Montag, 6. Januar 2014

Schland schrumpft.

aus NZZ, 28. 12. 2013

Verlierer Deutschland
Geopolitische Aspekte von Migration und Wachstum
 

G. S.* · Die Prognosefähigkeit der Ökonomie ist eher lamentabel. Selbst in der kurzen Frist hapert es. Man schaue sich nur die verschiedensten Konjunkturprognosen an, ihre grossen Abweichungen und ihre (ungenügende) Treffsicherheit. Auf mehrere Jahrzehnte hinaus ist das Unterfangen ohnehin vermessen. Jedenfalls können Ökonomen die Zukunft noch schlechter vorhersehen als andere Wissenschafter. Und wäre die Prognosefähigkeit das einzige oder auch nur ein zentrales Kriterium der Wissenschaftlichkeit, die Ökonomie hätte Mühe, sich zu qualifizieren. Doch viele Prognosen in den Sozialwissenschaften sagen gar nicht so sehr etwas über die Zukunft aus, sondern verdeutlichen die Gegenwart.

Renaissance Grossbritanniens

Das gilt auch für die wirtschaftspolitische Grafik des Monats Dezember, die auf Daten des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) beruht. Sie ist weniger als Prognose zu lesen denn als Aussage darüber, was bis zum Jahre 2060 passieren würde, «wenn nichts passieren würde», wenn sich also die Geburtenraten so weiterentwickelten wie bisher und wenn im einen Fall Zuwanderung unterbliebe, im anderen Fall sie im gleichen Ausmass wie bisher weiterginge. Das Ergebnis ist vor allem geopolitisch interessant: Das in den letzten Jahrzehnten in Europa bevölkerungsmässig wie wirtschaftlich dominante Deutschland fällt unter diesen Annahmen zurück auf den dritten Platz. Es wird von Frankreich und vor allem Grossbritannien überholt. Gegenüber Grossbritannien etwa wandelt sich Deutschlands Bevölkerungsvorsprung von fast 20 Mio. Einwohnern im Jahr 2010 in einen Rückstand von über 12 Mio. - unter der Annahme anhaltender Zuwanderung. Ohne Zuwanderung sind es immer noch gegen 6 Millionen.

Beim Bruttoinlandprodukt sieht es ähnlich aus. Obwohl Deutschland ein besonders wohlhabendes Land ist, vermag es den starken Rückgang der Bevölkerung einkommensseitig nicht zu kompensieren: Es fällt daher auch gesamtwirtschaftlich zurück. Resultat ist ein deutlich anderes Europa als jenes, das wir kennen - ökonomisch, demografisch, aber natürlich nicht zuletzt auch politisch. Grossbritannien würde um die Mitte des Jahrhunderts zur grössten Volkswirtschaft Europas aufsteigen, mit den meisten Arbeitskräften und dem grössten Konsumentenmarkt.

Die Basis dieser Verschiebungen ist die Schrumpfung der ansässigen Bevölkerung in vielen Ländern. In Gesamtdeutschland etwa kamen im Rekordjahr 1964 noch rund 1,35 Millionen Kinder zur Welt, heute sind es weniger als die Hälfte. Nur in wenigen europäischen Ländern würde die Bevölkerung auch ohne Zuwanderung wachsen, vor allem in Frankreich und Grossbritannien sowie in Island, Irland und Norwegen. In zahlreichen Ländern, darunter an vorderster Stelle Deutschland, aber auch Polen und Ungarn, lässt sich die Schrumpfung dagegen selbst durch zum Teil kräftige Zuwanderung nicht auffangen. Insgesamt würde die Bevölkerungszahl ganz Europas ohne Migration drastisch sinken, mit Migration immer noch beträchtlich. Klar ist also, dass Zuwanderung in vielen Ländern nicht etwa zu «Überbevölkerung» führt, sondern lediglich den natürlichen Rückgang teilweise ausgleicht. Klar ist auch, dass die Schrumpfung überall mit einem Rückgang der Erwerbsbevölkerung (in Deutschland trotz Zuwanderung um fast einen Drittel) und mit Alterung einhergeht. Klar ist schliesslich, dass die innereuropäische Migration ein Nullsummenspiel darstellt und die Schrumpfung der Bevölkerung auf dem Kontinent insgesamt nicht aufhält. Es braucht also Zuwanderung von aussen, aus Drittländern, soll Europa dem Namen «alter Kontinent» nicht zu viel Ehre machen und soll es nicht zu abrupt bevölkerungsmässig in der Welt zu einer Quantité négligeable werden.

Schweiz auf der Überholspur

Und die Schweiz? Auch hierzulande ist die Gebärfreudigkeit zu tief, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten - und ohne die vielen Ausländerinnen (Geburtenrate etwa 1,8) und Ausländer, die bereits in der Schweiz leben, läge die Zahl der Kinder pro Frau noch niedriger, nämlich bei durchschnittlich etwa 1,4 statt der faktischen 1,5 und der für Stabilität nötigen 2,1. Das heisst, dass das Land ohne Migration wieder auf eine 6-Millionen-Schweiz zusteuern würde. Mit Migration dagegen erscheint eine 9- oder selbst 10-Millionen-Schweiz realistisch.

Die Schweiz gehört wegen ihrer relativ starken Zuwanderung auch zu jener knappen Hälfte der europäischen Länder, die die demografische Schrumpfung nicht nur verzögern, sondern das Steuer wirklich herumreissen und aus Bevölkerungsrückgang Bevölkerungswachstum machen. Dank der starken Migration würde die Schweiz sogar als eines von nur drei Ländern (immer gemäss den Eurostat-Zahlen) bis 2060 Plätze gutmachen und zwei heute noch leicht grössere Staaten (Ungarn und Österreich) überholen.

Geopolitisch ist das zwar ohne Bedeutung. Es zeigt aber, um auf den Anfang zurückzukommen, wo die Schweiz heute steht. Sie setzt stärker als andere auf Zuwanderung. Dahinter steht die Erkenntnis, dass eine schrumpfende und zugleich alternde Bevölkerung eine wohlstandsbedrohende, fortschrittsfeindliche und die soziale Sicherung gefährdende Perspektive wäre. Zugleich steht hinter dieser Politik aber auch die Fähigkeit, Migranten - und zwar solche mit bester Ausbildung und gefragten Fähigkeiten - überhaupt anzuziehen.

G. S. (Gerhard Schwarz) war von 1994 bis 2010 Leiter der Wirtschaftsredaktion der NZZ. Seither wirkt er als Direktor des liberalen Think-Tanks Avenir Suisse.

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