Wenn in einem Landkreis die Schweinepest auftritt, werden die Bestände flächendeckend gekeult.
Das ist ein schwerer Schlag für die Züchter. Aber dass dadurch die Verfassung oder die Grundrechte beschädigt würden, ist noch nicht behaupet worden.
Bei Covid-19 wurde das bislang gar nicht in Vorschlag gebracht, doch schon ist das Geschrei groß.
Nota - Das
obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog.JE
Die Überlebensfrage des Rechtsstaats lautet, ob Recht gilt, stimmts? Dabei ist es dasselbe, ob kein Recht gilt, oder ob Recht nicht gilt.Auch das stimmt.
Chinas "Venedig der Steinzeit" wurde von Monsunregen zerstört
Ein archäologisches
Forschungsteam fand in Tropfsteinen Hinweise darauf, dass die
Hochkultur starken Niederschlägen und Überflutungen nicht standhielt
Während im heutigen Zentraleuropa vor etwa 5.300 Jahren Ötzi über die
Berge zog, entstand tausende Kilometer weiter östlich eine
beeindruckende Stadt: Liangzhu läge heute im Südosten Chinas und
entwickelte schon damals eine komplexe Wasserversorgung mit Kanälen und
Reservoirs, deren Ausmaß vor vier Jahren bekannt wurde. Eine der fortschrittlichsten Kulturen dieser Zeit also.
Ein Forschungsteam mit Innsbrucker Beteiligung berichtet nach der Analyse von Tropfsteinen nun im Fachblatt "Science Advances"
über den Grund für den Untergang der Stadt, die auch als Chinas
"Venedig der Steinzeit" bezeichnet wird: Klimaänderungen mit starken
Monsunregen ließen die Hochkultur zugrunde gehen.
Die 160 Kilometer südwestlich von Schanghai gelegenen Ruinen von
Liangzhu im Jangtse-Delta wurden erstmals 1936 entdeckt und ab den
1970er-Jahren systematisch ausgegraben. Dabei wurden unter anderem
tausende kunstvoll gearbeitete Grabbeigaben aus Jade gefunden. Das
Besondere an der Liangzhu-Kultur sind aber die immensen
Wasserbauanlagen, die schon im späten Neolithikum, in der Jungsteinzeit,
errichtet wurden.
Starke Schwankungen
Liangzhu liegt in einer Region mit
starken Niederschlagsschwankungen, wo Überschwemmungen üblicherweise im
Juni auftreten, gefolgt von trockenen und heißen Sommermonaten, schreibt
die Forschungsgruppe um Haiwei Zhang von der Xi'an-Jiaotong-Universität
in der Arbeit. Ihnen zufolge wurde vor 5.300 bis 4.700 Jahren ein
komplexes System an schiffbaren Kanälen, Dämmen und Wasserreservoirs
errichtet, um große landwirtschaftliche Nutzflächen ganzjährig
bewirtschaften zu können. Die 2019 von der Unesco in die Liste der Welterbestätten
aufgenommene archäologische Stätte gilt als eines der ersten Beispiele
für ein hochentwickeltes Gemeinwesen basierend auf einer
Wasserinfrastruktur. Daher rührt auch der Vergleich mit Venedig.
Fast eintausend Jahre lang war die Stadt bewohnt, ehe die Hochkultur
vor etwa 4.300 Jahren ein abruptes Ende fand. Die Ursachen dafür waren
bisher umstritten. "Auf den erhaltenen Überresten wurde eine dünne
Lehmschicht nachgewiesen, die auf einen möglichen Zusammenhang des
Untergangs der Hochkultur mit Überschwemmungen des Jangtse oder Fluten
vom Ostchinesischen Meer hinweist", erklärt Christoph Spötl vom Institut
für Geologie der Universität Innsbruck in einer Aussendung.
Aus dieser Schicht allein seien allerdings keine eindeutigen
Rückschlüsse auf die Ursache möglich. Und Hinweise auf kriegerische
Auseinandersetzungen oder andere menschliche Auslöser seien auch nicht
entdeckt worden.
