Sonntag, 27. September 2020

Röttgens Bewerbungsrede.


aus nzz.ch, 27.09.202

«Wir haben es mit einer Überlebensfrage zu tun»
Der CDU-Aussenpolitiker Norbert Röttgen spricht über seine Kanzlerambitionen, den richtigen Umgang mit einem immer offensiver auftretenden China und unberechenbaren USA sowie über die angemessene Reaktion auf den Fall Nawalny.
 
Interview von Matthias Kamp

Herr Röttgen, Sie wollen im Dezember Bundesvorsitzender der CDU werden und bewerben sich damit auch für die Kanzlerkandidatur bei den Bundestagswahlen 2021, liegen in den Umfragen aber hinter den Konkurrenten Armin Laschet und Friedrich Merz. Was treibt Sie an?

Mir geht es darum, zu vermitteln, dass wir im kommenden Jahrzehnt dramatische Veränderungen erleben werden; wir gehen im Grunde einem ganz neuen Zeitalter entgegen. An diese Zeit muss man sich anpassen und darf nicht hinterherlaufen. Das verlangt Kraft und Flexibilität. Als Partei und als Land sind wir darauf noch nicht wirklich vorbereitet. Ich will Deutschland und die CDU als Volkspartei gestärkt in diese Zukunft führen.

An welche Veränderungen denken Sie?

Die grossen Treiber sind Technologie und Geopolitik. Die Digitalisierung wird Wirtschaft und Gesellschaft revolutionieren. In Deutschland müssen wir hier einen grossen Sprung machen, sonst sind wir abgehängt. Wir müssen ferner unser Verhältnis zu den USA neu definieren, egal ob Joe Biden oder Donald Trump zum Präsidenten gewählt wird. China ist für uns nicht mehr nur ein grosser Markt, sondern ein geostrategischer Akteur. Ob es zu China eine europäische Strategie geben wird, wird am allermeisten in Berlin entschieden. Auch das Verhältnis zu Russland wird komplizierter.

Bei der Aufklärung der Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny fordert Russlands Aussenminister Sergei Lawrow Deutschland zur Kooperation auf. Wie geht man mit so einer Aussage um?

Das Verbrechen an Nawalny muss dort aufgeklärt werden, wo es stattgefunden hat: in Russland. Alles andere ist Vernebelung und Zynismus. Der Fall Nawalny ist ein weiterer Fall in einer Serie und ist Ausdruck eines menschenverachtenden politischen Systems. Mit der Vergiftung, die auch noch bewusst öffentlich dargeboten wurde, ist das Mass voll. Es muss eine Reaktion erfolgen.

Wie sollte die aussehen?

Durch das allgemeine Gefühl, dass dieses Mal einmal zu viel war, ist ein europäisches Momentum entstanden. Jetzt kann nicht mehr mit diplomatischen Standardformeln reagiert werden, sondern Europa muss eine politische Antwort geben, die Russlands Präsident Wladimir Putin auch versteht. Dabei hat die Pipeline Nord Stream 2 eine zentrale Bedeutung. Wenn wir dieses Projekt in einem Jahr einweihen, nimmt Moskau uns nicht mehr ernst.

Warum ausgerechnet Nord Stream 2?

Machtpolitisch zielt Nord Stream 2 darauf ab, die Ukraine von der Erdgasversorgung abzuschneiden. Damit könnte Moskau die gesamte Ukraine – nicht mehr nur den Osten – destabilisieren. Das wäre ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zum machtpolitischen Ziel Putins. Er will die Staaten entlang der russischen Westgrenze von Georgien über die Moldau und die Ukraine bis Weissrussland zu einer russischen Einflusszone machen. Moskau verweigert diesen Ländern das volle Selbstbestimmungsrecht und möchte erreichen, dass Europa das toleriert.

In Weissrussland kommt Putin mit dem Ausbau seines Einflusses offenbar gut voran.

Wie weit er damit kommt, hängt von dem bewundernswerten Durchhaltewillen der Bevölkerung ab. Wenn die Menschen ihre Angst vor dem Regime verlieren und auf die Strasse gehen und dabeibleiben, ist ihnen keine Staatsmacht gewachsen. Das müssen wir unterstützen, indem wir nicht wegschauen und auch personenbezogene Sanktionen verhängen.

Kommt Nord Stream 2 nicht, hätte Präsident Trump sein Ziel erreicht. Er hatte Europa unter Druck gesetzt, das Projekt zu stoppen.

Da muss ich widersprechen. Wenn die Europäer keine Entscheidung treffen, aber amerikanische Sanktionen das Aus von Nord Stream 2 bewirken, hätten die Amerikaner eine europäische Entscheidung getroffen. Wenn aber wir Europäer einem Unrechtssystem entgegentreten, ist es unsere Entscheidung. Darum spreche ich von einem europäischen Moment.

Trump stösst Europa und Deutschland permanent vor den Kopf. Wie geht man mit dieser Administration in Washington um?

Mit der gegenwärtigen Administration ist schwer umzugehen, weil die Kooperationsbereitschaft in Washington nicht sehr gross ist. Der angekündigte Truppenabzug aus Deutschland beispielsweise wird nicht besprochen, sondern findet einfach statt. Dann reist der amerikanische Aussenminister Mike Pompeo quer durch Europa, kommt aber nicht nach Deutschland.

Was wäre der grösste Unterschied, sollte Joe Biden Präsident werden?

Rationalität und ein partnerschaftlicher Geist würden in das Verhältnis zurückkehren. In der Sache aber wären die Erwartungen an Deutschland nicht sehr anders als unter der jetzigen Administration. Ich denke an Nord Stream 2, den Umgang mit China oder die Verteidigungsausgaben.

Wie versuchen die USA, die deutsche Chinapolitik zu beeinflussen?

Washington macht Druck, auch mit Hilfe von Androhungen negativer Folgen. Bei 5G fordern die USA, dass Europa chinesische Unternehmen aussperre. Ich bin bei Huawei auch skeptisch, reagiere aber nicht auf amerikanischen Druck. Ich habe ernsthafte Sicherheitsbedenken. Auf der einen Seite herrscht in Washington eine ökonomische und sicherheitspolitische Bestrafungsmentalität, auf der anderen Seite ein enormer Erwartungsdruck, dass wir tun, was man in Washington für richtig hält.

Muss Europa auch bei anderen Themen gegenüber China robuster auftreten?

Es ist wichtig, dass wir von einer einseitig industriepolitischen Chinapolitik zu einer umfassenden und europäischen Chinapolitik kommen. In diesem Zusammenhang war der jüngste EU-China-Gipfel mit Präsident Xi Jinping, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundeskanzlerin Angela Merkel sehr gut. Wir haben klargemacht, dass es uns nicht nur ums Kaufen und Verkaufen geht, sondern wir China auch als wichtigen geopolitischen Akteur sehen und es grundlegende Meinungsverschiedenheiten gibt. Die müssen thematisiert werden.

Was würden Sie als Erstes in Angriff nehmen, sollten Sie im kommenden Jahr deutscher Bundeskanzler werden?

Entscheidend sind jetzt nicht einzelne Programmpunkte. Wir müssen klarmachen, wie riesig die Diskrepanz zwischen dem Veränderungsdruck und unserer Status-quo-Mentalität ist. Wenn wir unsere Werte und die Art, wie wir leben, bewahren wollen, müssen wir uns verändern. Wir haben es im Moment nicht mit Fachfragen, sondern mit einer Überlebensfrage zu tun. In einer solchen Situation braucht es politische Führung.

