1914 - klirrend in den Abgrund
Gedanken zum Ersten Weltkrieg.
Von Martin Meyer
Der Satz des Heraklit, der Krieg sei der Vater aller Dinge, galt noch bis tief ins 19. Jahrhundert hinein als zwar unbequeme, aber doch auch realistische Wahrheit. Aus den Kabinettskriegen des Zeitalters der Aufklärung hatten sich unter der Regie Napoleons bereits Volkskriege mitsamt Partisanenkämpfen entwickelt. Der Neugründung des Deutschen Reichs waren drei heftige Kriege vorausgegangen. Auch an anderen Fronten und zwischen diversen Mächten stellten feindliche Begegnungen ein probates Mittel, die eigenen Interessen durchzudrücken. Ein wachsender Nationalismus schuf aggressives Selbstbewusstsein, das sich bald in den Ansprüchen kolonialer Ferngriffe äusserte. Daran vermochte auch der Wiener Kongress von 1814/1815 mit der Sicherung eines europäischen Gleichgewichts letztlich nichts zu ändern.
Gedanken zum Ersten Weltkrieg.
Von Martin Meyer
Der Satz des Heraklit, der Krieg sei der Vater aller Dinge, galt noch bis tief ins 19. Jahrhundert hinein als zwar unbequeme, aber doch auch realistische Wahrheit. Aus den Kabinettskriegen des Zeitalters der Aufklärung hatten sich unter der Regie Napoleons bereits Volkskriege mitsamt Partisanenkämpfen entwickelt. Der Neugründung des Deutschen Reichs waren drei heftige Kriege vorausgegangen. Auch an anderen Fronten und zwischen diversen Mächten stellten feindliche Begegnungen ein probates Mittel, die eigenen Interessen durchzudrücken. Ein wachsender Nationalismus schuf aggressives Selbstbewusstsein, das sich bald in den Ansprüchen kolonialer Ferngriffe äusserte. Daran vermochte auch der Wiener Kongress von 1814/1815 mit der Sicherung eines europäischen Gleichgewichts letztlich nichts zu ändern.
Kausalität und Zufall
Hinzu kamen massive
Wirtschaftsinteressen, die nach globaler Erweiterung suchten. Und
schliesslich lieferten Wissenschaft und Technik beschleunigt
überraschende Instrumente sowohl für die Verteidigung wie für den
Angriff. So veränderte sich mit der politischen auch die militärische
Tektonik, und Clausewitz' vorsichtige Analyse, dass der Krieg nur die
Ultima Ratio für die Politik sein sollte - eine Fortsetzung mit anderen
Mitteln eben -, verwandelte sich zusehends in eine Philosophie der
Machterweiterung bei immer stärkerer Konkurrenz unter den führenden
Protagonisten. Für die Vorsorge, dass es insbesondere auf dem
europäischen Kontinent nicht mehr zum Äussersten kommen sollte, wurden
dagegen Bündnissysteme entworfen und ratifiziert. In den letzten
Jahrzehnten des Dixneuvième durchzogen diese Verträge und
Rückversicherungsstrategien die Landkarte auf immer komplexere Weise.
Mitunter trugen sie selbst bei den leitenden Gremien zu Verwirrung bei,
und überdies unterlagen sie einem raschen und unübersichtlichen Wandel.
Dies alles gilt es zu bedenken,
wenn von den Voraussetzungen des Ersten Weltkriegs gesprochen werden
muss. Der Grosse Krieg, wie er bald genannt wurde, wäre aus der
Perspektive der Vernunft nicht nötig gewesen. Er entstand, wie viele
später meinten, aus eher nichtigem Anlass. Aber erstens gehorcht die
Geschichte keinem Plan und noch weniger einem Willen des Weltgeists, und
zweitens entsprang der zündende Funken von Sarajevo einer vulkanischen
Gemengelage, die den Beteiligten erst vollumfänglich bewusst wurde, als
es längst zu spät war. Territoriale Begehrlichkeiten, ethnische Ein- und
Ausschliessungen, der Ruf nach Autonomie zumal im Balkan, imperiale
Sehnsüchte, viel aufgeheizter Chauvinismus, Verbrüderungen unter
Partnern bei geschärfter Wahrnehmung möglicher und wirklicher Feinde,
der Niedergang des Osmanischen Reichs, schliesslich Animositäten
zwischen den häufig durch Verwandtschaftsbande liierten
Herrscherhäusern, Konflikte oder bloss Ungereimtheiten zwischen den
Monarchien und ihren parlamentarischen Regierungen - dies alles harrte
der Klärung, ohne dass dafür letztlich die Mittel diplomatischer
Verständigung erfolgreich aufgeboten werden konnten.
