aus NZZ, 21. 1. 2014 Edvard Munch, Selbstporträt 1915
Überreizte Nervensysteme
Überforderung, Erschöpfung, Furcht - Wolfgang Martynkewicz über die Zeit um 1900
Überforderung, Erschöpfung, Furcht - Wolfgang Martynkewicz über die Zeit um 1900
von Lea Haller · Es gehört zu den kleinen narzisstischen Überheblichkeiten unserer Zeit, dass wir denken, unsere Belastungen unterschieden sich radikal von allem Vorhergegangenen. Beschleunigung, Dauerweiterbildung, Informationsflut, die Durchdringung unseres Alltags mit Rechnerleistung, dazu soziale Umbrüche, die es zu verdauen gilt, neue Arbeitswelten, neue Familienmodelle, ein neuer Kapitalismus, ein neues Europa - wir sind erschöpft. Stress und Burnout sind unser Markenzeichen und werden in populärer Literatur zuhauf diagnostiziert. Ein Arsenal an Wellnessangeboten richtet sich an die Erholungsbedürftigen. In dieser Situation lohnt es sich, einen Blick zurückzuwerfen: War vor uns auch schon jemand müde?
Seuchen, Börsenkrach, Kriege
Ja, und wie. In «Das Zeitalter der
Erschöpfung» liefert Wolfgang Martynkewicz keine weitere Bestätigung
derzeitiger Stressdiagnosen, sondern eine Rückblende auf die
gesellschaftlichen Nöte um 1900. Denn bereits damals grassierte eine
überwältigende «Überforderung des Menschen durch die Moderne» (so der
Untertitel des Buches), die kaum jemanden verschonte. Nicht nur die
empfindsamen Seelen und schwächlichen Konstitutionen von Franz Kafka
oder Rainer Maria Rilke wurden von Ermüdung, Nervosität und plötzlicher
Erschöpfung heimgesucht, es traf auch scheinbar so standfeste Personen
wie Otto von Bismarck, Cosima Wagner und Max Weber. Die ganze
Gesellschaft lebe in einer sich geradezu pandemisch ausbreitenden Furcht
und Ängstlichkeit, hielt der Psychiater Richard von Krafft-Ebing 1880
fest, vor lauter Sorge kämen die Menschen gar nicht mehr zum ruhigen
Genuss ihres Daseins. Sie fürchteten sich «vor Seuchen, politischen
Umwälzungen, Börsenkrachs, Kriegen, vor dem Socialismus u. a.
schrecklichen Dingen»; und diese wachsende Furcht führe zu einem
«erregten und überreizten Nervensystem», das grosse Mengen an Energie
verbrauche, so dass der Mensch immer kraftloser werde.
In lose aneinandergereihten
Kapiteln und durchwegs assoziativ verfolgt Martynkewicz dieses Reden
über Neurasthenie, die minuziösen Beschreibungen der Symptome, die
Szenarien des sozialen Zerfalls und die Lösungsversprechen und
Heilsangebote. Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Hugo von
Hofmannsthal, Herrmann Bahr, Thomas Mann und Oswald Spengler kommen
ebenso zu Wort wie Vertreter der Lebensreformbewegung, die den Weg zu
einem neuen, gesünderen und leistungsfähigeren Menschen weisen wollten,
aber auch Eugeniker wie Alfred Ploetz, Alfred Grotjahn oder die
Reformpädagogin Ellen Key, die einer Verbesserung des angeblich
degenerierten «Menschenmaterials» durch aktive Selektionsmassnahmen und
Rassenhygiene das Wort redeten.
Im Gegensatz zu den unlängst
erschienenen Büchern von Mark Jackson («The Age of Stress. Science and
the Search for Stability», Oxford University Press) und Patrick Kury
(«Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum
Burnout», Campus) lässt dasjenige von Martynkewicz allerdings kein
tiefergehendes historisches Interesse erkennen, sondern eher ein
voyeuristisches. Die zahlreichen, über weite Strecken geführten Zitate
wirken - zumal bei fehlendem Kontext - eher ermüdend. Mehr zufällig
gelingt es dem Autor, einige der losen Fäden zu verknüpfen.
Krankheit am Leben
Ein solcher Knotenpunkt ist der
Münchner Naturmediziner Ernst Schweninger, der seinen Patienten
(darunter Bismarck) ein individuell zugeschnittenes
Lebensführungsprogramm auferlegte, mit detaillierten Ernährungs-,
Bewegungs- und Verhaltensvorschriften. Der Arzt wurde im Zeitalter der
Erschöpfung zum Soziologen und zum Phänomenologen. Denn die Erschöpfung,
so Martynkewicz, sei weder eine Krankheit des Körpers noch eine
Krankheit der Seele gewesen, sondern eine Krankheit am Leben: Der
erschöpfte Mensch lebte nicht «richtig», er musste sein Leben
korrigieren, um zu sich selbst zurückzufinden.
Das versuchte er um 1900 mit
Abhärtung, Kuraufenthalten, Arbeitseifer, Turn- und Atemübungen,
Aufputschmitteln, Vegetarismus, verjüngenden Organextrakten, Askese,
Nackt- und Freiluftkultur. Und das versucht er heute mit Diäten,
Leistungssport, mentalem Training, Wellness-Reisen, Schlafmitteln und
dem Bemühen um die optimale Work-Life-Balance. Da sich all diese
Therapieangebote auf das Selbst richten, so das Fazit von Martynkewicz,
verfehlen sie allerdings schon im Ansatz ihr Ziel. Denn das Zeitalter
der Erschöpfung - und damit die ganze Moderne - sei im Kern nichts
anderes als das Zeitalter einer zunehmenden Weltlosigkeit. - Bleibt die
Frage, wie sich der Verlust von Sinn und Weltbezug um 1900 von den heute
diagnostizierten Zerfallserscheinungen unterscheidet und ob nicht
vielleicht das Bürgertum des 19. Jahrhunderts und die Boomgeneration
der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die grossen und
erklärungsbedürftigen Ausnahmen waren in einer Welt, die noch nie stabil
gewesen ist.
Wolfgang Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne. Aufbau-Verlag, Berlin 2013. 427 S., Fr. 38.90.
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