Urban Jungle:
Desolate Umgebung macht schnell ängstlich
45 Minuten Aufenthalt in einem derangierten Stadtviertel reichen, um die soziale Einstellung in Richtung Misstrauen zu ändern.
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„Broken glass everywhere, people pissing on the stairs, you know they just dont care...“ In einem der ersten großen Raps, „The Message“ (1982), beschrieb Grandmaster Flash eindrucksvoll, wie sich desolates urbanes Umfeld auf die Psyche des Bewohners auswirkt: „It's like a jungle sometimes, it makes me wonder how I keep from going under...“
Je mehr Verbrechen und Armut in einem Viertel herrschen, umso ängstlicher sind seine Bewohner, und umso weniger Vertrauen haben sie in ihre Nachbarn: Das leuchtet intuitiv ein. Doch wie schnell die Umgebung die Psyche prägt, das überraschte auch die Psychologen um David Nettle (Newcastle University): Es reicht eine Dreiviertelstunde.
Für ihr Experiment verwendeten sie zwei völlig gegensätzliche Stadtgebiete von Newcastle: eine von der Abwanderung der Industrie schwer gezeichnete Gegend A, die von der Regierung zu den am meisten verarmten Regionen Großbritanniens gezählt wird. Dort ist die Verbrechensrate doppelt so hoch und die Rate an Gewaltverbrechen sogar sechsmal so hoch wie in der Gegend B, in der wohlhabende Bürger wohnen. In beiden Gebieten wurde zunächst erhoben, ob und wie sehr die Bewohner ihren Nachbarn vertrauen („personal trust“), wie sehr sie im Allgemeinen anderen Menschen vertrauen („social trust“) und wie sehr sie sich vor potenziellen Bedrohungen fürchten (die englischen Soziologen sprechen von „paranoia“, das ist aber eher mit Angst zu übersetzen als mit Paranoia). Ergebnis: In Gegend A herrschen Misstrauen und Angst, in Gegend B vertraut man einander und fürchtet sich viel weniger.
Nun, das war ja vorauszusehen. Dann kam aber der zweite Teil des Experiments: Studenten der Newcastle University wurden in die beiden Gebiete geschickt, um dort Fragebögen in Briefkästen an vorgegebenen Adressen zu werfen, die sie zu Fuß erreichen mussten. Dafür durften sie höchstens 45 Minuten brauchen. Danach wurden sie gebeten, die Gegend, die sie gerade erlebt hatten, zu bewerten. Und sie bekamen die gleichen Fragebögen wie vorher die Bewohner, mit Fragen wie „Wie sehr vertrauen Sie Menschen, denen Sie zum ersten Mal begegnen?“, es wurde also erhoben, wie misstrauisch und ängstlich sie sind.
Scherben, Müll, beschmierte Wände
Tatsächlich reichte die knappe Dreiviertelstunde Fußmarsch durch die jeweilige Gegend, um die Gefühlslage der Besucher in den Kategorien „social trust“ und „paranoia“ an das Level der Bewohner anzupassen. „Wenn ein so kurzer Besuch ausreicht, um nachweisbar geschrumpftes Vertrauen und gestiegene Angst auszulösen“, schreiben die Forscher in der Zeitschrift PeerJ, „wie gewaltig müssen die Auswirkungen sein, wenn man jeden Tag dort leben muss?“
Welche äußeren Faktoren die Psyche so drastisch beeinflussen, das ist aus vielen früheren Arbeiten zum Thema bekannt – und es erfüllt alle Klischees: Herumliegender Müll, überquellende und bekritzelte Briefkästen, beschmierte Wände, Glasscherben, trotz Verbotsschildern an einen Zaun gekettete Fahrräder: das bringt Menschen dazu, sich unsicher zu fühlen. Was, auch das ergaben die Untersuchungen, zweierlei bewirkt: Erstens nehmen sie selbst weniger Rücksicht, werfen etwa eher Papier auf die Straße. Zweitens aber neigen sie eher zu Law-and-order-Einstellungen und Vorurteilen, zum Beispiel gegen Moslems oder Homosexuelle.
Wie präsent die Polizei ist, hat übrigens laut der aktuellen Untersuchung keine Auswirkung auf Vertrauen oder Angst, und Unterschiede zwischen den Geschlechtern fanden sich kaum: Die Männer neigen nur ein bisschen mehr zur Angst...
Aber die Lehre scheint klar: Die Umgebung prägt die Emotionen schnell. „Städteplaner und Bürger sollten das berücksichtigen“, sagt David Nettle: „Es ist nicht nur kosmetischer Luxus, die Qualität und Sicherheit eines Gebiets zu verbessern, es kann die sozialen Beziehungen und die psychische Gesundheit der Bewohner deutlich verbessern.“
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