aus nzz.ch, 27.09.202
Herr Röttgen, Sie wollen im Dezember Bundesvorsitzender der CDU werden und bewerben sich damit auch für die Kanzlerkandidatur bei den Bundestagswahlen 2021, liegen in den Umfragen aber hinter den Konkurrenten Armin Laschet und Friedrich Merz. Was treibt Sie an?
Mir geht es darum, zu vermitteln, dass wir im kommenden Jahrzehnt dramatische Veränderungen erleben werden; wir gehen im Grunde einem ganz neuen Zeitalter entgegen. An diese Zeit muss man sich anpassen und darf nicht hinterherlaufen. Das verlangt Kraft und Flexibilität. Als Partei und als Land sind wir darauf noch nicht wirklich vorbereitet. Ich will Deutschland und die CDU als Volkspartei gestärkt in diese Zukunft führen.
An welche Veränderungen denken Sie?
Die grossen Treiber sind Technologie und Geopolitik. Die Digitalisierung wird Wirtschaft und Gesellschaft revolutionieren. In Deutschland müssen wir hier einen grossen Sprung machen, sonst sind wir abgehängt. Wir müssen ferner unser Verhältnis zu den USA neu definieren, egal ob Joe Biden oder Donald Trump zum Präsidenten gewählt wird. China ist für uns nicht mehr nur ein grosser Markt, sondern ein geostrategischer Akteur. Ob es zu China eine europäische Strategie geben wird, wird am allermeisten in Berlin entschieden. Auch das Verhältnis zu Russland wird komplizierter.
Bei der Aufklärung der Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny fordert Russlands Aussenminister Sergei Lawrow Deutschland zur Kooperation auf. Wie geht man mit so einer Aussage um?
Das Verbrechen an Nawalny muss dort aufgeklärt werden, wo es stattgefunden hat: in Russland. Alles andere ist Vernebelung und Zynismus. Der Fall Nawalny ist ein weiterer Fall in einer Serie und ist Ausdruck eines menschenverachtenden politischen Systems. Mit der Vergiftung, die auch noch bewusst öffentlich dargeboten wurde, ist das Mass voll. Es muss eine Reaktion erfolgen.
Wie sollte die aussehen?
Durch das allgemeine Gefühl, dass dieses Mal einmal zu viel war, ist ein europäisches Momentum entstanden. Jetzt kann nicht mehr mit diplomatischen Standardformeln reagiert werden, sondern Europa muss eine politische Antwort geben, die Russlands Präsident Wladimir Putin auch versteht. Dabei hat die Pipeline Nord Stream 2 eine zentrale Bedeutung. Wenn wir dieses Projekt in einem Jahr einweihen, nimmt Moskau uns nicht mehr ernst.
Warum ausgerechnet Nord Stream 2?
Machtpolitisch zielt Nord Stream 2 darauf ab, die Ukraine von der Erdgasversorgung abzuschneiden. Damit könnte Moskau die gesamte Ukraine – nicht mehr nur den Osten – destabilisieren. Das wäre ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zum machtpolitischen Ziel Putins. Er will die Staaten entlang der russischen Westgrenze von Georgien über die Moldau und die Ukraine bis Weissrussland zu einer russischen Einflusszone machen. Moskau verweigert diesen Ländern das volle Selbstbestimmungsrecht und möchte erreichen, dass Europa das toleriert.
In Weissrussland kommt Putin mit dem Ausbau seines Einflusses offenbar gut voran.
Wie weit er damit kommt, hängt von dem bewundernswerten Durchhaltewillen der Bevölkerung ab. Wenn die Menschen ihre Angst vor dem Regime verlieren und auf die Strasse gehen und dabeibleiben, ist ihnen keine Staatsmacht gewachsen. Das müssen wir unterstützen, indem wir nicht wegschauen und auch personenbezogene Sanktionen verhängen.
Kommt Nord Stream 2 nicht, hätte Präsident Trump sein Ziel erreicht. Er hatte Europa unter Druck gesetzt, das Projekt zu stoppen.
Da muss ich widersprechen. Wenn die Europäer keine Entscheidung treffen, aber amerikanische Sanktionen das Aus von Nord Stream 2 bewirken, hätten die Amerikaner eine europäische Entscheidung getroffen. Wenn aber wir Europäer einem Unrechtssystem entgegentreten, ist es unsere Entscheidung. Darum spreche ich von einem europäischen Moment.
Trump stösst Europa und Deutschland permanent vor den Kopf. Wie geht man mit dieser Administration in Washington um?
Mit der gegenwärtigen Administration ist schwer umzugehen, weil die Kooperationsbereitschaft in Washington nicht sehr gross ist. Der angekündigte Truppenabzug aus Deutschland beispielsweise wird nicht besprochen, sondern findet einfach statt. Dann reist der amerikanische Aussenminister Mike Pompeo quer durch Europa, kommt aber nicht nach Deutschland.
Was wäre der grösste Unterschied, sollte Joe Biden Präsident werden?