Klimaarchiv Tropfstein
Um einer möglichen klimatischen
Ursache des Niedergangs der Liangzhu-Kultur auf den Grund zu gehen,
untersuchte das Forschungsteam Tropfsteine. Sie zählen zu den
wichtigsten Klimaarchiven, denn die Stalaktiten und Stalagmiten wachsen
über Jahrtausende in Höhlen und schließen dabei verschiedene Elemente
wie Kohlenstoff, Sauerstoff oder Uran ein. Damit zeichnen sie die Klima-
und Umweltbedingungen sowie deren Veränderungen auf. Mithilfe
geochemischer Untersuchungen können Forschende diese Informationen
auslesen. So lassen sich die klimatischen Verhältnisse oberhalb der
Höhlen rekonstruieren – eine Reise in die Vergangenheit, die mehrere
100.000 Jahre zurückliegen kann.
Haiwei Zhang, der 2017 an der Uni Innsbruck als Gastwissenschafter
tätig war, entnahm aus den beiden südwestlich der Ausgrabungsstätte
liegenden Höhlen Shennong und Jiulong Proben von Stalagmiten. "Diese
Höhlen befinden sich im gleichen Einflussgebiet des südostasiatischen
Monsuns wie das Jangtse-Delta und erlauben uns mit ihren Tropfsteinen
einen exakten Blick in die Zeit des Zusammenbruchs der Liangzhu-Kultur",
sagt Spötl.
Überflutungen am langen Fluss
Die Analysen der Isotopenwerte
des Kohlenstoffs in den Tropfsteinen an der Uni Innsbruck sowie
Uran-Thorium-Analysen an der Xi'an-Jiaotong-Universität zeigten:
Zwischen 4.345 und 4.324 Jahren vor heute trat eine extrem
niederschlagreiche Klimaphase auf. So alt ist auch die in der Region
gefundene dünne Schlammschicht.
"Die massiven Monsunregen dürften zu so starken Überflutungen des
Jangtse und seiner Seitenarme geführt haben, dass selbst die
hochentwickelten Dämme und Kanäle diesen Wassermassen nicht mehr
standhielten, die Liangzhu-Stadt zerstörten und den Menschen nur die
Flucht blieb", sagt Spötl. Diese sehr feuchten Klimabedingungen blieben
mit Unterbrechungen weitere 300 Jahre bestehen.
Untergang und Gründung
Der Untergang anderer neolithischer
Kulturen im Jangtse-Delta fiel dann mit einer ausgedehnten Dürreperiode
zusammen, die vor rund 4.000 Jahren begann. In dieser Zeit kam es weiter
im Norden auch zur Gründung der Xia-Dynastie vor etwa 4.020 Jahren, die
als erste Dynastie Chinas gilt.
Die Forschungsgruppe vermutet, dass die hydroklimatischen
Veränderungen vor 4.300 bis 3.000 Jahren auf Schwankungen der
sogenannten El Niño-Southern Oscillation
zurückgehen. Durch schwächere sommerliche Sonneneinstrahlung auf der
Nordhalbkugel könnte sich dieses gekoppelte Zirkulationssystem von
Erdatmosphäre und Meeresströmung im Pazifik verändert haben, lautet die
Vermutung. (APA, red)
aus spektrum.de, 16. 12. 2020 Perlen aus Jade, Neophrit u. a.
Chinas Venedig der Steinzeit Unweit
von Schanghai liegt Liangzhu. Vor rund 5300 Jahren errichteten Menschen
dort eine ummauerte Stadt, die über ein komplexes System aus Dämmen und
Kanälen schiffbar war. Ein Paukenschlag in der weltweiten
Zivilisationsgeschichte.
Vor
rund 5300 Jahren erhob sich aus dem Delta des unteren Jangtse eine
blühende Metropole. Die Menschen konnten die Stadt zu Fuß betreten. Eine
Straße führte durch die hoch aufragenden Mauern. Die meisten Bewohner
fuhren aber wohl eher mit dem Boot. Denn um die Stadt erstreckte sich
ein weit verzweigtes Netz von Kanälen, über das die Bewohner bis ins
Zentrum der Metropole gelangen konnten. Dort ragte bis zu 15 Meter hoch
eine Plattform auf, die auf einer Fläche von 630 mal 450 Metern aus Erde
aufgeschüttet worden war. Obenauf stand ein ausgedehnter palastartiger
Komplex samt großen Kornspeichern. Zwischen Plattform und Stadtmauern
lagen Nekropolen mit reich ausgestatteten Gräbern. Die Wasserwege
jenseits der Umwehrung ließen sich durch eine Reihe gewaltiger Dämme und
Speicherseen regulieren.