Viele Ursachen, wenig Logik
Auch der Geist oder spirit,
der der Katastrophe vorspurte, war seinerseits vielerorts nicht dazu
angetan, im europäischen Haus die Besonnenheit auszurufen. Der
Pazifismus stand auf schwachen Füssen. Herausragende Vertreter der
Intelligenz lehrten, dass Kampf und Krieg - immer im Reflex auf das
Grosse der eigenen Nation - legitim, ja notwendig seien. Die im späteren
19. Jahrhundert mächtig kursierende Lebensphilosophie predigte den
Vitalismus sowohl unter den Vorzeichen der Gattung wie als Energie
nationaler Selbstbestimmung. Aus Darwins Entwicklungstheorie wurde das
Recht des Stärkeren bequem abgeleitet. Für Deutschland und Frankreich
gewann Nietzsche eine drängende und bedrängende Aktualität. Sogar
Sigmund Freud, der der gehobenen Damenwelt und ihren Verklemmungen das
unerfüllt Unbewusste aufdecken wollte, fühlte sich nach der
Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien «vielleicht zum ersten Mal
seit dreissig Jahren als Österreicher». Seine «ganze Libido», so
schrieb er in einem Anfall von Selbstanalyse, «gehört
Österreich-Ungarn».
Die Faktoren, die diesen Krieg
auslösten - den ersten Weltkrieg in der Geschichte unter Beteiligung von
vierzig Staaten und fast siebzig Millionen Männern unter Waffen -, sind
das eine. Das andere sind die Folgen. Nur wenige Beobachter und player
- wie etwa der britische Aussenminister Sir Edward Grey, kein Freund
der Deutschen - sahen sie anfangs genauer voraus. Am Ende war das Reich
der Habsburger ebenso wie jenes der Osmanen zerfallen. Das Zarentum, das
1914 noch energisch aufspielte, war drei Jahre später liquidiert.
Deutschland sah sich ruiniert und nach dem freilich masslosen Vertrag
von Versailles in die Rolle des Hauptschuldigen geschoben. Auf dem
Balkan formierte sich ein Staatenteppich mit instabiler Unterlage. Nur
Frankreich und das britische Inselreich schienen mit dem Etikett von
Siegern versehen - doch auch dieser Schein begann zu verdampfen.
Lediglich die Amerikaner zogen aus dem fernen Geschehen einigen Profit.
Nicht nur die Deutschen
Eine «Urkatastrophe» also war
geboren, wie es der Historiker Fritz Stern rechtens formuliert hat. Die
Metapher kann andeuten, dass das unerhörte Ereignis - anders dann als
der nachfolgende Zweite Weltkrieg - nicht kurzerhand mit der Bilanz von
Tätern und Opfern zusammengebracht werden darf. Gewiss, es war viel
Dummheit zuerst in den Köpfen, dann auf den Schlachtfeldern, zuletzt
über dem europäischen Parkett. Doch wer um Gerechtigkeit bemüht ist,
wird auch einsehen müssen, dass eigentümlich irritierende Sachzwänge dem
Ganzen Vorschub leisteten.
Dazu zählen die bereits erwähnten
Bündnissysteme. Dazu gehörten - nachdem die Kriegsmaschinen einmal ins
Rollen gekommen waren - die Entscheidungen der Militärs. Nachdem Wilhelm
II. in der Juli-Krise, die dem Attentat folgte, zunächst noch zur
Vorsicht geraten hatte, erzwang die Solidarität mit Franz Joseph
schnelle Entschlüsse: Es war der sogenannte Schlieffen-Plan, ein
Blitzangriff auf Frankreich mit Sichelbewegung unter Verletzung der
Neutralität Belgiens, der nun die riskante Belastung des
Zweifrontenkriegs eindämmen sollte. Doch General von Kluck veränderte
den Plan, worauf der Stellungskrieg über Jahre zu toben begann.
Lange Zeit galt es als ausgemacht,
dass die Hauptverursacher des Weltkriegs im Lager der Mittelmächte zu
suchen seien. Schon vorher sassen den Franzosen die seit 1871 von den
Deutschen usurpierten Gebiete von Elsass-Lothringen als Dorn im Fleisch
des nationalen Stolzes. Doch präsentierten sie sich ihrerseits in Afrika
als unbedenkliche Aggressoren, und dasselbe galt erst recht für die
Briten: Das Empire duldete keinerlei Einmischung und hatte mit seiner
Flotte ein wirkungsreiches Vehikel zur Verteidigung der Expansion
gebildet. Die Russen förderten gegen Österreich-Ungarn die Idee des
Panslawismus, waren aber zugleich begierig darauf, dem Sultanat die
Kontrolle über die Meerengen vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer streitig
zu machen, was wiederum den Argwohn Londons beflügelte. Hier gut, da
böse? Solche Kategorien griffen zu kurz. Und dass das Deutsche Reich
bereits vor der Jahrhundertwende seine Wirtschaftsleistung gegenüber den
Hauptkonkurrenten enorm zu steigern wusste, trug seinerseits dazu bei,
ihm wenn möglich den Garaus zu machen. Insofern schienen die Schüsse von
Sarajevo wenn nicht willkommen, so doch verwertbar zu sein.
