebnisse mehrfach betont: „Der Aufbau Ost ist eine Erfolgsgeschichte.“ Das zeigt ein Blick auf die am wenigsten zukunftsfähigen Kreise. Bei der vorletzten Untersuchung dieser Art aus dem Jahr 2006 lagen 19 der 20 am schlechtesten bewerteten Kreise in Ostdeutschland. Im Jahr 2011 waren es nur noch 14, und in diesem Jahr sind es nur noch fünf. 
 
Am Ende des Rankings finden sich jetzt Kreise und Städte aus dem Ruhrgebiet und dem Saarland. „Der Osten holt auf, aber dem Aufbau Ost steht ein Abstieg West gegenüber“, sagt Klingholz.  

Die Armenhäuser Deutschlands lägen nicht mehr im Osten wie nach der Wende, sondern in Westdeutschland, in den Regionen, wo der Niedergang von Kohle und Stahl bis heute nicht wirtschaftlich verkraftet ist: im Ruhrgebiet und im Saarland. 

München  
Deutschland – wie es sich verändert hat
   
Die demografische Entwicklung könnte die ostdeutsche Erfolgsgeschichte allerdings gefährden, denn die Zuwanderung und der aktuelle Babyboom werden die Alterung hierzulande nicht aufhalten. So wird die erwerbsfähige Bevölkerung in Deutschland weiter schrumpfen, und das wird besonders Ostdeutschland treffen, wo nach der Wende viele junge Menschen in den Westen gezogen sind und die Geburtenraten in den Keller sackten.
 
Dem Osten gehen die Menschen aus, und das könnte zum Problem werden, wenn Firmen kein Personal mehr finden. Schon heute sind in vielen Regionen in Ostdeutschland Arbeitskräfte knapp, und wenn sich diese Situation verschärft, könnten Unternehmen gezwungen sein, zu schließen oder Produktion in andere Regionen zu verlagern. „Das Thema Zuwanderung ist in einigen Gebieten in Ostdeutschland viel dringender als anderswo“, sagt Klingholz. „Wer in Dresden mit einem Transparent auf die Straße geht, sollte nicht weniger Migration fordern, sondern mehr davon.“


Nota. - Dass die Milliarden aus dem Westen die Landschaften nicht über Nacht erblühen ließen, war zu erwar- ten; auch wenn jede Mark in die richtigen Hände gekommen wäre. Viele Junge wollten nicht abwarten und sind in den Westen gegangen. Jetzt blühen die Landschaften, aber die Jungen fehlen, und so welken sie vielleicht bald wieder. Und es wird wieder heißen, der Westen war schuld.
JE