Im Moment spüren die Menschen diese Führung nicht?

Ich glaube, wir haben gesellschaftlich noch nicht hinreichend verinnerlicht, wie gross der Veränderungsdruck ist. Das muss noch stärker thematisiert werden. Wie erfolgreich klare Kommunikation sein kann, haben wir beispielsweise in den ersten zwei Monaten der Pandemie gesehen. Das war sehr hilfreich, und davon brauchen wir mehr.

Wo ist der Reformbedarf in der Wirtschaft in Deutschland am grössten?

Ich würde mit einem gesellschaftlich breit angelegten Pakt für Technologie und Digitalisierung starten. Das beträfe den Bund, die Länder, die Kommunen sowie die Wirtschaft, die Universitäten und die Schulen. Wo wir im Bereich der Digitalisierung momentan stehen, illustriert ja, dass wir gerade erst damit anfangen, in den Schulen iPads zu verteilen.

Gehören dazu auch staatliche Investitionsprogramme?

Natürlich braucht es öffentliche Investitionen, aber es braucht vor allem die Mobilisierung privater Investitionen. Eine solche gesamtgesellschaftliche Transformation kann nur gelingen, wenn vor allem privates Kapital mobilisiert wird.

Sie treten für Steuerentlastungen ein, gleichzeitig muss nach der Corona-Krise der Haushalt saniert werden. Wie geht das zusammen?

Die Pandemie und der Investitions- und Modernisierungsbedarf veranlassen uns, in der Haushaltspolitik die Spielräume zu nutzen, die die Verfassung bietet. Also in den Grenzen der Schuldenbremse, aber auch nicht mehr. Wir sind in einer Phase, in der auf Anreize und Investitionen nicht verzichtet werden kann.

Was ist mit Steuersenkungen?

Bei der Einkommensteuer möchte ich eine Entlastung in der Mitte. Ich halte die gegenwärtige Belastung mittlerer Einkommen für leistungs- und konsumfeindlich. Bei der Unternehmenssteuer geht es mir darum, Freiräume zu schaffen und damit internationale Wettbewerbsfähigkeit herzustellen.

Bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen 2012 sind Sie als Spitzenkandidat mit der CDU krachend gescheitert. Wie arbeitet man sich aus so einem Tief heraus?

Es ist eine besondere Erfahrung, eine Niederlage zu erleben und wieder aufzustehen. Dadurch, dass ich aufgestanden bin und weitergemacht habe, konnte ich mir mit der Aussenpolitik eine faszinierende neue Welt erschliessen.

 

Nota. - Ganz oben stehen Weltpolitik und Digitalisierung. Digitalisierung und Weltpolitik sind nicht zu trennen. So klar hat das kein anderer gesagt. Und kein anderer wäre damit auch glaubwürdig gewesen. Das Erbe von Angela Merkel heißt nicht weiter so, sondern jetzt erst recht.

JE

Dienstag, 22. September 2020

Es wird Zeit, dass er wieder geht.


 

Was hätte er wohl auf die Frage geantwortet, ob er sich einen Hetero als Gesundheitsminister vorstellen kann? Etwa: "solange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und solange es nicht Kinder betrifft - an der Stelle ist für mich allerdings eine absolute Grenze erreicht - ist das kein Thema für die öffentliche Diskussion"? 

Kann ich mir nicht vorstellen.

Ganz so untot ist er gar nicht mehr; er ist schon fast kalt. 

 

Montag, 21. September 2020

Rasender Stillstand: Sehnse, das is Berlin!


aus nzz.ch, 21. 9.  2020                                                               
Verkehrsberuhigung Bergmannstrasse, 2019

Berlin, die kindische Metropole

In der deutschen Hauptstadt werden Bürger von der Politik wie Kinder behandelt. Und die Erwachsenen lassen es sich gefallen. Berlin ist das Muster einer infantilen Gesellschaft.

von Alexander Kissler

Als der Schriftsteller Aldous Huxley 1932 einen «morbiden Kult des Infantilen» beklagte, galt das harsche Urteil der Literatur des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Huxley, dessen «Schöne neue Welt» im selben Jahr erschien, wetterte gegen Berufskollegen – gegen William Wordsworth, Charles Dickens und James Matthew Barrie, den Schöpfer von «Peter Pan». Überall entdeckte der Aufklärer Huxley, was er als unwürdigen Mummenschanz verurteilte: «Babys in mittleren Jahren». Heute sind wir klüger und wissen: Huxley hat untertrieben. Wir müssen gar nicht in Bücher schauen, um solche volljährigen Babys zu sehen. Der Blick nach Berlin reicht.

In Berlin ist immer Kindergeburtstag. Was gestern war, kümmert heute nicht. Die Versprechen von gestern sind die Utopien von heute. Was nicht funktioniert, gilt als Lokalkolorit. Was man sich gefallen lassen muss, ist Ausdruck von Weltläufigkeit. In einer zähen Zeitschleife gefangen sind Bauprojekte, Geschäftsgründungen, Nahverkehr. Böse Zungen behaupten, das Wappentier von Berlin sei nicht der Bär, sondern das Murmeltier. Weil täglich derselbe Unernst grüsst.

Diese Stadt steckt voller Überraschungen

Ich weiss, wovon ich rede, ich lebe hier seit Januar 2013. Seit damals begleitet mich der Unwille der Stadtregierung, die Stadt gut zu regieren. Und der mehrheitliche Wille der Stadtbevölkerung, alles beim Alten zu lassen und dieselben Parteien immer wieder in dieselbe Verantwortung zu schicken. Nur die Reihenfolge des Zieleinlaufs wechselt je nach Bezirk, Umfrage und Votum zwischen Linkspartei, Grünen und SPD. Gemeinsam sind sie – trotz gelegentlichen Lebenszeichen der notorisch unsortierten Hauptstadt-CDU – unabwählbar. Berlin will seinen Ruf behalten, den Ruf der Spass- und Chaos- und Clan-Metropole, in der man täglich auf unglaubliche Überraschungen stösst, und sei es hinter Bahnhofswänden.

Wer kennt nicht den Bahnhof Zoologischer Garten, abgekürzt zu Bahnhof Zoo? Vom Fernverkehrsnetz wurde er weitgehend entkoppelt, doch machen Lärm, Dreck und Gewalt gerne Rast, besonders auf dem Vorplatz. Im Bahnhof selbst sieht es kaum besser aus. Zeit für eine Generalüberholung des Gebäudes, dachte sich die Deutsche Bahn AG anno 2015. Die Arbeiten sollten bis 2020 fertiggestellt sein. Anfang dieses Jahres gab die Deutsche Bahn bekannt, es hätten sich Verzögerungen ergeben und Verteuerungen – die klassische Berliner Mischung. Man stelle sich auf Kosten von rund 100 Millionen Euro statt auf eine Summe im zweistelligen Millionenbereich ein. Dafür erhalten die Berliner eine deutlich längere Bauzeit. Die neue Planung sieht den Abschluss der Arbeiten sieben Jahre später vor. Wir sprechen uns 2027 wieder.

