Deutschland, Deutschland über alles? Dass die europäische
Achse Frankreich-Deutschland, um die sich fünfzig Jahre lang so gut wie
alles gedreht hatte, nun schief steht und zu brechen droht, ist das
eigentliche Drama Europas zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Von Dieter Freiburghaus
Als 1962 Präsident de Gaulle in
Bonn Bundeskanzler Adenauer besuchte, erklang - so sagt die Fama -
zweimal die Marseillaise, während das Deutschlandlied im Schrank blieb!
In der Tat stand damals die Bundesrepublik in Dankesschuld zu
Frankreich: Damit die Westhälfte Deutschlands zum souveränen Staat
werden konnte, musste das alliierte Ruhrstatut aufgehoben werden. Jean
Monnets Geniestreich bestand darin, sechs «karolingische» Länder in eine
supranationale Organisation derart einzubinden, dass die Bundesrepublik
zum gleichberechtigten Partner werden konnte und gleichzeitig die
Kontrolle über die deutsche Montanproduktion bestehen blieb.
Gemeinsame Verantwortung
Bei der Gründung der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft 1958 spielten die Bundesrepublik und die
Benelux-Staaten allerdings vorübergehend eine grössere Rolle als
Frankreich, welches durch den Algerienkrieg geschwächt war. Paris hatte
zudem Angst vor der Konkurrenz durch die deutsche Industrie und stimmte
dem gemeinsamen Markt erst zu, als Bonn zu wesentlichen Konzessionen
bereit war: Agrarpolitik nach französischem Gusto, relativ hohe
Aussenzölle und Teilung der Dekolonialisierungslasten. Im Sommer 1958
kam General de Gaulle wieder an die Macht. Das liberale Projekt eines
gemeinsamen Marktes mit supranationalen Institutionen passte ihm
eigentlich nicht, doch er erkannte, dass die Verbindung von
französischem politischem Genie mit deutscher Wirtschaftskraft zur
Grundlage eines «europäischen Europa» werden konnte, in welchem
Frankreich die erste Geige spielen würde. Er lernte Adenauer kennen und
schätzen. Mit dem Elysée-Vertrag von 1963 besiegelten die beiden Herren
ihre Freundschaft. De Gaulle verhinderte, dass das Vereinigte Königreich
in diesem Bunde der Dritte wurde.
De Gaulle ging, Adenauer ging, und
die «Söhne» Georges Pompidou und Willy Brandt wollten den Vätern nicht
nachstehen. Die Franzosen strebten eine Stärkung der Gemeinschaft an,
und das Kabinett Brandt/Scheel brauchte für seine neue Ostpolitik eine
sichere Verankerung im Westen: Die gemeinsamen Interessen brachten die
Integration voran. 1973 traten Grossbritannien, Irland und Dänemark der
EWG bei, was bewies, dass diese Organisation nun definitiv für die
europäische Einigung zuständig war. Weitergehende Integrationspläne
(Politische Union, Währungsunion) scheiterten in der Folge an den
Wirtschaftskrisen der siebziger Jahre. Doch einen Lichtblick gab es,
dank der Freundschaft zwischen Präsident Valéry Giscard d'Estaing und
Kanzler Helmut Schmidt: Sie realisierten 1978 das Europäische
Währungssystem, welches gut funktionierte und zu stabilen Wechselkursen
bei sinkender Inflation führte.
Es war eine erstaunliche
personelle Konstellation, die in den achtziger Jahren zur «Relance» der
Gemeinschaft führte. 1983 löste Helmut Kohl die sozialliberale Koalition
ab. 1984 beendete François Mitterrand seine sozialistischen
Experimente. Margareth Thatcher war in London fest im Sattel und
verfolgte ihre liberale Reformpolitik. Was sollte, was konnte da in
Europa geschehen? Der grösste gemeinsame Nenner war die endliche
Realisierung eines wirklichen gemeinsamen Marktes, nun Binnenmarkt
genannt. Unter der energischen Leitung von Jacques Delors gelang der
grosse Wurf, und Europa erholte sich. Mit den Beitritten Griechenlands,
Spaniens und Portugals wurde der mediterrane Einfluss gestärkt und das
geografisch-kulturelle Gleichgewicht wieder hergestellt. Dann kam 1989
mit dem Fall der Mauer einer der heikelsten Momente der
Nachkriegsgeschichte. Die deutsche Wiedervereinigung stiess in
Frankreich auf Skepsis. Nun sah Kanzler Kohl die Chance, ein grosser
Deutscher und ein grosser Europäer zu werden: Er stimmte der von
Frankreich ersehnten Währungsunion zu. Kohl wurde Taufpate des Euro, und
die neue Zentralbank kam nach Frankfurt. Die flankierende Errichtung
einer Wirtschafts- und Fiskalunion blieb allerdings auf der Strecke. Die
Währungsunion war das letzte grosse Projekt, welches von Frankreich und
Deutschland gemeinsam getragen wurde. Ein Danaergeschenk.
Geografische Mitte verschoben
Inzwischen hat sich Europas
Landkarte gewaltig verändert. Während bis 1990 die Bundesrepublik,
Frankreich, Grossbritannien und Italien flächen- und bevölkerungsmässig
ähnlich gross waren, wuchs Deutschland um 16 Millionen Einwohner und
verschob seine Grenzen nach Osten. 1995 stiessen skandinavische Länder
(Schweden, Finnland) zur Union. Mit der Osterweiterung von 2004 kam
Polen dazu, und damit wurden die ehemals deutschen Gebiete Schlesien,
Pommern und Ostpreussen Teil der Union. Mit den Baltischen Staaten
rückte diese auf 150 Kilometer an Sankt Petersburg heran. Die Ostsee
wurde zur rasch aufstrebenden «neuen Hanse». Mit den Beitritten
Tschechiens, der Slowakei, Ungarns und Sloweniens driftete die Mitte der
EU noch Südosten.
Dies hat dazu geführt, dass
Deutschland heute das geografische Zentrum der Union bildet. Die
Verlegung der Hauptstadt von Bonn nach Berlin unterstrich dies auf
symbolträchtige Weise. Da nun zudem Deutschland Frankreich
wirtschaftlich weit hinter sich lässt, der Mittelmeerraum von Krisen
geschüttelt wird, wird aus der zentralen Lage eine Dominanz, die von
Deutschland nur widerwillig akzeptiert wird. Wenn Kanzlerin Merkel es
ablehnt, über Eurobonds «Lateineuropa» auf Dauer zu finanzieren, dann
sollten die andern es ihr danken, denn «wer zahlt, befiehlt». Die
europäische Achse Frankreich-Deutschland, um die sich während fünfzig
Jahre alles gedreht hatte, ist in Schieflage und droht zu brechen. Das
ist das eigentliche Drama Europas zu Beginn des 21. Jahrhunderts. 1871
wurde der schwächelnde Deutsche Bund von Berlin zum Reich
zusammengeschweisst. Es wäre eine ungemütliche Vorstellung, sollte sich
Ähnliches nun im europäischen Massstab wiederholen.
Dieter Freiburghaus ist emeritierter Professor für europäische Studien am Idheap der Universität Lausanne.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen