Donnerstag, 25. April 2019

Ursprung ostasiatischer Sprachen.

aus Die Presse, Wien,

Am Gelben Fluss lag die Urheimat von über 400 Sprachen
Nach der indoeuropäischen Sprachfamilie ist die sinotibetische die zweitgrößte. Linguisten in Shanghai zeigen nun, dass die Mutter dieser Familie vor ungefähr 6000 Jahren im nördlichen China gesprochen wurde – und sich mit den Bauern von dort ausbreitete.



Wie Wanderlust, Weltschmerz und Zeitgeist ist auch Urheimat ein Wort, das es aus dem Deutschen ins Englische geschafft hat – zumindest in wissenschaftliche Arbeiten über Linguistik. Es bedeutet die Weltgegend, in der einst eine – längst nicht mehr lebendige – Protosprache gesprochen wurde, deutscher gesagt: die Urmutter einer Sprachfamilie. Am häufigsten wird es für die Sprachfamilie verwendet, zu der Deutsch und Englisch gehören: die indoeuropäische. Sie ist mit drei Milliarden Muttersprachlern heute die am weitesten verbreitete Sprachfamilie. Ihre Urheimat liegt vermutlich in der heutigen Türkei, von dort sollen sich Bauern vor ca. 9000 Jahren ausgebreitet haben – und mit ihnen das Ur-Indoeuropäisch, das sie sprachen.


Auf Platz zwei folgt mit eineinhalb Milliarden Sprechern die sinotibetische Familie, zu der man über 400 Sprachen zählt, die vor allem in Ostasien gesprochen werden. Über ihre Urheimat – für Leser, die dieses Fachwort nicht verstehen, auch als „area of origin“ übersetzt – schreiben nun Linguisten um Li Jin (Fudan University, Shanghai) in Nature (24. 4.). Sie haben dazu Wörter aus 109 sinotibetischen Sprachen analysiert. 

Ähnlich wie man aus dem Vergleich von Genen auf die Verwandtschaft von Lebewesen schließt, kann man ja aus der Verwandtschaft von Wörtern – wenn nicht Lehn- und Fremdwörter das Bild verzerren – auf die Verwandtschaft der Sprachen schließen, man denke an das (mittlerweile veraltete) Schema, die indoeuropäischen Sprachen nach den Wörtern für die Zahl 100 in Kentum- und Satemsprachen einzuteilen.

Bei den sinotibetischen Sprachen drängt sich eine Teilung in zwei Untergruppen auf. Zu den sinitischen Sprachen gehören zwar nur acht, einander sehr ähnliche Sprachen. Darunter ist aber Mandarin mit fast 900 Millionen Muttersprachlern (zum Vergleich: 330 Millionen haben Englisch als Muttersprache). Viel stärker aufgesplittert ist die zweite Gruppe: Man kennt 330 tibetobirmanische Sprachen, die aber nur von insgesamt 70 Millionen gesprochen werden. Am häufigsten ist noch das Birmanische, die Amtssprache in Myanmar, mit 35 Millionen.


Auf Chinesisch wird nicht dekliniert

Die beiden Untergruppen sind auch vom Typus her ziemlich unterschiedlich: Die sinitischen Sprachen sind isolierend, kennen also keine Flexion von Wörtern; die tibetobirmanischen Sprachen sind oft agglutinierend. Das heißt: Die grammatische Funktion eines Wortes wird durch angehängte Affixe ausgedrückt (das kennen wir zum Beispiel vom Türkischen und Ungarischen.)

Wann und wo haben sich also diese beiden Gruppen auseinanderentwickelt? Da gibt es zwei Thesen: vor 4000 bis 6000 Jahren im Becken des Gelben Flusses, also im nördlichen China; oder vor 9000 bis 10.000 Jahren, entweder im südwestlichen China oder in Nordostindien. Für die zweite These spricht, dass dort die Vielfalt der tibetobirmanischen Sprachen besonders groß ist.

Doch die Analyse der Linguisten um Li Jin spricht eindeutig für die erste These – und das passt gut zur Archäologie: Vor ca. 6000 Jahren begannen die Menschen am Gelben Fluss mit dem Anbau von Hirse. Viel Wald wurde gefällt, die Menschen wurden sesshaft, die Bevölkerung wuchs rasch. Neolithische Revolution nennt man das, eine solche hat in etlichen Weltgegenden zu unterschiedlichen Zeiten stattgefunden. Ganz typisch für eine solche ist, dass Bauern – weniger aus Wanderlust, vielmehr aufgrund der wachsenden Bevölkerung – aus ihrer Heimat auswandern und neue Heimaten suchen, in die sie ihre Kenntnisse der Landwirtschaft mitbringen. Und eben auch ihre Sprache.


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