Hauptgrund für die drastische Verspätung sind «unglaubliche Überraschungen». Sagte Anfang 2020 der Berliner Bahnbevollmächtigte. Es habe sich herausgestellt, dass «keine genauen Pläne der Kabel» existierten, «die müssen wir jetzt mühselig neu erstellen». Dit is Berlin. Entweder haben Vorgängergenerationen Kabel verlegt, ohne sie zu kennzeichnen. Oder spätere Generationen haben die Pläne verlegt, verschlampt, verdummbeutelt.

Infantilität bedeutet, Spiel und Ernst zu verwechseln

Kinder lieben Überraschungen, darum heisst das Schokoladenei mit Spielzeugfüllung «Kinder-Überraschung». Sie zu tauschen, zu kaufen, zu verkaufen wurde vom Kinderspiel zum ernsthaft betriebenen Erwachsenenhobby. Hier greift die Beobachtung des Kunsthistorikers Johan Huizinga, Infantilität bedeute, Spiel und Ernst gewohnheitsmässig zu verwechseln. Berlin ist eine Stadt gewordene Kinderüberraschung. Sie ist schwer zu fassen, hat eine klebrige Hülle, einen ungesunden Nährwert und einen Kern mit unvorhersehbarem Inhalt. Man weiss nie, was man bekommt, aber es ist fast immer etwas anderes als das, was man erwartet. Ihre Bewohner behandelt die alte Tante Berlin wie Kinder, und diese lassen es sich bieten, denn Jugend ist Trumpf, Duzerei cool, Spiel und Spass verlängern die Pubertät des Lebens.

In Berlin kann man eines Morgens aufwachen und seine Strasse in einen Spielplatz für Kinder verwandelt sehen. Genauer: in eine «Begegnungszone». Solche Zonen sind Autoverdrängungsabschnitte, die aussehen, als hätten sich die Designer des Ikea-Kinderparadieses ausgetobt. Da gibt es, wo eben noch Autos parkierten oder fuhren, Tiere aus Beton, echten Kindern zur Benutzung freigegeben. Da warten Bänke aus Stahl oder Holz auf erwachsene Anwohner, Touristen, Kleinkriminelle. Da signalisieren grüne Punkte auf Strassenbelag erhöhten Kindlichkeitsbedarf. Autos schlängeln sich an Menschen vorbei in der «Begegnungszone», nur eben in gedrosselter Geschwindigkeit, auf verengter Fahrbahn. «Wir wollen die Strasse als attraktiven Lebensort», sagt die Fraktionsvorsitzende der Berliner Grünen, Antje Kapek. Früher wollte man die Kinder von der Strasse holen. Heute sollen Erwachsene auf der Strasse leben, als wären sie Kinder.

Der «Stadtentwicklungsplan Verkehr» legte 2011 mit einer «Fussverkehrsstrategie» die Grundlage, ehe 2015 in der Schöneberger Maassenstrasse und 2018 in der Kreuzberger Bergmannstrasse Tatsachen geschaffen wurden. Das «verträgliche Miteinander aller im Strassenverkehr» schreiben sich der Berliner Senat und der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg auf die Fahnen. Je nach Rechenweise wurden für die «Begegnungszone» in der Bergmannstrasse zwischen 1,1 und 1,7 Millionen Euro fällig. Im Preis enthalten sind auf einer Länge von rund 500 Metern immerhin «15 Strassenmöbel mit Hochbeeten und Liegestühlen, Rampen, Poller, bunte Strassenmarkierungen» und jede Menge Ärger.

Schulen und Polizeidienststellen verfallen im Gleichschritt

Im März 2018 begann ein Probelauf in der Bergmannstrasse, der im Oktober 2018 in eine Testphase überging, innerhalb deren im April 2019 grüne Punkte auf dem Asphalt aufgetragen wurden. So sollten die verbliebenen motorisierten Fahrzeuge zu erhöhter Wachsamkeit angehalten werden. Manche Verkehrsteilnehmer aber bremsten scharf, weil sie eine Scheu verspürten, über grüne Punkte hinwegzufahren. Wer will schon mit dem PS-Boliden ins Freiluftkinderzimmer brettern?

Am Anfang also war ein «kleiner Probelauf» mit zwei hölzernen Modulen beziehungsweise Parklets. Auf ihn folgte die Testphase mit 15 Parklets. Das Ziel war identisch: «Bei der Umwandlung einer Strasse in eine Begegnungszone wird der Strassenraum neu aufgeteilt. So erhalten die zu Fuss Gehenden und die Radfahrerinnen und Radfahrer mehr Platz zu Bewegung und Aufenthalt. Dazu wird ein generelles Parkverbot eingeführt und zur Verkehrsberuhigung das Tempolimit 20 eingeführt. Die Strasse wird so gestaltet, dass die verschiedenen Verkehrsteilnehmenden möglichst gute Sichtbeziehungen zueinander haben und sich so besser untereinander verständigen können.» Damit Fussgänger zu geschlechtersensiblen «zu Fuss Gehenden» werden können, also immer gehen, selbst dann, wenn sie im Parklet sitzen – damit solcher utopischer Gestaltwandel gelingen kann, braucht es neben Operationen am Sprachleib Eingriffe in die Stadtarchitektur. In der Bergmannstrasse war man bereit.In der Kreuzberger Bergmannstrasse trieb man es gerne bunt. Demnächst könnte die einstige «Begegnungszone» in eine autofreie Fussgängerzone verwandelt werden. 

Bergmannstraße

Autos, sagte der zuständige Bezirksstadtrat Florian Schmidt von den Grünen, sollten künftig «Gäste» sein in den Strassen. Die grünen Punkte kamen auf die Fahrbahn, weil zu viele Autofahrer nicht langsam genug fuhren, trotz Sitzgelegenheit am Strassenrand und Tempo-20-Schild. Anfang Mai 2019 wurde Aufsichtspersonal auf Streife geschickt, weil geschehen war, womit man rechnen musste. Die Parklets sorgten für Trubel ohne Jubel. In den abermals sensiblen Worten des Bezirksamts: «Kiezläufer*innen (. . .) sollen in den Nachmittag- und Abendstunden für eine tolerante und rücksichtsvolle Nutzung der Bergmannstrasse sorgen. Ab 22 Uhr wird die Einhaltung der Nachtruhe eingefordert. Zudem sollen sie Sachbeschädigungen unterbinden, die korrekte Müllentsorgung sowie die Einhaltung der Nutzungsauflagen in Schankvorgärten durchsetzen.» Welch ein Desaster. Das «lebendige anwohner*innenfreundliche Strassenleben» zeigte sich als Ruhestörung, Sachbeschädigung, Vermüllung, Trinkgelage. Die Bezirksverordnetenversammlung wird in diesem September über den endgültigen Zuschnitt der Strasse entscheiden.

Wo das Infantile regiert, bleiben erwachsene Probleme liegen. Berlin leistet sich einen inoffiziellen Wettbewerb zur Frage, was schneller verfalle: Schulen oder Polizeidienststellen? Beide erfahren die Wonnen nachhaltiger Vernachlässigung. Anfang Januar 2020 stellte Polizeiabschnitt 62 in Berlin-Biesdorf vorübergehend den Betrieb ein. Die Zustandsbeschreibung in der Lokalpresse klingt nach einer Nachricht aus den Spätjahren des real existierenden Sozialismus: «Seit dem 20. Dezember war in den Räumen die Heizung ausgefallen. Um zu heizen, liess die Direktionsleitung elektrisch betriebene Ölradiatoren aufstellen. Das verkraftete die Elektroanlage nicht. Sie fiel am Donnerstag aus, weil eine Sicherung durchbrannte. Server stürzten ab, die elektrisch betriebenen Türen und das Tor funktionierten nicht mehr.»

