Montag, 20. Januar 2014

Die Gewöhnlichkeit des Bösen.

aus derStandard.at, 19. Jänner 2014, 17:28                                                                 Wehrmachtsanhörige zwischen den Einsätzen
 
Die Gräuel ungeheuerlich normaler Menschen 
Wie werden junge Leute zu Massenmördern? 
Ein Film über die Grausamkeit ganz normaler Jugendlicher

von Daniel Pably 

Wien - Die am schwersten zu verdauende Botschaft schickte er gleich vorweg: "Dieser Film erzählt, wozu wir alle in der Lage sind", sagte der Wiener Regisseur Stefan Ruzowitzky auf der Bühne des Wiener Gartenbaukinos - und meint damit schier Unvorstellbares: Deutsche Soldaten zogen während des Russland-Feldzugs zwischen 1941 und 1943 durch unzählige Dörfer im heutigen Polen, Russland und der Ukraine, um die dort lebende jüdische Bevölkerung systematisch auszurotten. Rund zwei Millionen Juden wurden so hingerichtet, also ein Drittel aller Holocaust-Opfer.

Dass im Doku-Drama Das radikal Böse keine Betroffenen als Zeitzeugen zu Wort kommen, hat auch den Grund, dass es keine gibt. Praktisch niemand überlebte den dortigen Genozid, der weit weniger im Bewusstsein der Gesellschaft verankert ist als die Massenmorde in den Konzentrationslagern.

Stefan Ruzowitzkys neuer Film Das radikal Böse versucht, die psychologischen Prozesse zu ergründen, wie aus Menschen Massenmörder werden. Nicht die Ungeheuer seien die Gefährlichen, sondern die normalen Menschen, wird der italienische Schriftsteller und KZ-Überlebende Primo Levi gleich zu Beginn des Films zitiert. Tatsächlich ergaben die unzähligen psychologischen Gutachten über die NS-Täter, dass es sich bei den meisten um mental gesunde, ja geradezu exemplarische Durchschnittsbürger handelte.

"Warnung für die Zukunft"

Einige von ihnen waren damals nur unwesentlich älter als die 800 Schüler und Auszubildenden, die sich am 15. Jänner zu einer Sonderveranstaltung des Films im Wiener Gartenbaukino einfanden. Es war der ausdrückliche Wunsch des Regisseurs, dass der Film von vielen jungen Leuten gesehen wird. Denn obwohl Das radikal Böse von etwas Vergangenem erzählt, erklärte Ruzowitzky, sei er vor allem "für euch Jugendliche eine Warnung für die Zukunft".

Was bringt Menschen dazu, dutzende, manchmal hunderte Männer, Frauen, Kinder, gar Säuglinge hinzurichten? "Wenn das Tabu zu töten einmal durchbrochen ist, dann gibt es kein Halten mehr", sagt die Psychoanalytikerin Elisabeth Brainin.

Die autoritären Strukturen im Nationalsozialismus, das natürliche Konformitätsstreben des Menschen und die Propaganda, die den Soldaten ein radikales Feindbild einimpfte - es gibt viele Erklärungsansätze, vollständig begreifbar wird das dunkelste Kapitel in der europäischen Geschichte wohl nie.

Viele der NS-Soldaten glaubten dabei aufrichtig, rechtschaffen zu handeln. Sie waren überzeugt, dass nur der Tod aller Juden zu einem friedlichen Zusammenleben führen könne.
Als Jugendbewegung geriert

"Männer, Frauen, Kinder - alles umgelegt. Liebe Heidi, mach dir keine Gedanken darüber, es muss sein", schreibt etwa ein Soldat in einem Brief an seine Familie. Ebenso nüchtern teilt ein Schuldirektor seinen Schülern mit, dass morgen unterrichtsfrei sei, "weil wir unsere Feinde töten". Mit Zitaten aus Briefen wie diesen untermauert Ruzowitzky in seinem Film die These der politischen Überzeugung.

Der Nationalsozialismus hat sich vor allem als Jugendbewegung geriert, die mit dem althergebrachten brechen wollte. Sind junge Menschen gar besonders anfällig für solch kollektive Irreführungen? Psychologin Brainin, die schon mehrfach als Buchautorin zu dem Thema publiziert hat, hält diesen Schluss für unzulässig: "Natürlich sucht die Jugend nach Identifikationsfiguren, will mit dem Alten brechen und etwas Neues hervorbringen - was aber nicht heißt, dass sie mit der Moral brechen oder kein Tötungstabu kennen."

Die Nazis versuchten in ihrer Propaganda, der jüdischen Bevölkerung jegliches Menschliche abzusprechen. Zwischen Opfer und Täter stellten sie die größtmögliche psychische und physische Distanz her. Vor den Erschießungen mussten sich die zusammengetriebenen Juden entkleiden, wodurch sie nach der Nazi-Logik "animalischer" wirken sollten. Zudem wurden sie gezwungen, sich bäuchlings in die selbstgegrabenen Massengräber zu legen. Um Blickkontakt zu vermeiden, wurden sie von hinten erschossen.

"Wenn man Menschen auch nur ein kleines bisschen deklassiert, ist das der erste Schritt zum Massenmord", sagt einer der interviewten Historiker im Film - und richtet damit einen klaren Appell an nachfolgende Generationen.

Tatsächlich weigerte sich nur ein kleiner Teil der Soldaten, die Massenhinrichtung wehrloser Zivilisten auszuführen - obwohl sie bei einer Verweigerung keine schwerwiegenden Konsequenzen zu befürchten hatten.

Niemand wurde gezwungen zu schießen.

Daniel Pably (18), SchülerSTANDARD, 20.1.2014

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