Die
Stadt, die heute unter dem Namen Liangzhu bekannt ist, war fast
1000 Jahre lang bewohnt. Ihre Kultur bestimmte auch das Leben in der
umliegenden Region, die regelmäßig vom Fluss überschwemmt wurde. Mehr
als 100 Kilometer entfernt von der Stadt entdeckten Forscher noch
ähnliche Funde wie in Liangzhu. Die Ausgräber fanden auch heraus, dass
die Stadt um 2300 v. Chr. untergegangen war – und danach in
Vergessenheit geriet. Erst in den letzten zehn Jahren kamen Archäologen
dem wahren Ausmaß der frühen Metropole auf die Spur.
Ihre Forschungen zeigen: Liangzhu war eine staatlich
organisierte Gesellschaft, offenbar die bislang älteste bekannte ihrer
Art in Ostasien. »Meiner Ansicht nach gibt es weltweit nichts
Vergleichbares, das so früh datiert und hinsichtlich der
Wasserbewirtschaftung – oder überhaupt hinsichtlich irgendeiner Art von
Bewirtschaftung – derart monumental angelegt ist«, sagt Vernon
Scarborough von der University of Cincinnati in Ohio. Frühe
Zivilisationen entstanden demnach nicht allein im alten Ägypten oder
Mesopotamien. Auch im fernen Osten blühte um 3300 v. Chr. eine hoch
technisierte Kultur auf. Das heißt: Die Idee der Zivilisation erblickte
mehrfach das Licht der Welt. Gräber mit kostbaren Jadeobjekten
Die
ersten Hinweise auf eine prähistorische Kultur im Jangtse-Delta
entdeckte 1936 Shi Xingeng. Der Forscher, der im West Lake Museum von
Hangzhou arbeitete, benannte die Stätte nach der nahe gelegenen Stadt
Liangzhu. Shi hatte vor allem Überreste einer eher unscheinbaren
schwarzen Keramikware gefunden. Erst in den 1970er und 1980er Jahren
erregte Liangzhu große Aufmerksamkeit, als die Nekropolen im Umfeld der
alten Stadt frei gelegt wurden.
In den meisten Gräbern lagen zwar
kaum Beigaben, doch einige wenige Bestattungen enthielten hunderte
kunstvolle Gegenstände aus Jade – darunter die frühesten Beispiele der
für Chinas alte Kulturen so typischen Cong-Röhren sowie so genannte
Bi-Scheiben. Das sind dünne, in der Mitte durchlochte Steindisken. Auf
vielen dieser Stücke ist die Figur eines Mannes dargestellt, der einen
üppigen, mit Federn verzierten Kopfschmuck trägt. Er reitet auf einem
Ungeheuer mit riesigen Kulleraugen und gebleckten Zähnen. Gut möglich,
dass die beiden Mythengestalten oder im Kult bedeutsame Figuren waren.
Jedenfalls tauchen der Furcht erregende Reiter und sein Tier noch auf
weiteren Grabbeigaben auf, wie Ritualäxten, Anhängern und Ziertäfelchen
für Kopfbedeckungen.
Cong-Röhre | In einer Nekropole von Liangzhu
stießen die Archäologen auf reich ausgestattete Gräber. Elf davon
enthielten insgesamt 3000 Objekte aus Jade, darunter diese neun
Zentimeter hohe Cong-Röhre. Darauf ist mehrfach ein Reiter mit Federputz
abgebildet, der auf einem Ungeheuer mit Kulleraugen und gebleckten
Zähnen sitzt.
Bislang hielten Forscher derartige Objekte für Zeugnisse späterer Kulturen.
So hätten frühestens Angehörige der Zhou-Dynastie, ab 1046 v. Chr.,
Kunstwerke aus Jade gefertigt. Doch nun lagen solche Stücke in einer
5000 Jahre alten, neolithischen Nekropole. Es war ein erster Fingerzeig,
dass Liangzhu möglicherweise eine hierarchisch strukturierte
Gesellschaft beherbergt hatte, deren Handwerker kunstvolle Artefakte
fertigten und deren Elite wohlhabend genug war, sich solch kostbare
Stücke zu leisten.
Die
Entdeckungen gaben Anlass für weitere Grabungen. Zwischen 1987 und 1993
fanden die Forscher die künstlich angelegte Erhebung im Herzen der
Stadt. Sie bedeckt eine Fläche von fast 300 000 Quadratmetern. Die
Menschen von Liangzhu hatten darauf aus Holz und Bambus einen großen
Baukomplex errichtet, den die Ausgräber als Mojiaoshan bezeichneten.
