Der Enterbte der Conquista
Die Rebellion Lope de Aguirres gegen die spanische Krone ist gut dokumentiert - und entzündet doch immer von neuem die literarische Phantasie
Die Rebellion Lope de Aguirres gegen die spanische Krone ist gut dokumentiert - und entzündet doch immer von neuem die literarische Phantasie
von Ingrid Galster
Seit ihn Klaus Kinski in Werner Herzogs Film als diabolischen Berserker spielte, kennt man Lope de Aguirre (um 1511 bis 1561) auch hierzulande. Jenseits der Fiktion war Aguirre ein Konquistador, der sich auf der Suche nach dem Gold von Eldorado gegen die spanische Krone auflehnte. Er büsste dies mit dem Tode.
Seit ihn Klaus Kinski in Werner Herzogs Film als diabolischen Berserker spielte, kennt man Lope de Aguirre (um 1511 bis 1561) auch hierzulande. Jenseits der Fiktion war Aguirre ein Konquistador, der sich auf der Suche nach dem Gold von Eldorado gegen die spanische Krone auflehnte. Er büsste dies mit dem Tode.
Der baskische Eroberer Lope de Aguirre kam Mitte der siebziger Jahre international zu Berühmtheit, als Werner Herzogs Film «Aguirre, der Zorn Gottes» in Paris Kultstatus erlangte. Seitdem ist die historische Figur fast untrennbar mit dem Gesicht Klaus Kinskis verbunden, dem die Rolle eines irren Megalomanen auf den Leib geschrieben zu sein schien. Mit der Realgeschichte ist der Film nur vordergründig verbunden. Werner Herzog hatte in einem Abenteuerbuch die Darstellung der ersten beiden Fahrten von Spaniern über den Amazonas bis zur Mündung gefunden und diese zu einer einzigen amalgamiert, wobei sein Hang zum Irrationalen ihm half, den Stoff so zu gestalten, dass er der beginnenden Vernunftkritik unter den Intellektuellen entsprach.
Wie sieht die historisch verbürgte
Vorlage aus? Die Rebellion des Basken ist durch zahlreiche, in
Taschenbuchausgaben leicht zugängliche Quellen, auch von Aguirres
eigener Hand, dokumentiert. Danach war der in Oñate (Provinz Guipúzcoa)
geborene Konquistador in der zweiten Hälfte der 1530er Jahre nach
Amerika ausgewandert, vermutlich weil er wie viele andere Emigranten
keinen Anspruch auf das väterliche Erbe geltend machen konnte. Er hatte
an einer Reihe von Eroberungszügen teilgenommen, ohne das Ziel zu
erreichen, das alle Konquistadoren verfolgten: von der Zwangsarbeit der
unterworfenen Eingeborenen zu leben entsprechend dem geleisteten Einsatz
und dem investierten Kapital.
Nach der Eroberung Perus war das
Territorium schnell an eine Minorität von Spaniern verteilt worden.
Ausserdem schränkten die sogenannten «Neuen Gesetze» von 1542, die Karl
V. auf Drängen der Dominikaner (insbesondere von Las Casas) erlassen
hatte, das Verfügungsrecht der Spanier über die Eingeborenen stark ein.
Es folgten mehrere Aufstände, die das gesamte Gebiet in Aufruhr
brachten, die die Krone jedoch mithilfe einer geschickten Realpolitik
niederschlagen konnte. Dennoch fand der neu ernannte Vizekönig 1556
Tausende unzufriedener Spanier vor, mit denen er fertigwerden musste.
Der Traum vom vielen Gold
Eines der Mittel, sie aus dem
kolonisierten Gebiet zu entfernen, waren neue Eroberungszüge, unter
anderem zum «El Dorado», einer Region, die nördlich des Amazonas
vermutet wurde. Der Vizekönig versicherte Karl V. in einem Schreiben
vom November 1556, dass man auf diese Weise 800 bis 1000 Männer
loswerden könne, deren Rückkehr unmöglich sei.
