Freitag, 20. Februar 2015

Auch Krankheiten gehen mit der Zeit.

aus nzz.ch, 19.2.2015                                                                                                                   Daumier, Le Malade imaginaire

Lexikon moderner Störungen
Krankheiten im Wandel der Zeit

Ronald D. Gerste ⋅ Die Zeiten waren schon immer hart. So litt man im späten 19. Jahrhundert gerne an Neura-sthenie, einer nervlichen Erschöpfung. Was die typischen Gesundheitsstörungen im frühen 21. Jahrhundert sind, lässt sich im «Lexikon der modernen Krankheiten» nachlesen. Mit wissenschaftlicher Akribie wird darin ein bunter Strauss von Gesundheitsstörungen vorgestellt.

Dabei kann das, was wir unserer Moderne – ein relativer Begriff, haben doch frühere Zeitgenossen ihre Epoche ebenfalls als unschlagbar modern empfunden – an gesundheitlichem Tribut zollen, durchaus erschrecken. Viele der systematisch (mit Begriffserklärung, Geschichte, Symptomatik, Therapie und Fachliteratur) dargestellten Leiden sind längst im Allgemeinbewusstsein verankert. Dazu zählen etwa das Burnout-Syndrom (der legitime Nachfolger der Neurasthenie), der Hörsturz, die Bulimie, Lebensmittelallergien oder die Amalgam-Intoxikation bei Zahnfüllungen aus der Quecksilberzeit.

Manch anderes mag dem nicht betroffenen Laien wie eine Satire vorkommen: die Arbeitsplatzphobie, die generalisierte Heiterkeitsstörung, pathologisches Kaufen oder der SMS-Daumen (eine Sehnenscheidenent- zündung). Für die Patienten indes sind diese Leiden real und oft belastend – vor allem, wenn man ungern über sie spricht, wie dies etwa bei Dyspareunie (Schmerzen bei der körperlichen Vereinigung) oder einer neurogenen (überaktiven) Blase der Fall sein dürfte. Einige psychogene Störungen sind unzweifelhaft auf die Ausbreitung des Internets zurückzuführen, das Anfällige offenbar ähnlich krank machen kann wie die grosse Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, die Eisenbahn, ihre psychosomatischen Opfer fand.

Dass es so viele moderne Krankheiten gebe, zeige auch, dass in der Medizin und im Verständnis davon, was Krankheit sei, ein stetiger Wandel stattfinde, sagt der Basler Augenarzt Josef Flammer. Im Laufe der Zeit werde sich die Spreu vom Weizen trennen, das heisst die tatsächlichen Störungen von modischen Befindlichkeiten differenzieren. Flammer selbst findet sich ebenfalls im Lexikon – er hat eine als Flammer-Syndrom bekannte Regulationsstörung der kleinen Blutgefässe beschrieben, die zu einer Sonderform des grünen Stars prädisponieren kann.

In einigen Fällen hat eine etablierte Störung einfach einen neuen Namen bekommen, so etwa die seit Jahrtausenden bekannte Hautkrankheit Vitiligo, die mit weissen Flecken einhergeht und die nun, mit einem Hauch von Bösartigkeit gegenüber dem Frühverstorbenen, Michael-Jackson-Syndrom heisst.

Moderne Krankheiten werden nicht nur durch die von Patienten beschriebenen Symptome und von Ärzten objektivierbar gemachten klinischen Zeichen definiert. Die Herausgeber weisen auch auf Versuche der pharmazeutischen Industrie hin, «zu bestehenden Medikamenten Krankheitsbilder zu erfinden». Dazu zählen offenbar das Aging-Male-Syndrom, das mit Testosteron behandelt werden solle, und das Sissi-Syndrom, eine (vermeintliche) Erkrankung aus dem depressiven Formenkreis.

Überhaupt sind die Herausgeber des Buches Freunde eines hintersinnigen Humors. Zwei der Krankheiten im Lexikon, so räumen sie im Vorwort launig ein, hätten sie kurzerhand erfunden. Da kann beim Leser wahrlich keine Dysthymie, eine mit «schlechter Laune» kaum adäquat übersetzte Verstimmung mit dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, aufkommen.

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