Anschließend kamen die Reste von Stadtmauern ans Licht: mehr als
20 Meter breit, noch 4 Meter hoch anstehend und umgeben von
Wassergräben. Ähnlich einem Quadrat mit abgerundeten Ecken umfassten die
Mauern aus Erde eine Fläche von 1900 mal 1700 Metern. Und
offensichtlich hatten die Einwohner Nahrung im Überfluss: Neben der
großen Plattform stießen die Ausgräber auf eine Grube mit ungefähr
13 000 Kilogramm verkohltem Reis. Womöglich, so vermuten die
Archäologen, war das Getreide in einem der Kornspeicher auf Mojiaoshan
verbrannt und dann nahebei in der Grube verscharrt worden.
Ein gigantisches System aus Dämmen und Kanälen
Zuletzt 2016 und 2017 erschienen jeweils in »Chinese Archaeology« und »PNAS«
wissenschaftliche Studien, die es in sich hatten: Forscher um Liu Bin
vom Zhejiang Provincial Institute of Cultural Relics and Archaeology in
Hangzhou hatten erstmals die monumentalen wasserbaulichen Maßnahmen der
Liangzhu-Kultur kartiert. Sie werteten Satellitenbilder aus, nahmen
Bohrkerne und legten bei weiteren Grabungen westlich der Stadt eine
Reihe niedrig gebauter Dämme frei. Um das Überflutungsgeschehen in der
Ebene zu regulieren, waren dort unterschiedlich lange Sperrbauten auf
dem nassen Untergrund angelegt worden – der mit Abstand größte misst
5 Kilometer in der Länge und 50 Meter in der Breite. Arbeiter hatten
dafür unzählige mit Stroh umwickelte »Sandsäcke« aufgeschichtet, deren
Struktur sich noch heute im Erdreich abzeichnet. Überdies hatten die
Erbauer flussaufwärts fünf höhere Dämme angelegt: Zwischen 50 und
200 Meter lang ragen sie teils noch 10 Meter hoch auf. Hinter den Dämmen
sammelte sich einst das aus dem Gebirge abfließende Wasser in riesigen
Speicherseen. Mit Hilfe der Sperrbauten ließ sich der Wasserhaushalt auf
einer Fläche von mehr als 10 000 Hektar kontrollieren, fast
6,5 Milliarden Kubikmeter Wasser wurden gebändigt. C-14-Datierungen
sowie eine stilistische Analyse von Jadeobjekten, die in der Nähe der
Deiche zu Tage kamen, ergaben: Einige Dämme standen bereits vor
5200 Jahren, also zur Zeit von Liangzhu. Und mancher Deich überdauerte
die Jahrtausende bis heute: Der Qiuwu-Damm etwa ist noch immer in
Betrieb.
Die
Stauseen sicherten die Bewässerung der Reisfelder. Ebenso hielten sie
Überschwemmungen zurück. Sie speisten zudem 51 Wasserwege, die das
Gebiet um Liangzhu vernetzten. Dabei handelte es sich teils um
natürliche Flussläufe, teils um Kanäle, die zusammengenommen eine Länge
von ungefähr 30 Kilometern ergaben. »Der Austausch muss größtenteils per
Boot erfolgt sein – es war eine Stadt der Kanäle ebenso wie der
Straßen«, schreiben Colin Renfrew von der University Cambridge und
Liu Bin 2018 in »Antiquity«.
Vielleicht am ehesten vergleichbar ist Liangzhu mit dem
mittelalterlichen Venedig oder den berühmten »Wasserstädten« in der Nähe
von Schanghai, die jedoch einige tausend Jahre später entstanden sind.
Über das Kanalsystem schaffte man auch Baumaterialien wie
Holz und Stein in die Stadt. Das belegen petrologische Untersuchungen.
Die Fundamente der Stadtbefestigung fußten nämlich auf Steinmaterial,
das aus dem nördlich gelegenen Gebirge stammte. Per Boot brachte man die
unbehauenen Bruchsteine nach Liangzhu. Im Mauerring der Stadt gab es
acht Wasserpforten, durch die Boote einfahren konnten.
Anbruch einer neuen Epoche
Während
die Forschungen in Liangzhu weitergehen, deuten Entdeckungen anderswo
in China darauf hin, dass das »Venedig« im Jangtse-Delta das Phänomen
einer sozialen und kulturellen Umbruchzeit war. Erst im Jahr 2019 legten chinesische Archäologen dar,
dass vor mehr als 5000 Jahren ein Wandel einsetzte: Im Gebiet des
unteren und mittleren Jangtse – in der heutigen Provinz Sichuan – sowie
entlang des unteren Gelben Flusses entstanden zahlreiche Siedlungen.