Lope de Aguirre nahm in Begleitung
seiner Tochter (einer jungen Mestizin), einer spanischen Gouvernante
und eines Pagen an der Expedition teil, die im September 1560 an einem
der Quellflüsse des Amazonas aufbrach. Schon 1542 hatten Spanier auf der
Suche nach Zimtwäldern den Fluss vollständig durchfahren. Danach
behaupteten sie, kriegerische Frauen gesehen zu haben, die mit jenen der
antiken Mythologie identifiziert wurden. Ihnen verdankt der Fluss
seinen Namen.
«El Dorado» (wörtlich «der
Vergoldete») bezeichnet einen Kaziken, der mehrmals im Jahr, mit
Goldstaub bepudert, ein rituelles Bad in einem See in der Nähe von
Bogotá genommen haben soll. Der Name wurde auch synonym für Reiche oder
für Städte benutzt, in denen man grosse Schätze vermutete. Dies sollte
der Fall sein in einer Provinz namens Omagua, von der die Teilnehmer an
der ersten Amazonasexpedition berichteten. Nach den ungeheuren Gold- und
Silberschätzen, die die Spanier 1533 dem Inka Atahualpa entrissen
hatten, war die Vorstellung nicht so abwegig, wie man heute zu glauben
geneigt sein könnte.
Was folgt, wurde durch die
Chroniken berühmt-berüchtigt. Drei Monate nach Expeditionsbeginn wird
der Anführer der Truppe, Pedro de Ursúa, von einer Gruppe von
Verschwörern - unter ihnen Aguirre - umgebracht. Der adelige Baske,
gebürtig aus Navarra, hatte durch die Protektion eines einflussreichen
Verwandten schon früh eine Machtposition in Amerika inne, konnte sich
durch die Unterwerfung ganzer Eingeborenenstämme und schwarzer Sklaven
profilieren und trat als Stadtgründer hervor. Der Vizekönig hatte ihn
zum Gouverneur des zu erobernden El Dorado ernannt. Statt seiner wird
ein anderer Adeliger, der Andalusier Fernando de Guzmán, von den
Verschwörern zum Anführer bestimmt. Die Ziele werden neu definiert.
Statt das Goldland zu suchen, an dessen Existenz man nicht mehr glaubt,
soll die Truppe über den Atlantik und den Pazifik nach Peru
zurückkehren, das Land in einem Blitzangriff unterwerfen und ihren neuen
Anführer zum König krönen. Diese Absicht wird im März 1561 mitten im
Amazonasgebiet von fast allen Expeditionsteilnehmern notariell
beglaubigt unterschrieben und beschworen. Sie bedeutet die Ausgliederung
aus dem spanischen Imperium und die Errichtung einer autonomen
Monarchie. Eine Kopie des Dokuments liegt im Indienarchiv in Sevilla.
Aguirres Route.
Aguirres Route.
Das Projekt scheitert jedoch.
Guzmán besinnt sich anders und wird nach zwei Monaten seinerseits
ermordet. Nun übernimmt Aguirre, der bis dahin im Hintergrund blieb, die
Leitung der Truppe. Er bringt alle um, die sich ihm in den Weg stellen.
Als sie die Insel Margarita vor der Nordküste Venezuelas erreichen,
fliehen die ersten Mitglieder der Truppe zum Festland und verraten den
Plan. Der Blitzangriff Perus per Schiff ist nicht mehr durchführbar.
Aguirre und seine Leute versuchen, über die Anden nach Peru
zurückzukehren, während die Krone Truppen zusammenzieht, die sie
aufhalten sollen. Am 27. Oktober 1561 wird er erschossen, enthauptet
und gevierteilt.
