Donnerstag, 23. Januar 2014

Ein neurasthenisches Zeitalter.

 
aus NZZ, 21. 1. 2014                                                                                                            Edvard Munch, Selbstporträt 1915

Überreizte Nervensysteme
Überforderung, Erschöpfung, Furcht - Wolfgang Martynkewicz über die Zeit um 1900

von Lea Haller · Es gehört zu den kleinen narzisstischen Überheblichkeiten unserer Zeit, dass wir denken, unsere Belastungen unterschieden sich radikal von allem Vorhergegangenen. Beschleunigung, Dauerweiterbildung, Informationsflut, die Durchdringung unseres Alltags mit Rechnerleistung, dazu soziale Umbrüche, die es zu verdauen gilt, neue Arbeitswelten, neue Familienmodelle, ein neuer Kapitalismus, ein neues Europa - wir sind erschöpft. Stress und Burnout sind unser Markenzeichen und werden in populärer Literatur zuhauf diagnostiziert. Ein Arsenal an Wellnessangeboten richtet sich an die Erholungsbedürftigen. In dieser Situation lohnt es sich, einen Blick zurückzuwerfen: War vor uns auch schon jemand müde?

Seuchen, Börsenkrach, Kriege

Ja, und wie. In «Das Zeitalter der Erschöpfung» liefert Wolfgang Martynkewicz keine weitere Bestätigung derzeitiger Stressdiagnosen, sondern eine Rückblende auf die gesellschaftlichen Nöte um 1900. Denn bereits damals grassierte eine überwältigende «Überforderung des Menschen durch die Moderne» (so der Untertitel des Buches), die kaum jemanden verschonte. Nicht nur die empfindsamen Seelen und schwächlichen Konstitutionen von Franz Kafka oder Rainer Maria Rilke wurden von Ermüdung, Nervosität und plötzlicher Erschöpfung heimgesucht, es traf auch scheinbar so standfeste Personen wie Otto von Bismarck, Cosima Wagner und Max Weber. Die ganze Gesellschaft lebe in einer sich geradezu pandemisch ausbreitenden Furcht und Ängstlichkeit, hielt der Psychiater Richard von Krafft-Ebing 1880 fest, vor lauter Sorge kämen die Menschen gar nicht mehr zum ruhigen Genuss ihres Daseins. Sie fürchteten sich «vor Seuchen, politischen Umwälzungen, Börsenkrachs, Kriegen, vor dem Socialismus u. a. schrecklichen Dingen»; und diese wachsende Furcht führe zu einem «erregten und überreizten Nervensystem», das grosse Mengen an Energie verbrauche, so dass der Mensch immer kraftloser werde.

In lose aneinandergereihten Kapiteln und durchwegs assoziativ verfolgt Martynkewicz dieses Reden über Neurasthenie, die minuziösen Beschreibungen der Symptome, die Szenarien des sozialen Zerfalls und die Lösungsversprechen und Heilsangebote. Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Hugo von Hofmannsthal, Herrmann Bahr, Thomas Mann und Oswald Spengler kommen ebenso zu Wort wie Vertreter der Lebensreformbewegung, die den Weg zu einem neuen, gesünderen und leistungsfähigeren Menschen weisen wollten, aber auch Eugeniker wie Alfred Ploetz, Alfred Grotjahn oder die Reformpädagogin Ellen Key, die einer Verbesserung des angeblich degenerierten «Menschenmaterials» durch aktive Selektionsmassnahmen und Rassenhygiene das Wort redeten.

Im Gegensatz zu den unlängst erschienenen Büchern von Mark Jackson («The Age of Stress. Science and the Search for Stability», Oxford University Press) und Patrick Kury («Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout», Campus) lässt dasjenige von Martynkewicz allerdings kein tiefergehendes historisches Interesse erkennen, sondern eher ein voyeuristisches. Die zahlreichen, über weite Strecken geführten Zitate wirken - zumal bei fehlendem Kontext - eher ermüdend. Mehr zufällig gelingt es dem Autor, einige der losen Fäden zu verknüpfen.

Krankheit am Leben

Ein solcher Knotenpunkt ist der Münchner Naturmediziner Ernst Schweninger, der seinen Patienten (darunter Bismarck) ein individuell zugeschnittenes Lebensführungsprogramm auferlegte, mit detaillierten Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltensvorschriften. Der Arzt wurde im Zeitalter der Erschöpfung zum Soziologen und zum Phänomenologen. Denn die Erschöpfung, so Martynkewicz, sei weder eine Krankheit des Körpers noch eine Krankheit der Seele gewesen, sondern eine Krankheit am Leben: Der erschöpfte Mensch lebte nicht «richtig», er musste sein Leben korrigieren, um zu sich selbst zurückzufinden.

Das versuchte er um 1900 mit Abhärtung, Kuraufenthalten, Arbeitseifer, Turn- und Atemübungen, Aufputschmitteln, Vegetarismus, verjüngenden Organextrakten, Askese, Nackt- und Freiluftkultur. Und das versucht er heute mit Diäten, Leistungssport, mentalem Training, Wellness-Reisen, Schlafmitteln und dem Bemühen um die optimale Work-Life-Balance. Da sich all diese Therapieangebote auf das Selbst richten, so das Fazit von Martynkewicz, verfehlen sie allerdings schon im Ansatz ihr Ziel. Denn das Zeitalter der Erschöpfung - und damit die ganze Moderne - sei im Kern nichts anderes als das Zeitalter einer zunehmenden Weltlosigkeit. - Bleibt die Frage, wie sich der Verlust von Sinn und Weltbezug um 1900 von den heute diagnostizierten Zerfallserscheinungen unterscheidet und ob nicht vielleicht das Bürgertum des 19. Jahrhunderts und die Boomgeneration der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die grossen und erklärungsbedürftigen Ausnahmen waren in einer Welt, die noch nie stabil gewesen ist.

Wolfgang Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne. Aufbau-Verlag, Berlin 2013. 427 S., Fr. 38.90.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen