Das Wir der Gattung
Die Macht der Daten und die Freiheit.
Von Martin Meyer
Kein Autor utopischer Romane wird dieser Zeiten so viel zitiert wie George Orwell. Orwells Roman «1984», kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben und in eine düstere Zukunft projiziert, zählt heute wieder zu den zentralen Chiffren einer abermals gefährlich gewordenen Wirklichkeit. «1984» verarbeitete die Erfahrungen des Totalitarismus. Der Verfasser ahnte, dass das Sowjetregime die Kontrolle über seine Untertanen in nie da gewesenem Ausmass verstärken würde. Schon Stalins Schauprozesse hatten eine «Öffentlichkeit» hergestellt, die jedermann sichtbar machen sollte, wie der Gesinnungsterror funktionierte. Es gab hier nichts zu verstecken. «Big Brother», die allmächtige Instanz im Roman, war darauf angelegt, solches noch zu überbieten. Dafür bot eine futuristisch anmutende Technik neue Mittel. Zur Ironie gehörte, dass dieses Monster ein Bruder war: Man schuldete ihm jenen Gehorsam, der seine Legitimation aus familiären Verhältnissen zog.
Die Macht der Daten und die Freiheit.
Von Martin Meyer
Kein Autor utopischer Romane wird dieser Zeiten so viel zitiert wie George Orwell. Orwells Roman «1984», kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben und in eine düstere Zukunft projiziert, zählt heute wieder zu den zentralen Chiffren einer abermals gefährlich gewordenen Wirklichkeit. «1984» verarbeitete die Erfahrungen des Totalitarismus. Der Verfasser ahnte, dass das Sowjetregime die Kontrolle über seine Untertanen in nie da gewesenem Ausmass verstärken würde. Schon Stalins Schauprozesse hatten eine «Öffentlichkeit» hergestellt, die jedermann sichtbar machen sollte, wie der Gesinnungsterror funktionierte. Es gab hier nichts zu verstecken. «Big Brother», die allmächtige Instanz im Roman, war darauf angelegt, solches noch zu überbieten. Dafür bot eine futuristisch anmutende Technik neue Mittel. Zur Ironie gehörte, dass dieses Monster ein Bruder war: Man schuldete ihm jenen Gehorsam, der seine Legitimation aus familiären Verhältnissen zog.
Damals und vor dem Hintergrund des zügig sich formierenden Kalten Kriegs waren die Fronten freilich noch klar. Dem Westen war das Reich der Freiheit vorbehalten, auch wenn man wissen konnte, dass Spionage und Überwachung auf beiden Seiten kräftig blühten. Doch Literatur birgt häufig einen Mehrwert, der spezifische Realitäten überspielt. So entstand mit «1984» eine Parabel, deren Gültigkeit die historischen Voraussetzungen hinter sich lässt. Der «Bruder» ist geblieben. Aber er hat sich inzwischen vervielfacht in ein Heer von Brüdern und Brüderchen, die das Geschäft der Überwachung betreiben und mancherlei Strafen parat halten, wenn sich die Objekte ihrer Begierde anders denn konform verhalten.
Einst und jetzt
Natürlich ist dies an sich noch kein Novum. Macht - sei sie staatlich fundiert, sei sie im Rahmen privater Einflussnahmen und Steuerungsbedürfnisse organisiert - bedarf der Information. Schon Michel Foucault hat ausführlich darüber geschrieben. In dem Buch «Surveiller et punir» ist der Gegenstand der Untersuchung das neuartige Gefängnissystem des 18. Jahrhunderts. Doch bereits im Mittelalter gab es - allerdings primitive - Ausspähkulturen, die durchs Schlüsselloch spionierten und missliebiges Verhalten an den Pranger brachten. Heute nun, da jedermann digitale Spuren hinterlässt, ja häufig auch stolz darauf ist, sämtliche Innenseiten nach aussen zu kehren, können sich die Kontrolleure wie in Ali Babas Höhle wähnen. Der «embarras de richesse» lockt nicht nur «institutionelle» Agenturen - von den Steuereintreibern bis zu den Geheimdiensten in Sachen Sicherheitspolitik - an die Töpfe. Auch sogenannte Whistleblower, die gern und übereilt als Robin Hoods gefeiert werden, sind auf der Pirsch.
Die Fronten verlaufen dabei zusehends ins Diffuse. Im Kalten Krieg herrschte noch mehr oder weniger Trennschärfe. Natürlich produzierte der Übereifer der Spionage-Agenturen und ihrer Bürokratien auch Abstruses. Der Verdacht erfasste etwa schuldlose Bürger, die das Pech hatten, zugleich Schriftsteller oder Philosophen zu sein. Immerhin wussten sie selten Bescheid über die Aktivitäten des grossen Bruders. Albert Camus wurde vom KGB bespitzelt, während Thomas Mann ins Visier der CIA geriet.
Die Russen versprachen sich viel, als sie Günter Guillaume in Willy Brandts Kanzleramt einschleusten. Dass der amerikanische Neffe jetzt das Mobiltelefon von Angela Merkel zu belauschen begann, stellt eine weitere Drehung im stillen Gefecht um Nachrichten dar. Es kommt inzwischen viel weniger darauf an, wo eine oder einer politisch steht, ob Freund oder Feind noch zu unterscheiden wären, als dass es darum zu tun ist, jedes denkbare Ferngeflüster auf Auffälligkeiten hin zu sondieren. Überdies: «Kriege» sind immer auch und inzwischen markant Wirtschaftskriege.