Einige, darunter Shijiahe im mittleren Jangtse, waren so groß, dass nur
gut organisierte Arbeiterschaften in der Lage gewesen sein können, die
Gräben und Mauern anzulegen. »Liangzhu ist mit Abstand das größte
Beispiel, aber es gibt noch andere umwehrte Stadtzentren«, sagt die
Sinologin und Archäologin Jessica Rawson von der University of Oxford.
»Die Handwerkskunst war in mehreren Regionen Chinas bereits sehr
fortgeschritten, nicht nur für das Material Jade, sondern auch bei
verschiedenen Keramiken.« Einige dieser Stätten standen miteinander in
Kontakt, wobei die größeren Siedlungen vermutlich als lokale
Machtzentren fungierten. Zeugnisse von Liangzhus Kultur etwa fanden sich
in Gegenden mehr als 100 Kilometer von der Stadt entfernt.
All
diese Funde liefern ein völlig anderes Bild, als es Forscher bisher von
Chinas Geschichte gezeichnet haben. Einigermaßen sicher ist: Erstmals
vor etwa 10 000 Jahren tauchten kleine Gemeinschaften von Reisbauern
auf. Doch bis vor Kurzem ging man davon aus, dass die erste frühstaatliche Gesellschaft in China,
die auf einer hierarchisierten Gesellschaft beruhte, erst vor
3600 Jahren mit dem Aufstieg der Shang-Dynastie in der
Zentralchinesischen Ebene entstand. Das weit im Südosten gelegene
Liangzhu weist aber bereits viele Merkmale einer staatlich organisierten
Gesellschaft auf, die sich dann etwa 1700 Jahre früher formiert hätte
als bislang angenommen. Nach Ansicht von Colin Renfrew und Liu Bin ist
genau das der Fall gewesen.
Venedig des Fernen Ostens | Liangzhu liegt
ungefähr 160 Kilometer westlich von Schanghai. Die Metropole war zirka
300 Hektar groß. Im Umfeld der Stadt, die über acht Wasserpforten
befahren werden konnte, entdeckten Archäologen zwei Cluster von Dämmen –
niedrig und hoch gebaute Deiche.
Dass Liangzhu eine Hochkultur beherbergte, schließen sie aus drei Erkenntnissen:
Der
Bevölkerungsgröße: Lius Team schätzt, dass einst zwischen 22 900 und
34 500 Menschen die Stadt bewohnten. Das war um ein Vielfaches mehr, als
für jede andere frühe Gemeinschaft in China nachgewiesen ist.
Sehr
wahrscheinlich war die Gesellschaft von Liangzhu stark hierarchisch
gegliedert. Das folgern die Wissenschaftler aus dem großen Gefälle
zwischen den wenigen sehr reich ausgestatteten und den vielen ärmlich
bedachten Gräbern.
Schließlich gibt es einige monumentale
Bauten: die Stadtmauern, die Mojiaoshan-Plattform mit dem Palastkomplex
und das System aus Dämmen. Die Gemeinschaft, genauer gesagt, die Elite
war also in der Lage, derartige Baumaßnahmen zu organisieren, zu
verwalten und durchzuführen.
Dabei sei besonders beeindruckend, dass die Menschen von Liangzhu all das ohne Lasttiere wie Pferde, Esel oder Ochsen errichteten,
betont Jessica Rawson. »Alles war von menschlicher Arbeit abhängig«,
sagt sie. »Und entscheidend dabei war, diese Arbeitskräfte zu
organisieren.« Denn für die Baumaßnahmen mussten Bauern von der
Feldarbeit freigestellt werden können. Das Team um Liu hat berechnet,
dass allein für die Dämme von Liangzhu rund 2,9 Millionen Kubikmeter
Erde bewegt wurden. 3000 Arbeiter hätten dafür schätzungsweise acht
Jahre gebraucht. »Ohne Planung wäre so ein Wasserbauprojekt nicht
realisierbar gewesen«, ist Rawson überzeugt. Außerdem: »Eine kleine
Gruppe von Menschen wäre dazu nicht in der Lage gewesen – das war
Management im großen Stil.«
Hochkultur ohne Schrift?
Weltweit
kennen Archäologen kaum eine Hochkultur, die im 4. Jahrtausend v. Chr.
vergleichbare Wasserbauwerke wie in Liangzhu verwirklicht hat. Wer aber
die Wiege der Zivilisation sucht, blickt meist in den Vorderen Orient.