Ist Berlin den Berlinern egal?

Es stockt. Es geht nicht voran. So wie am heimlichen Dingsymbol von Berlin, der neuen Treppe am Bahnhof Zoo. Diese soll von der U-Bahn-Ebene auf den Bahnhofsvorplatz führen. Angekündigt wurde sie von den Verkehrsbetrieben, der BVG, im Herbst 2012. Es folgten in rascher Folge: Behelfskonstruktion, Nachbesserung, Provisorium, neues Provisorium, mal aus Stahl, mal aus Holz, und schliesslich – Tusch! – eine neue Zwischenlösung. Mittlerweile war es Januar 2020 geworden: Berlin, rasender Stillstand, stehende Bewegung, gebannter Trubel, verzögerter Aufbruch, verhinderter Fortschritt.

Und warum? Weil Berlin den Berlinern egal ist? Oder weil «das auf Ausgleich, Modernisierung, Liberalität und feste, für alle geltende Regeln bedachte Bürgertum in den real existierenden Parteien seiner Stadt keine verlässlichen Repräsentanten» findet? So lautet die Diagnose des Historikers Götz Aly. Vielleicht ist es einfacher und trauriger zugleich: Erwachsene, die sich wie Kinder benehmen und sich gern wie Kinder behandeln lassen, müssen für ihr Tun keine Verantwortung übernehmen. Also erwarten sie es auch nicht von anderen. In der infantilen Gesellschaft ist alles auf Komplexitätsreduktion angelegt. Es entlastet vom Stress der Spätmoderne, wenn man für sein eigenes Tun nicht verantwortlich sein muss. Im Gegenzug lässt sich der kindische Mensch gängeln in seinen quietschbunten Paradiesen. Die Zeche zahlen andere.

Auf Baustellen heisst es, Eltern hafteten für ihre Kinder. Wer aber haftet für Berlin? Natürlich der Länderfinanzausgleich.

Vom Autor erscheint in diesen Tagen bei Harper Collins, Hamburg, ein neues Buch: «Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife». 256 S., Fr. 29.90.

 

Nota. - In West-Berlin wurde, wie in der DDR, die Arbeitslosigkeit versteckt; im Öffentlichen Dienst alias Staatsorgan, wie in der DDR. Er herrschte wie eine marodierende Besatzungs-macht, weil ihn niemand zur Verantwortung zog: Nach Jahrzehnten Großer Koalition war das Parteienkartell solide wie Beton. Und raten Sie, auf wem es ruhte (sic)! - Richtig: auf unserer Inneren DDR.

Dann kamen Wende und Wiedervereinigung: Über Nacht, noch vor dem offiziellen Termin, wuchs da zusammen, was zusammengehörte; und waren die Staatsorgane aus Ost und West wie Arsch und Hose. Das war der Sargnagel im Beton, da ist kein Durchkommen.

Berlin ist, wenn man trotzdem lacht. JE 

 

 

Samstag, 19. September 2020

Germanen gab es doch.

  

aus Tagesspiegel.de, 19. 9. 2020                                                      Kolorierte Gipsfigur eines germanischen Reiters mit Pferd, 1913.

Germanen-Ausstellung in Berlin  
Die zivilisierten Barbaren 
Sie hatten gern die Haare schön: Eine Ausstellung auf der Museumsinsel zeigt die Germanen als unsere entfernten Verwandten.
 
von

Die Probleme beginnen bereits mit dem Namen. Ein Volk der Germanen hat es nie gegeben, es wurde von den Römern erfunden. Der Begriff geht auf Cäsar zurück, der in seinem Kriegs-bericht „De bello Gallico“ alle Stämme rechts des Rheins als Germanen bezeichnete. Später hat der Historiker Tacitus in seiner Schrift „Germania“ Sitten und Bräuche der dortigen Men-schen eingehend beschrieben. Allerdings kannten Cäsar und Tacitus das meiste, was sie erzähl-ten, nur vom Hörensagen. Die so genannten Germanen selbst haben keine vergleichbaren Texte hinterlassen. Sie betrieben keine Historiografie. Ihre Runenschrift, aus der wohl im 3. Jahrhundert ein Alphabet mit 24 Zeichen entstand, diente hauptsächlich der Alltagskommu-nikation.

Die Ausstellung „Die Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme“ stellt diese so schwer zu greifende Gruppe zum ersten Mal in den Mittelpunkt einer umfassenden musealen Betrachtung („Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme“. James-Simon-Galerie und Neues Museum, bis 21. März, Di–So 9.30–18.30 Uhr, Do bis 20.30 Uhr. Das Begleitbuch im Theiss-Verlag kostet 50 Euro). Um die Verwendung des Germanen-Begriffs gibt es seit zwei Jahrzehnten in der archäologischen und historischen Forschung hitzig geführte Debatten. Die Ausstellungs-macher haben sich entschieden, ihn zu benutzen, weil sich, wie der Archäologe Michael Schmauder im Begleitbuch schreibt, „bestimmte Begriffe nicht aus dem allgemeinen Sprach-gebrauch und Bewusstsein wegdenken lassen“. So wird auf der Berliner Museumsinsel, in der James-Simon-Galerie und im Neuen Museum, nun beides präsentiert: der Mythos und, so weit sie sich fassen lässt, die historische Wirklichkeit.

Die Römer sahen sie als "Wilde" an

Die Ausstellung beginnt ungefähr zur Zeit Cäsars und endet mit der Völkerwanderung um 400, als Stämme wie die Goten, Vandalen und Sueben nach Süden aufbrachen und über den Limes tief ins römische Imperium vordrangen. Zwei großformatige bildliche Rekonstruktio-nen hängen einander gegenüber und zeigen, welche Kulturen am Rhein aufeinanderstießen: das römische Bonn und eine germanische Siedlung. Während Bonn eine von einer Wehrmauer umfasste Stadt mit schachbrettartig angelegten Gebäuden war, lebten die Germanen in dörf-lich zusammengerückten Gehöften neben Äckern und Wiesen.

Tacitus hat Germanien als „schauererregende“ Wildnis geschildert, bedeckt „entweder mit unwirtlichen Wäldern oder mit wüsten Sümpfen“. Mit der Realität hatten seine Worte wenig zu tun, das Land war hochgradig kultiviert, Siedlungen waren oft in Sichtweite voneinander angelegt, es gab jahrhundertealte Heerpfade und Handelswege, die bis nach Skandinavien und zum Schwarzen Meer reichten. Landwirtschaft und Handwerk dominierten, die Menschen lebten in langgestreckten Häusern mit ihrem Vieh zusammen. Die Ausstellung im Unterge-schoss der James-Simon-Galerie ist selbst wie ein Langhaus angelegt, eingefasst von sich konvex ausbuchtenden Wänden.