Diese Schüsse aber, die an einem
hellen Sommertag mit Datum des 28. Juni 1914 den österreichischen
Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie töteten,
konnten schon zur Stunde des Fanals nicht einfach als Ausdruck
irregeleiteter Fanatiker angesehen werden. Gavrilo Princip und seine
Genossen, blutjunge Männer mit wilden Ideen, waren alles andere als
Einzelgänger. Schon einige Zeit zuvor war es zu Anschlägen gegen
Exponenten der Doppelmonarchie gekommen.
Der Faktor Serbien
All diese Aktionen liefen vor
einem Hinterland, das sowohl organisatorisch wie ideologisch gegen das
Kaiserreich mobilgemacht hatte. Führende serbische Politiker und
Rädelsführer, die sich seit Jahrzehnten ein Grossserbien erträumt und
dann teilweise auch erschlossen hatten, schufen den Nährboden. Ein
Geheimnetz von Agenten und Brandstiftern aus radikaler Gesinnung
formierte sich, bis hin zur Vereinigung jener «Schwarzen Hand», deren
Adepten von höchsten Militärkreisen gefördert waren. Nikola Pasic, der
langjährige Regierungschef und Meister vielfacher Vernebelungstaktik,
zählte ebenfalls zu den Eingeweihten. In seinem vor kurzem auch auf
Deutsch erschienenen Buch «Die Schlafwandler», das virtuos und
detailgenau den Ursachen und Konstellationen des Ersten Weltkriegs bis
zu Sarajevo nachforscht, zeichnet der Historiker Christopher Clark ein
eindrückliches Bild auch Serbiens im Vorlauf auf den Grosskonflikt.
Es geht Clark nicht darum, die
Verantwortung der Mittelmächte an dessen Ursachen und Weiterungen
kleinzureden. Doch die Gärungen im Lande, die Missachtung jeglicher
politisch-repräsentativen Rechtskultur, die grausame Liquidierung eines
ähnlich grausamen Königs und seiner Frau vom Juni 1903, die
nachfolgenden Expansionsgelüste serbischer Ultranationalisten - solche
Vergegenwärtigung illustriert, dass es Belgrad intensiv darum zu tun
war, der Donaumonarchie den Todesstoss zu versetzen. Die Parole lautete
Sieg oder Untergang: Allein ein Sieg hätte die Institution eines
grossserbischen Reichs ermöglicht.
Das berühmte Ultimatum Wiens war
vermutlich nicht zu erfüllen. Es hätte, dies waren die heiklen Punkte,
auch verlangt, dass österreichische Inquisitoren an der Aufdeckung des
Mords von Sarajevo hätten beteiligt werden müssen. Damit aber wären jene
Hintergründe ans Licht getreten, die die serbische Führung unter allen
Umständen zu verbergen trachtete. - Der Rest ist bekannt. In einer
dämonischen Spirale begannen zuerst die Hauptakteure auf dem Kontinent,
dann immer mehr Verbündete auf beiden Seiten gegeneinander anzutreten.
Waren Heerscharen von jungen Männern namentlich in Deutschland zu Beginn
noch unter Hurra und im Siegestaumel losgezogen, so herrschte nur
wenige Monate später die Depression eines Stellungskriegs unter
unsäglichen Bedingungen.
Es war kein harmloser
Katzenjammer, der 1918 einsetzte. Das alte Europa hatte sich in den
Untergang gerissen. «Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie,
fortzeugend, immer Böses muss gebären.» Schillers Wort aus dem
«Wallenstein» bewahrheitete sich einmal mehr. Es sollte alles noch viel
schlimmer kommen. Ein österreichischer Meldeläufer an der Westfront,
geboren in Braunau am Inn, schuf sich nun eine Plattform, auf der er die
Urkatastrophe noch überbot. Davon wird niemals loszukommen sein.
Nota.
Der Erste Weltkrieg mag vermeidbar gewesen sein, aber Deutschlands Griff nach der Weltmacht war es nicht - es sei denn, England und Frankreich hätten ihm freiwillig den beanspruchten Platz eingeräumt, doch daran war nicht zu denken. Das 'kurze' zwanzigste Jarhundert scheint unterm Strich nur dazu gut gewesen zu sein, Deutschland als unverhohlene Führungsmacht an die Spitze eines schlecht und recht vereinten Europas zu setzen - und "alles andere" war offenbar nur Randerscheinung.
JE.
Nota.
Der Erste Weltkrieg mag vermeidbar gewesen sein, aber Deutschlands Griff nach der Weltmacht war es nicht - es sei denn, England und Frankreich hätten ihm freiwillig den beanspruchten Platz eingeräumt, doch daran war nicht zu denken. Das 'kurze' zwanzigste Jarhundert scheint unterm Strich nur dazu gut gewesen zu sein, Deutschland als unverhohlene Führungsmacht an die Spitze eines schlecht und recht vereinten Europas zu setzen - und "alles andere" war offenbar nur Randerscheinung.
JE.
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