Aber kurz zuvor, als er sieht,
dass seine Situation aussichtslos ist, schreibt er einen Brief an
Philipp II., der an Kühnheit alles übertrifft, was damals vorstellbar
war. Den mächtigsten Souverän der Erde redet er mit «Du» an und wirft
ihm vor, grausam und undankbar zu sein angesichts der Dienste, die er
ihm bei der Conquista geleistet habe. Solange die eigentlichen Eroberer
dieser Länder nicht entschädigt worden sind, spricht er der spanischen
Krone das Recht ab, aus ihnen Nutzen zu ziehen, da sie dort nichts
riskiert habe. Er sagt sich von Spanien los und erklärt dem König den
Krieg. Der Brief, der unter der Hand kursierte und erst nach Ablösung
der Habsburger durch die Bourbonen auf dem spanischen Thron Anfang des
18. Jahrhunderts publiziert wurde, ist als das Testament eines
«Enterbten» der Conquista bezeichnet worden.
Aber als solcher ging Lope de
Aguirre nicht in die Geschichte ein. Der Renegat, der dem von Gott
eingesetzten König und fanatischen Vorkämpfer des Katholizismus
bescheinigt hatte, schlimmer zu sein als Luzifer und weniger glaubhaft
als Martin Luther, wurde zunehmend zur Inkarnation des Bösen, während
die Kolonialchronisten seinen Gegenspieler Ursúa, dessen Biografie
durchaus dunkle Stellen enthält, zum Symbol von Tugend und Königstreue
stilisierten. Die Motive der Rebellion und ihre Repräsentativität für
die Frustration vieler gingen in der Überlieferung verloren, bis um 1900
ein baskischer Amateurhistoriker die Dokumente mit quellenkritischem
Bewusstsein las und die Rebellion in den Kontext der Aufstände im
frühkolonialen Peru stellte.
Auch der sogenannte «neue
historische Roman», der seit den siebziger Jahren zu einer dominierenden
Gattung in Hispanoamerika wurde, setzt sich die Korrektur der «historia
oficial» zum Ziel. Zwei Autoren, die den Stoff in diesem Sinne
aufgriffen, sind der Argentinier Abel Posse mit seinem 1978 publizierten
Roman «Daimón» und der Venezolaner Miguel Otero Silva, der sein Werk
«Aguirre, Fürst der Freiheit» ein Jahr später vorlegte. Nach der
Jahrtausendwende hat sich einer der Shootingstars der neuen
lateinamerikanischen Literatur, der 1954 geborene Kolumbianer William
Ospina, erneut mit der Materie beschäftigt, wobei allerdings Ursúa im
Zentrum seiner Romantrilogie steht. Der 2005 erschienene erste Band
trägt denn auch den Namen des Navarresen im Titel.
Recherchen - bei Wikipedia
Gabriel García Márquez, dessen
2002 erschienene Autobiografie Ospina bearbeitet hatte, bescheinigte dem
Roman, «das wichtigste Buch des Jahres» zu sein. Für den folgenden
Band, «El país de la canela» («Das Zimtland»), der die erste
Amazonasexpedition thematisiert, erhielt Ospina 2009 den begehrtesten
Literaturpreis Lateinamerikas, den Premio Rómulo Gallegos, den vor ihm
unter anderem die künftigen Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa und
Gabriel García Márquez zuerkannt bekommen hatten. Der dritte Band
schliesslich ist der zweiten Amazonasexpedition gewidmet, an der auch
Aguirre teilnahm und auf der Ursúa umkam. Er erschien mit dem Titel «La
serpiente sin ojos» («Die Schlange ohne Auge») mit zwei Jahren
Verzögerung im November 2012 in Kolumbien und im Mai 2013 in Spanien.