Mehr als 700 Exponate sind zusammengekommen, darunter Prunkstücke wie ein vollständig erhaltenes Holzschild, das zusammen mit militärischen Ausrüstungsteilen aus dem Thors-berger Moor bei Flensburg geborgen wurde. Nicht weniger beeindruckend sind viele Alltags-gegenstände. Ein Haufen von sorgsam zugeschnittenen Geweihteilen entpuppt sich als Hin-terlassenschaft eines Kammmachers. So wie sie in der Vitrine liegen, sieht es aus, als könne der Mann gleich zurückkommen und weitermachen mit seiner Arbeit.

Germanische Söldner in Syrien

Kämme fungierten als Rangabzeichen. Besonders kostbare Exemplare wurden als Beigaben in die Gräber von Stammesführern gelegt. Einige besonders schöne Beispiele sind in der Aus-stellung zu sehen, darunter ein pyramidaler Kamm aus Thüringen. Er trägt in Runen die Inschrift „kaba“, was Kamm heißt. Auf Haar- und Barttracht legten die Germanen offenbar großen Wert. Berühmt ist der Sueben-Knoten, ein filigran geflochtener Männerdutt, der über dem rechten Ohr getragen wurde. In der Ausstellung ist er an einer Figur von 1913 zu sehen, die einen Krieger mit Pferd, Schild und Lanze darstellt.

Es sind nur wenige zeitgenössische Abbildungen von Germanen überliefert, die eindrucks-vollsten stammen von Römern. Zwei Reliefs aus Mainz zeigen die Barbaren als besiegte Kriegsgegner. Sie waren menschliche Beutestücke, wurden in Ketten gelegt und meistbietend verkauft. Auf den Porträts sind sie muskulös und kräftig, sehen mit ihren gelockten Kurzhaarfrisuren nach römischer Mode aber durchaus zivilisiert aus. Krieg war allgegenwärtig in der Spätantike, die germanischen Stämme kämpften gegeneinander und gelegentlich auch zusammen gegen die Usurpatoren aus dem Süden.

Trotzdem muss man sich das Verhältnis von Römern und Germanen als symbiotisch vorstellen. Um ihr Imperium verteidigen zu können, waren die Römer auf Hilfskräfte angewiesen. Germanische Söldner lassen sich bis ins heutige Syrien nachweisen, nach 25 Dienstjahren konnten sie ein eingeschränktes römisches Bürgerrecht erhalten. Selbst der legendäre Partisan Arminius, ein Cherusker-Fürst, hatte in der römischen Armee gedient, bevor er die Seiten wechselte und in der Varusschlacht drei ihrer Legionen vernichtete.

Erstaunlich divers

Man sollte Zeit mitbringen für die enzyklopädisch ausschweifende Ausstellung, es lohnt, sich in Details zu vertiefen. Aus einem broschekleinen Messingbeschlag, gefunden im dänischen Syddanmark, blickt einem ein menschliches Gesicht entgegen, kunstvoll reduziert auf Striche und Bögen. Ein halbkreisförmiger Reif aus Schleswig-Holstein zeigt ineinander verschlungene Tiere, flankiert von menschlichen Köpfen. Das Rinderfigürchen, das aus Berlin-Schöneberg stammt, wurde vielleicht bei religiösen Riten verwendet, die aus dem römischen Stierkult entstanden.

Die „Germania“ von Tacitus war lange vergessen, ihre einzig erhaltene Abschrift ist im 15. Jahrhundert in der Abtei Hersfeld entdeckt worden. Damit wurden die Germanen zum Thema humanistischer Forschung, auf die im 19. Jahrhundert die nationalistische und völkische Verklärung folgte. Nun galt Arminius als Befreier, auf dem Hermannsdenkmal bei Detmold reckt er sein Schwert nach Westen, dem „Erbfeind“ Frankreich entgegen. Der Vaterländische Saal im Neuen Museum ist der ideale Ort, um diese Rezeptionsgeschichte zu erzählen.

Hier haben sich, arg beschädigt im Bombenkrieg, die von Wilhelm von Kaulbach Mitte des 19. Jahrhunderts entworfenen Fresken erhalten, die einen Fries nordischer Mythen bilden. Zwerge, Walküren und Nymphen treten auf, über der Eingangstür schwebt der Allvater wie ein Engel mit ausgebreiteten Armen in den Raum. Christliche Ikonografie mischt sich mit dem Totenkult der Götterdämmerung. Man wusste nicht recht, wie man sich die Germanen vorzustellen hatte. Es sind entfernte Verwandte, die in erstaunlich diversen Gesellschaften lebten.

 

 

Donnerstag, 17. September 2020

Die Wikinger waren eine ethnische Mischung.


aus spektrum.de, 16.09.2020

Nicht alle Wikinger waren blonde Skandinavier
Rund 300 Knochenreste zeigen: Die Wikinger stammten nicht alle aus Skandinavien – man konnte auch ohne Wikingergene eine Nordfrau oder ein Nordmann sein.

von Christiane Gelitz

Die allgemein als Wikinger benannten Gruppen in Nordeuropa waren genetisch nicht nur Skandinavier, und sie sahen auch nicht alle typisch nordisch aus. Das ist das Ergebnis von genetischen Analysen der Überreste von mehr als 300 Menschen der Wikingerzeit. Bei der jetzt in »Nature« veröffentlichten Studie handle es sich um »die bisher umfangreichste DNA-Analyse an Wikingern«, sagt Erstautorin Ashot Margaryan von der Universität Kopenhagen in einer Pressemitteilung.

Insgesamt sequenzierten sie und ihr Team die vollständigen Genome von 442 Männern, Frauen und Kindern, die zwischen 2400 v. Chr. und 1600 n. Chr. gelebt hatten. Die Fundorte reichen von Grönland und Irland im Westen bis nach Russland im Osten. Was die Gruppe überraschte: Knochen von den schottischen Orkney-Inseln wiesen keine der typischen Gen-signaturen der Nordmänner auf, die Toten waren vielmehr Einheimische gewesen. Offenbar hatten sie als »Wikinger« gelebt und waren als solche begraben worden. Der Wikingerkultur anzugehören, war demnach nicht auf Menschen begrenzt, die skandinavische Vorfahren hatten.

Und auch die aus skandinavischen Regionen stammenden Menschen der Wikingerzeit sahen den neuen Befunden zufolge nicht so aus, wie man sie sich lange vorstellte. Einige hatten kein blondes, sondern dunkles Haar. Gene aus Asien und Südeuropa hatten schon vor der Wikin-gerepoche Spuren im skandinavischen Erbgut hinterlassen. »Es war nicht vorherzusehen, dass es vor und während der Wikingerzeit einen bedeutsamen Genfluss nach Skandinavien aus Südeuropa und Asien gab«, sagt Eske Willerslev, Direktor am Zentrum für Geogenetik der Universität Kopenhagen.

Sammelgrab von 50 Wikingern im englischen Dorset

Wie die neuen Genanalysen zeigen, reisten die Seefahrer vom Gebiet des heutigen Dänemarks Richtung Eng-land, aus dem heutigen Schweden bis ins Baltikum und aus dem heutigen Norwegen Richtung Irland, Island und Grönland. »Unsere Abstam-mungsanalyse ist konsistent mit den Mustern, die Historiker und Archä-ologen dokumentiert haben«, heißt es in der Studie der Forscher. Offenbar waren die Wikinger teils im engen Familienverbund unterwegs: Die Genanalysen von 34 Skeletten aus Gräbern in Estland spürten vier Brüder auf, die Seite an Seite begraben waren. Auch die übrigen ähnelten einander genetisch so sehr, dass sie alle aus demselben Ort in Schweden stammen dürften.