Man wird sich gleichwohl nicht damit begnügen können oder wollen, die ins Unermessliche anwachsenden Aktivitäten von offiziellen oder offiziösen Instituten mit Milliardenbudgets einfach dem Courant normal einzuordnen. Natürlich bieten die New Technologies Handhaben, denen schwer zu widerstehen ist. Dies gilt auch für die Herstellung von Kundenprofilen aus dem Fundus der Datenströme. Der Markt will wissen, wie er wen direkter in seinen Bedürfnissen ansprechen und verführen kann. Anders gesagt: Der Geist ist aus der Flasche, und seine Aromen durchziehen die Welt. Wer die Duftspuren erkennt, ist als Wissender im Vorteil. Aber für Freiheit und Privacy, für das rechtens geschützt sein sollende Innenleben und für die individuelle Autonomie bei Zusicherung, dass diese niemanden etwas angeht, sind dies schlechte Nachrichten. Empörung ist auch dann legitim, wenn sie hilflos bleibt und als «naiv» gescholten wird.
Gesinnung und Verhalten
Es ist eine Binsenwahrheit, dass für unsere Epoche der Krieg gegen den Terror am Anfang solcher Aktivitäten stand. Es bleibt umgekehrt mehr als zweifelhaft, ob der Zugriff auf Hunderte von Millionen privater Telefone und Computer tatsächlich substanziell zur Verhinderung von Anschlägen führt. Solche Asymmetrie aber ist auch deshalb prekär, weil sie langsam und zusehends schneller ein Klima des Verdachts produziert, das Kulturen und Zivilisationen des bisher frei gehaltenen Selbstbewusstseins einem Heer von «Experten» unterwirft, die ohne grosse Rekurs-Chancen der mindestens virtuell gedrückten Subjekte darüber entscheiden, wer sich wie, wo, warum und mit welchen Absichten diesem Verdacht aussetzt. Aus dem Gesinnungsterror von einst ist ein Verhaltensterror geworden. Er könnte à la longue Menschen, vielleicht gar eine Menschheit hervorbringen, die zwangsläufig gelernt hat, ihr gläsern gewordenes Profil mit vollkommener Ödnis des Lebenswandels zu füllen.
Szenarien hierzu sind auf dem Weg. Raffinierte Steuer- und Kontrollelemente können dem Körper implantiert werden und damit Auskunft nicht nur über Ort und Zeit liefern, sondern auch Gesundheits- und Erregungszustände mitteilen und am Ende vielleicht gar Gedanken und Absichten, Wut- und Zornvisionen und anderes mehr. Schon heute genügt ein falsch formulierter Rülpser eines kurz von der Aggression gegenüber seinesgleichen befallenen Twitter-Bekenners, dass derselbe vor die Schranken des Gerichts gerät. Denn Achtung: Er hat ja gezeigt, welches Droh- und Tatpotenzial in ihm steckt. Ergo: Wehret den Anfängen. Die Kehrseite der modernen Betreuungs- und Therapiekulturen mit dem unverrückbaren Glauben an das Gute in uns allen zeigt sich in einer entfesselten Präventionsstrategie. Das Böse, das hie und da selbst die sanftmütigsten Betschwestern befällt, doch aus welchen Gründen immer vielleicht aus den Windungen des Stammhirns in die New Media schleicht, darf nicht mehr sein. Dabei sind wir doch alle da und dort einmal Terroristen in unseren Affekten.
Mittlerweile allerdings sind die Bürokratien der Überwachung zugleich Arbeitgeber grössten Stils. Sie mögen dem Gemeinwohl dienen - oder was man dafür hält - oder auch nicht, sie bilden zugleich eine immense Industrie. Solche und ähnliche Apparate waren zur Zeit von James Bond noch überschaubar. Überschau- und erkennbar waren auch Freund und Feind mit reichlich Profil. Doch die Inspektoren und Analytiker von Daten, die tüchtigen Maschinisten, die Drohnen in der Luft und unter Wasser steuern, die beamteten Prüfer hinter dem Bildschirm wirken still und unverdrossen in ihrer Gesichtslosigkeit. Edward Snowden war einer unter Tausenden, und noch immer hat er das Gesicht einer etwas verträumten Unschuld.
Das Ende der Souveränität
Es gibt kein Wir der Gesellschaft mehr, das willens und fähig wäre, diesen Prozess nach den Massgaben der Vernunft zu definieren und zu steuern. Stattdessen taucht dieser ab in die Anonymität subjektloser Bewegungen, womit er auch das ungreifbare Geben und Nehmen in der «global community» repräsentiert. Die frohe Botschaft mag sich daran aufrichten, dass die neuen Technologien auch lebensdienlich sind. Wege der Dienstleistung werden kürzer, der Komfort für Gesundheit und geselligen Austausch nimmt zu. Aber für eine aufgeklärte Bürgerlichkeit, deren Ideale mit den Tugenden der Distanz und der gesicherten Freiheitsräume einhergingen, ist hier weniger zu holen.
Übrig bleibt das Wir der Gattung: eine Menschheit, der mit der Rasanz ihres Fortschreitens gleichzeitig der Rückfall in die Nähe der Höhlen droht. Von Sainte-Beuve, dem eminenten französischen Kritiker des 19. Jahrhunderts, stammt eine prophetisch anmutende Beobachtung. Wenn plötzlich alle hören könnten, was die meisten voneinander halten und denken, bemerkte Sainte-Beuve, bräche sogleich ein Krieg der umfassendsten Art aus.
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