In allen drei Romanen wird das
Geschehen aus der Sicht eines erfundenen Ich-Erzählers wiedergegeben,
der sich seiner Identität als Mestize sehr bewusst ist. Sie erlaubt es
ihm, Empathie sowohl mit den Eingeborenen als auch mit den Spaniern zu
üben, obwohl er ihre Grausamkeit bei der Unterwerfung der Indios als
«Holocaust» verurteilt, auch im Falle Ursúas, der ihm freilich das Leben
gerettet hat, weswegen er sich ihm stark verpflichtet fühlt. Zunehmend
zieht ihn jedoch die eingeborene Weltsicht an, bis er sich schliesslich
völlig mit ihr identifiziert und das Streben der Europäer nach Dominanz
als das Grundübel erkennt, das ihr gesamtes Handeln bestimmt. Ospina
hatte diese Position bereits 1992 in einem Essayband vertreten. Damals
urteilte Mario Vargas Llosa in «El País», dass trotz der schönen Prosa
die zentralen Gedanken nicht besonders neu seien: die Vorstellung einer
archaischen, magisch-religiösen Idylle der Eingeborenen, die dem
europäischen Diktat von Vernunft und Fortschritt entgegengesetzt wird.
Tatsächlich hatte Abel Posse bereits 1978 in «Daimón» die beiden
Paradigmen unter Verwendung des Aguirre-Stoffes in einer hinreissenden
Synthese der Geschichte Amerikas parodistisch miteinander konfrontiert.
Neu ist dagegen das, was man bei
Ospina über Aguirre liest. Sollte er Quellen entdeckt haben, die der
einschlägigen historischen Forschung bisher verborgen blieben? Anders
als Posse, der die Opposition von Realität und Fiktion dekonstruiert,
lässt Ospina in beigegebenen Kommentaren wissen, was historisch verbürgt
ist und was seine eigenen Zutaten sind. Was der Ich-Erzähler über
Aguirre preisgibt, muss der Leser demnach für abgesichertes Wissen
halten. Sein Geburtsort, so erfahren wir, ist Aramayona. Sein
Stiefvater, gegen den er aufbegehrte, hiess Estíbaliz de Aguirre. Als
Schuster in Vitoria vergewaltigte er ein Mädchen, weswegen er
hingerichtet worden wäre, hätte er nicht im letzten Augenblick aus dem
Gefängnis fliehen können. Dann schiffte er sich nach Amerika ein unter
einem Rodrigo Burán. Als ein Richter ihn dort nach Erlass der Neuen
Gesetze bei der brutalen Ausbeutung von Eingeborenen erwischt hatte und
auspeitschen liess, verfolgte er ihn sechs Jahre lang ununterbrochen
durch ganz Peru, um sich an ihm zu rächen. Über Aguirres
Rebellionsmotive erfährt man nichts, wohl aber, dass er zunehmend dement
wurde, 72 Spanier umbrachte, wenn ihm gerade danach war, und dass er
einen Brief an Philipp II. schrieb, in dem er sich selbst «Verräter»
genannt, seine Absicht, König der Indias zu werden, kundgetan und dem
König mitgeteilt habe, dass er zum Zorn Gottes geworden sei.
In dem 1589 veröffentlichten Epos
über die Eroberung des nördlichen Teils von Südamerika des Klerikers
Juan de Castellanos, dem Ospina bei der Verleihung des venezolanischen
Literaturpreises 2009 eine Liebeserklärung machte und den er als
wichtigste Quelle für seine Romantrilogie nennt, sind diese
Informationen nicht zu finden. Sie sind der spanischen Wikipedia-Notiz
über Lope de Aguirre entnommen! In der neueren Fachliteratur, die Ospina
vorlag, wird ausdrücklich vor ihr gewarnt. Aber Ospina war mit seinem
Buch im Verzug und hatte es eilig. So wurde unter dem Mantel der
Geschichtsfiktion einmal mehr der Leser getäuscht und die Figur des
baskischen Konquistadoren der Willkür der Nachwelt ausgeliefert.
William Ospina: Ursúa (Alfaguara, Bogotá 2005); El País de la canela (Norma, Bogotá 2008); La serpiente sin ojos (Mondadori, Bogotá 2012).
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