Ein Beispiel für Angehörige der Wikingerkultur ohne skandinavisches Erbgut fanden die Forschenden auf den Orkney-Inseln: Dort wurden zwei Einheimische mit typischen Wikin-gerschwertern und anderen charakteristischen Beigaben begraben. Es könne sich um die frühesten bekannten Genome von Pikten handeln, die jemals untersucht wurden, erläutert der an der Studie beteiligte dänische Archäologe Søren Sindbæk. Die Pikten waren ein Keltisch sprechendes Volk, das während des Frühmittelalters auf dem Gebiet des heutigen Schottlands lebte. Sindbæk schließt daraus: »Die Identität der Wikinger war nicht begrenzt auf Menschen skandinavischer Herkunft.«

Das Wort Wikinger stammt vom skandinavischen Begriff »vikingr« und bedeutet »Seekrieger« oder »Seeräuber«. Die Wikingerzeit erstreckte sich von den ersten dokumentierten Überfällen um 750 bis 1050. Im Erbgut der heutigen Briten stecken den Angaben der Forscher zufolge schätzungsweise noch bis zu sechs Prozent Wikinger-DNA, in dem der Schweden ungefähr zehn Prozent.

 

 

Nota - Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE

Mittwoch, 16. September 2020

Tempora mutantur.


aus FAZ.NET,

Seehofer verteidigt Aufnahme von Flüchtlingen: Anders als 2015

Von Swaantje Marten, Berlin

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat die Entscheidung der Regierungskoalition verteidigt, 1553 Flüchtlinge von den griechischen Inseln in Deutschland aufzunehmen. Bei einer Befragung der Bundesregierung im Bundestag sagte Seehofer am Mittwoch, die jetzige Situation unterscheide sich fundamental von der im Jahr 2015. Es gebe jetzt eine klare Ver-einbarung mit Griechenland für ein geordnetes Verfahren, bei dem die Identität der Schutz-suchenden überprüft werde. „Das wird gut ablaufen“, sicherte Seehofer zu. „Wir haben die Dinge im Griff.“ ...

Ihn habe niemand zur Aufnahme der Flüchtlinge gedrängt, sagte Seehofer. „Wenn ich über-zeugt bin, dass etwas nicht geht, dann mache ich es auch nicht.“ Er habe bereits am vergan-genen Freitag gesagt, dass die Aufnahme von 150 unbegleiteten Minderjährigen von der Insel Lesbos nur ein erster Schritt sei und in einem zweiten Schritt Familien aufgenommen werden sollten. Man habe aber erst am Montag die genaue Zahl der Familien auf den griechischen Inseln vom Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) erfahren und dann auf dieser Grundlage entschieden, 408 in Deutschland aufzunehmen.

Dass Deutschland als einziger EU-Staat diese Familien aufnehme, bereite vielen in der Union Bauchschmerzen, so Seehofer. Kritik kam vor allem aus der Werteunion. Deren Vorsitzender Alexander Mitsch sagte, die Bundesregierung riskiere durch den Alleingang einen weiteren „Dammbruch im europäischen Einwanderungssystem“. Seehofer gab zu, dass die innerdeut-sche Diskussion der vergangenen Tage bei der Entwicklung einer europäischen Lösung „nicht geholfen“ habe.

Mit Blick auf das weitere Vorgehen sagte der CSU-Politiker, man brauche ein „europäisches Asylsystem für die Zukunft, das für viele Jahre Bestand hat“. Was die Europäische Union bislang mit Blick auf ein Asylrecht abgeliefert habe, sei „absolut armselig“. ...


Nota. - Absolut armselig? Aufmerksame Wähler einnern sich, dass die innerdeutsche Diskus-sion der Jahre 2015ff. "bei der Entwicklung einer europäischen Lösung" nicht geholfen hat. De-ren Stimmführer war damals Seehofer. Wenn man Angela Merkel je ein grobes Versäumnis vorwerfen kann, dann ist es, dass sie ihn damals nicht gefeuert hat. Doch ist ja noch nicht aller Tage Abend. Für die Bundestagswahl nächstes Jahr müssen sich alle Akteure Zug um Zug in Stellung bringen.

JE


Montag, 14. September 2020

Der Mensch, ein Jäger.


aus nzz.ch,

Der Mensch war wohl nicht immer schon Jäger. Aber die Jagd ist mit unserer ganzen Geschichte eng verbunden
Die Jagd gehört seit Urzeiten zum menschlichen Dasein. Ihre Anfänge liegen im Dunkeln – der Kulturphilosoph Roberto Calasso erhellt sie mit luziden Gedanken. Doch hilft uns die Prähistorie auch, die Gegenwart zu begreifen?
 
von Claudia Mäder

«Was für eine verteufelte Beschäftigung ist eigentlich die Jagd?» Eine gute Frage, gestellt von einem grossen Denker. Im Jahr 1943 reflektierte José Ortega y Gasset in einem Essay «Über die Jagd» und richtete den Blick, mitten im Zweiten Weltkrieg, auf den langen Verlauf der Weltgeschichte. In dieser, so hielt der spanische Kulturphilosoph fest, sei die Jagd ein Thema von «ungeheurer Grösse», und speziell in der jüngeren Zeit auch eine Tätigkeit, die den Menschen glücklich mache.

Wo dieses Glück herrührt, wollte der Autor mit seinen Reflexionen ergründen, und am Schluss des Essays war ihm die Sache klar: Beim Jagen finde der Mensch zurück zu seinem urtümlichen Wesen. Auf der Pirsch könne er den Kreis zu seinem archaischen Dasein schliessen, seinem «eingebauten» Beuteinstinkt nachgehen und also seine älteste Lebensform wiederentdecken, denn Ortega y Gasset war überzeugt, «dass das Sein des Menschen zuerst darin bestand, dass er Jäger war». Oder wie er kurz und bündig sagte: Anstatt den Menschen als Mensch zu bezeichnen, müsste man ihn eigentlich «den Jäger» nennen.

In den folgenden Jahrzehnten tat die Wissenschaft das Ihre, um Ortega y Gassets These zu stützen. «Man the Hunter» lautete der Titel eines bedeutenden Bandes aus dem Jahr 1968, in dem renommierte Anthropologen die Jagd als archetypische Lebensform des Menschen beschrieben und sie als treibende Kraft der Evolution präsentierten. Die These, dass dem menschlichen Wesen ein Jagdtrieb eignet, wurde aufgenommen und weiterentwickelt, ab den 1980er Jahren aber auch kritisiert und hinterfragt.


 

Neue Untersuchungen an Kieferknochen und Steinfundstücken deuteten nämlich darauf hin, dass sich die frühen Hominiden lange Zeit von Pflanzen und Früchten ernährt hatten und ihre ersten Werkzeuge nicht zum Töten, sondern zum Abschaben benutzten: Fleisch, so die Vermutung, haben unsere Vorfahren dann gegessen, wenn sie auf Aas trafen und die Hyänen ihnen davon noch mehr als die Knochen übrig gelassen hatten. Selber Tiere zu erlegen, damit haben die Hominiden demnach erst viel später begonnen, und aus dem Jäger-Menschen wurde also, weniger nobel, der Prototyp des aasfressenden Resteverwerters: «Man the Scavenger».