Rationalität und ein partnerschaftlicher Geist würden in das Verhältnis zurückkehren. In der Sache aber wären die Erwartungen an Deutschland nicht sehr anders als unter der jetzigen Administration. Ich denke an Nord Stream 2, den Umgang mit China oder die Verteidigungsausgaben.
Wie versuchen die USA, die deutsche Chinapolitik zu beeinflussen?
Washington macht Druck, auch mit Hilfe von Androhungen negativer Folgen. Bei 5G fordern die USA, dass Europa chinesische Unternehmen aussperre. Ich bin bei Huawei auch skeptisch, reagiere aber nicht auf amerikanischen Druck. Ich habe ernsthafte Sicherheitsbedenken. Auf der einen Seite herrscht in Washington eine ökonomische und sicherheitspolitische Bestrafungsmentalität, auf der anderen Seite ein enormer Erwartungsdruck, dass wir tun, was man in Washington für richtig hält.
Muss Europa auch bei anderen Themen gegenüber China robuster auftreten?
Es ist wichtig, dass wir von einer einseitig industriepolitischen Chinapolitik zu einer umfassenden und europäischen Chinapolitik kommen. In diesem Zusammenhang war der jüngste EU-China-Gipfel mit Präsident Xi Jinping, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundeskanzlerin Angela Merkel sehr gut. Wir haben klargemacht, dass es uns nicht nur ums Kaufen und Verkaufen geht, sondern wir China auch als wichtigen geopolitischen Akteur sehen und es grundlegende Meinungsverschiedenheiten gibt. Die müssen thematisiert werden.
Was würden Sie als Erstes in Angriff nehmen, sollten Sie im kommenden Jahr deutscher Bundeskanzler werden?
Entscheidend sind jetzt nicht einzelne Programmpunkte. Wir müssen klarmachen, wie riesig die Diskrepanz zwischen dem Veränderungsdruck und unserer Status-quo-Mentalität ist. Wenn wir unsere Werte und die Art, wie wir leben, bewahren wollen, müssen wir uns verändern. Wir haben es im Moment nicht mit Fachfragen, sondern mit einer Überlebensfrage zu tun. In einer solchen Situation braucht es politische Führung.
Im Moment spüren die Menschen diese Führung nicht?
Ich glaube, wir haben gesellschaftlich noch nicht hinreichend verinnerlicht, wie gross der Veränderungsdruck ist. Das muss noch stärker thematisiert werden. Wie erfolgreich klare Kommunikation sein kann, haben wir beispielsweise in den ersten zwei Monaten der Pandemie gesehen. Das war sehr hilfreich, und davon brauchen wir mehr.
Wo ist der Reformbedarf in der Wirtschaft in Deutschland am grössten?
Ich würde mit einem gesellschaftlich breit angelegten Pakt für Technologie und Digitalisierung starten. Das beträfe den Bund, die Länder, die Kommunen sowie die Wirtschaft, die Universitäten und die Schulen. Wo wir im Bereich der Digitalisierung momentan stehen, illustriert ja, dass wir gerade erst damit anfangen, in den Schulen iPads zu verteilen.
Gehören dazu auch staatliche Investitionsprogramme?
Natürlich braucht es öffentliche Investitionen, aber es braucht vor allem die Mobilisierung privater Investitionen. Eine solche gesamtgesellschaftliche Transformation kann nur gelingen, wenn vor allem privates Kapital mobilisiert wird.
Sie treten für Steuerentlastungen ein, gleichzeitig muss nach der Corona-Krise der Haushalt saniert werden. Wie geht das zusammen?
Die Pandemie und der Investitions- und Modernisierungsbedarf veranlassen uns, in der Haushaltspolitik die Spielräume zu nutzen, die die Verfassung bietet. Also in den Grenzen der Schuldenbremse, aber auch nicht mehr. Wir sind in einer Phase, in der auf Anreize und Investitionen nicht verzichtet werden kann.
Was ist mit Steuersenkungen?
Bei der Einkommensteuer möchte ich eine Entlastung in der Mitte. Ich halte die gegenwärtige Belastung mittlerer Einkommen für leistungs- und konsumfeindlich. Bei der Unternehmenssteuer geht es mir darum, Freiräume zu schaffen und damit internationale Wettbewerbsfähigkeit herzustellen.
Bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen 2012 sind Sie als Spitzenkandidat mit der CDU krachend gescheitert. Wie arbeitet man sich aus so einem Tief heraus?
Es ist eine besondere Erfahrung, eine Niederlage zu erleben und wieder aufzustehen. Dadurch, dass ich aufgestanden bin und weitergemacht habe, konnte ich mir mit der Aussenpolitik eine faszinierende neue Welt erschliessen.
Nota. - Ganz oben stehen Weltpolitik und Digitalisierung. Digitalisierung und Weltpolitik sind nicht zu trennen. So klar hat das kein anderer gesagt. Und kein anderer wäre damit auch glaubwürdig gewesen. Das Erbe von Angela Merkel heißt nicht weiter so, sondern jetzt erst recht.
JE