Die Botschaft der Sterne

Vor diesem veränderten Forschungshintergrund sinniert jetzt erneut ein grosser Kulturphilosoph über das Wesen der Jagd. Roberto Calasso, der seit fast fünfzig Jahren den Mailänder Adelphi-Verlag führt, hat sich in zahlreichen eigenen Büchern mit den Mythologien antiker Kulturen beschäftigt und umkreist nun mit seinem stupenden Wissen über Geschichte und Geschichten das Thema des Jagens. «Der himmlische Jäger» heisst sein jüngst auf Deutsch erschienenes Buch (das italienische Original ist 2016 herausgekommen), und der Titel gibt die Blickrichtung vor: Man guckt nach oben, ins Sternbild des Jägers Orion, und damit auch weit nach hinten, ins Dunkel der Vorzeit, denn die Sterne, schreibt Calasso, stünden für die Erinnerung, das Himmelsgewölbe sei der Raum der Vergangenheit, «ein intaktes Museum».

Orion, der grosse Jäger, ist laut der griechischen Mythologie von der Jagdgöttin Artemis in den Himmel versetzt worden, seine «Verstirnung» deutet das Ende eines Zeitalters an: Die grosse Jagd ist vorbei, Sesshaftigkeit und Viehzucht haben das Erbeuten von Tieren überflüssig gemacht. Und doch ist die Jagd damit nicht passé, sie wird zum Vergnügen weitergeführt (als «erstes l’art pour l’art», nach Calasso), sie ist zentrales Thema unzähliger Mythen, sie wird gemalt, beschrieben und besungen, kurzum: Die Jagd erscheint in den frühen Kulturen als grosses Echo – aber welche Sache liegt diesem enormen Widerhall zugrunde?

Laut dem Italiener weist die Erinnerung an die Jagd zurück auf «das Ereignis der Ereignisse in der Geschichte», nämlich den Abschied des Menschen vom Tier durch seine Entwicklung zum Jäger. Zu dieser Gestalt musste der Mensch, der «kein geborener Räuber» war, erst werden, und nur mithilfe einer zentralen, doch bereits bekannten Technik konnte er den Wandel vollziehen: Am Anfang stand die Nachahmung. Waren unsere Vorfahren beim Aasfressen zunächst dem Vorbild der Hyänen gefolgt, begannen sie später, ebenjene Tiere zu imitieren, die ihnen selber gefährlich wurden, jene, die den frühen Menschen jagten und zur Beute machten.

Der Mensch übernahm die Vorgehensweise der Raubtiere und optimierte seine kümmerliche Jagdausstattung mit «Prothesen» – spitzen Steinen, scharfen Pfeilen –, die wiederum den Tieren, ihren Krallen oder Zähnen, nachempfunden waren. Ganz allmählich hievten sich die Hominiden auf diese Weise an die Spitze der Nahrungskette, aber der Aufstieg war nur um einen hohen Preis zu haben: Seine Einzigartigkeit erreichte der Mensch dadurch, dass er sich seinen ärgsten Feinden anglich. In dem Masse, in dem er sich von den anderen Tieren trennte und seine Vormachtstellung erlangte, trennte er sich auch von sich selbst und ging auf den Räuber zu. Eine «Doppelbewegung über Kreuz», wie Calasso meint, und ein Vorgang, der zu einer «Verwirrung» führte, «aus der nicht mehr herauszufinden war», eine «Ruhmestat und eine Schuld, ineinander verschlungen».

Neue Nähe zu Hyänen

Inzwischen sind die meisten Menschen gemäss Calasso zwar eher wieder den Hyänen verbunden: «Sie essen, was andere getötet haben.» Trotzdem vermochte sich der Mensch vom verwirrenden Vorgang der Jagd nicht mehr zu lösen, auch in der ganzen Kultur spiegelt sich schliesslich sein Grundprinzip: Nachgeahmt wird nicht nur in Sprachen und Künsten, kopiert und rivalisiert wurde und wird auch zwischen Grossreichen, und was imitiert wird, kann, die Raubtiere zeigen es, zuweilen auch überflügelt werden. Diese Prozesse des Kopierens und Ersetzens aber sind noch längst nicht am Ende: Droht in düsteren Szenarien nicht der Mensch von ebenjenen Maschinen entmachtet zu werden, die seine eigene Intelligenz nachahmen sollen?

So setzt sich Calasso denn in einem Exkurs auch mit Alan Turing und der Digitalität auseinander, das Gros seines Buches aber bleibt in der Antike verankert, schweift dort von dieser zu jener Erzählung und ist dabei oftmals anregend und teilweise anstrengend. Zuweilen wünschte man sich eine andere Flughöhe, verliesse die himmlische Sphäre des fernen Erinnerns gerne und läse lieber geerdet von der Jagd und ihren Formen.

Eine Geschichte dieser Tätigkeit zu schreiben, beabsichtigt Calasso freilich so wenig, wie Ortega y Gasset das tat. Man kann die Meditationen der Denker durchaus sehr schätzen, darf aber auch darüber staunen, dass es an anthropologischen Reflexionen zur Jagd nicht mangelt, jedoch nur wenige historische Studien zum Thema vorliegen. Man kann das sogar ernstlich bedauern, denn jenseits jeder angenommenen Prägung aus der Urzeit ist die Jagd für die jüngere menschliche Geschichte tatsächlich von grosser, anhaltender und ganz konkreter Bedeutung: Viele Entwicklungen, die die europäischen Gesellschaften seit der Antike durchliefen, liessen sich versuchsweise als Jagdgeschichte erzählen.

Ein Spiegel der Gesellschaft

Wer war zum Jagen befugt?, könnte dabei zum Beispiel eine Leitfrage lauten. Obwohl schon in der Antike oftmals die Mächtigen jagten und sich eigene Gottheiten mit der Tätigkeit befassten, war das Jagen im Prinzip allen gestattet, an manchen Orten waren die Bürger gar dazu verpflichtet. Im Mittelalter änderten sich die Dinge, der Umgang mit der Jagd spiegelte nun die Ordnung der Stände. Während sich die Könige die Nutzung der Wälder sicherten und das Recht zum Erlegen von Tieren an Landesherren und Adel weitergaben, schränkten sie die Möglichkeiten der Untertanen immer stärker ein, ja verboten ihnen das Jagen bisweilen ganz.

Trotzdem mussten auch die Vertreter des untersten Standes zur Jagd beitragen: Wollte der königliche Forstbeamte etwa gegen «feindliche» Tiere wie den Wolf vorgehen, hatten die Bauern Mannschaften für die Verfolgungskampagnen zu stellen. Unternahmen die Herrschaften einen Jagdausflug, waren die Bauern verpflichtet, ihnen Herberge und Verpflegung zu bieten, und wenn die Höfe prunkvolle Jagdfeste abhielten, tagelang töteten, tranken und schmausten, wurden die Abgaben der Bauern verschleudert.

Zu Beginn der frühen Neuzeit wuchs der Widerstand gegen diese Lasten, bei etlichen Bauernaufständen und -kriegen war die Jagd ein wichtiges Thema. Die Zugeständnisse der Obrigkeit blieben vorerst gering, dafür wuchs die Gesetzgebung an: Immer präzisere Jagdreglementierungen lassen den Trend zur absolutistischen Bürokratie erahnen. Und für das Ende des alten Regimes sorgte schliesslich auch im Bereich der Jagd die Französische Revolution: Zusammen mit verschiedenen anderen Vorrechten hoben die Franzosen das Jagdprivileg des Adels 1789 auf, viele Staaten zogen in den Folgejahrzehnten nach.

Die Freiheit aber war nicht der letzte Wert, der das Jagdwesen prägte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Natur zum Thema, das die zunehmend urbanisierten Gesellschaften umtrieb. Vermehrt wurde über die Jagd nun im Zusammenhang mit Fragen des Schutzes von Räumen, Beständen und ausgewählten Arten diskutiert, und seit dem Aufkommen der Ökologiebewegung geschieht dies mit immer grösserer Verve – ein Blick auf den gegenwärtigen Abstimmungskampf genügt.

So ist es mit der Jagd heute vielleicht tatsächlich eine verteufelte, nämlich eine verteufelt komplizierte Sache. Aber zu diesem verworrenen Gegenstand ist sie wohl nicht primär darum geworden, weil sie uns mit verborgenen Urtrieben konfrontiert oder in uns schlummernde Erinnerungen an die Vorgeschichte weckt. Eher hat die Jagd den Menschen in den vergangenen Jahrhunderten permanent beschäftigt, weil er die alte Kulturtechnik stets durch die Linse seiner wechselnden Weltanschauungen betrachtet.

Roberto Calasso: Der himmlische Jäger. Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2020. 626 S., Fr. 53.90.

 

 

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. 

Samstag, 12. September 2020

Die Gruppe der Sechzehn in der Unionsfraktion.


Röttgen fordert stärkere Hilfsbereitschaft Deutschlands im Fall Moria 
Der Kandidat für den CDU-Vorsitz ist der Auffassung, dass Deutschland notfalls im Alleingang 5000 Flüchtlinge aufnehmen soll. Er unterscheidet sich damit von seinen Mitbewerbern Laschet und Merz.

Von Robert Roßmann, Berlin

Der Brief ist nur wenige Zeilen lang, aber es mangelt ihm nicht an Klarheit. "Lieber Herr Seehofer", schreiben die Autoren. Angesichts "der furchtbaren Bilder aus dem brennenden Moria und der menschenunwürdigen Lage im Camp wenden wir uns gemeinsam mit der dringenden Bitte an Sie, Griechenland konkrete Hilfe anzubieten". Deutschland und Europa könnten und müssten mehr tun. Es gehe "jetzt nicht vorrangig darum, eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik zu gestalten", sondern darum, "offensichtliche menschliche Not zu lindern". Deutschland müsse deshalb "möglichst gemeinsam mit anderen EU-Staaten, aber notfalls auch alleine, 5000 Flüchtlinge" aus Griechenland aufnehmen. In einer humanitären Notlage dürfe Deutschland "nicht passiv bleiben oder auf andere warten".

Unterschrieben haben diesen Brief an Seehofer 16 Abgeordnete aus der Unionsfraktion - un-ter ihnen die Vorstandsmitglieder Michael Brand, Antje Tillmann und Roderich Kiesewetter sowie der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen. Wenn sich die Initia-toren Zeit gelassen hätten, hätten noch mehr Abgeordnete unterschrieben. Aber Röttgen & Co. war es wichtig, ihre Botschaft schnell loszuwerden.

Wie soll man mit dem Schrecken von Moria umgehen? Das beschäftigt natürlich auch die CDU. Und die Gruppe der 16 ist dabei der eine Pol in der Debatte. Zu dem anderen gehören Abgeordnete wie der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias Middelberg. Sie lehnen einen deutschen Alleingang vehement ab, weil das falsche Anreize setze und sich die anderen EU-Staaten dann zurücklehnen könnten. Zu diesem Lager gehört auch Friedrich Merz und der Großteil der Unionsfraktion. Armin Laschet, neben Röttgen und Merz dritter Kandidat für den CDU-Vorsitz, steht dazwischen.

Laschet: NRW nimmt bis zu 1000 Geflüchtete aus Moria auf

Anfang August hatte Laschet das Lager Moria selbst besucht. Er hat damals eindringlich auf die unzumutbare Situation dort hingewiesen. Einen "Aufschrei der Verzweifelten" habe er erlebt, sagte Laschet. Den Menschen müsse geholfen werden. Das war vor dem Brand in Moria, inzwischen ist die Lage dort noch schrecklicher als damals. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident hat angekündigt, dass sein Bundesland 1000 Flüchtlinge aufnehmen wolle. Aber er hat gleichzeitig vor einem deutschen Alleingang gewarnt. Der Aufforderung Röttgens an Seehofer, notfalls sogar 5000 Flüchtlinge im Alleingang aufzunehmen, hat sich Laschet nicht angeschlossen.

Röttgen greift seine zwei Mitbewerber um den CDU-Vorsitz zwar nicht direkt an. Aber er macht deutlich, dass er deren Positionen für unzureichend hält. "Auf diese humanitäre Notlage müssen wir schnell und angemessen reagieren, und das können wir auch", sagte Röttgen der Süddeutschen Zeitung. Es handele sich um eine "abgrenzbare humanitäre Notlage", bei der man deshalb "helfen könne, ohne falsche Anreize zu setzen". Und die Bereitschaft zur Hilfe sei "ja auch da: Es gibt zehn Großstädte in Deutschland, die Flüchtlinge aufnehmen wollen - auch Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen und Bayern haben sich bereit erklärt".

Röttgen hält deshalb nicht nur das, was die Bundesregierung bisher angeboten hat, für zu wenig. Er findet auch, dass das eine Situation ist, in der sich niemand politisch wegducken sollte. "Mir ist es gerade auch als Kandidat für den CDU-Vorsitz wichtig, klarzumachen, wie eine christlich-demokratische Position in einem solchen Fall aussehen sollte", sagte Röttgen. Und dabei sei seine Richtschnur: "Wir müssen uns auf die Stärke unserer Verantwortungs-prinzipien besinnen - und dürfen keine Angst haben, menschlich zu handeln."


Nota. - Während der Flüchtlingskrise 2015 war es kurzsichtig, sie als eine bloße Frage der Nächstenliebe darzustellen. Das hat es den Stimmungsmachern auf der Gartenzwergseite unnötig leicht gemacht. Es ging aber um die Stellung Deutschlands in Europa und der Welt, und dazu haben die Krakeeler gar nichts zu melden.

Jetzt geht es allerdings nicht um große Politik, sondern bloß um zehntausend Menschen. Dass wir es "schaffen werden", diese überschaubare Zahl in Europa unterzubringen, bestreitet ja wohl keiner. Es geht bloß darum, ob wir es wollen, und das ist in der Tat eine Sache der Menschenfreundlichkeit.
 
Dass wir auch diesmal ein Zeichen setzen, hat dann aber doch eine weiterreichende Bedeutung. Es ist zu begrüßen, dass die sechzehn - wenigstens die sechzehn - in der Union nicht hinter die Errungenschaft von 2015 zurückfallen wollen.
 
Mit andern Worten, einen laschen Eiermann als Kanzler können wir uns nicht leisten.
JE
 
 
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