Dort hatten sich zur selben Zeit einige städtische Gesellschaften
herausgebildet, etwa Tell Brak in Syrien oder Uruk am Euphrat im
heutigen Irak. Auch diese Städte florierten dank eines fortschrittlichen
Wassermanagements. Doch in Größe und Komplexität haben die Menschen von
Liangzhu deutlich mehr Aufwand getrieben. Liu und Renfrew sind
überzeugt davon, dass die Staudämme von Liangzhu »womöglich weltweit die
frühesten gemeinschaftlich errichteten Bauwerke in dieser Größenordnung
sind«. Vernon Scarborough stimmt zu. Der Archäologe von der University
of Cincinnati besuchte die Stätte 2017 und war überrascht, wie stark die
Bewohner von Liangzhu in ihre Umwelt eingegriffen hatten. »Es gibt
keine andere derart wasserbaulich veränderte Landschaft, die ebenso
alt ist.«
Eine Sache allerdings fehlt bisher in Liangzhu: Die
Archäologen haben noch keine eindeutigen Belege für eine Schrift
gefunden. Und ohne Schrift, so die verbreitete Forschungsmeinung, könne
sich kein Staat herausbilden. Möglicherweise sind aber einige Bilder,
die Keramik- und Jadeobjekte zieren, nicht als reiner Dekor zu
verstehen. Zhang Chunfeng von der Pädagogischen Universität Ostchina in
Schanghai ist sich sicher, dass ein Teil der Symbole Schriftzeichen waren.
Bisher sind 656 Symbole bekannt, von denen einige immer gleich
arrangiert sind. Sie prangen etwa auf Gefäßen und dabei stets an
derselben Stelle, etwa auf dem Fuß oder an der Mündung. Zhang folgert
nun daraus, dass sie vielleicht wie ein Etikett Auskunft über den Inhalt
gaben. Die Sprachforscherin fand auch heraus, dass einige Zeichen nach
bestimmten Regeln verändert wurden, um ihnen womöglich eine neue
Bedeutung zu verleihen. Beispielsweise wurden Striche hinzugefügt oder
Motive anders miteinander kombiniert – aber eben nicht willkürlich,
sondern regelhaft. War in Liangzhu also ein Schriftsystem im Entstehen
gewesen? »Einige Symbole waren vermutlich nur dekorativ, manche besaßen
eine bestimmte Bedeutung, und für den Rest ist es schwierig, ihre genaue
Funktion zu bestimmen«, sagt die Forscherin. Sicher sein könne man nur,
meint Zhang, wenn eine Art Rosetta-Stein für die Symbole von Liangzhu
vorliegen würde.
Bi-Scheibe aus Jade | Typisch für die alten
Kulturen Chinas sind Bi-Scheiben. Dabei handelt es sich um dünne
Steindisken, die in der Mitte durchlocht sind. Dieses Stück stammt aus
Liangzhu.
Die Archäologen um Liu Bin haben genügend Daten
über die Frühzeitmetropole gesammelt, um den Entstehungsprozess einer
komplexen Stadtgesellschaft zu erhellen. Bekannt ist, dass der Übergang
von der Lebensweise als Jäger und Sammler zu einem bäuerlichen
Lebensstil in die Entstehung von Siedlungen mündete – die Gruppen
begannen, sich nahe ihren Feldern niederzulassen. Irgendwann bündelten
die Bauern ihre Ressourcen und setzten vermehrt auf Zusammenarbeit. Als
Folge vergrößerten sich die Gemeinschaften. Das erklärt jedoch noch
nicht, warum eine Gesellschaft dann den Sprung zur Metropole wagte. Was
war der Anlass, dass Menschen Technologien entwickelten, eine Verwaltung
errichteten und sich in der Folge eine hierarchische Gesellschaft
herausbildete? Ließ Wasser Zivilisationen blühen?
Laut Vernon Scarborough befeuerte ein Umstand die Entstehung der Stadtgesellschaft von Liangzhu: die Unwägbarkeiten der Natur.
So bestand gerade in der Regenzeit das Risiko, dass Nutzflächen
überschwemmt wurden. Im Sommer hingegen verdorrten die Reisfelder
womöglich unter lang andauernder Trockenheit. Und damit war die Ernte
gefährdet. Zu Anfang haben die Bauern wahrscheinlich nicht gleich ihre
Energien in wasserbauliche Anlagen investiert. Eher haben sie zunächst
versucht, die launische Natur mit Ritualen und Kulten günstig zu
stimmen. Zu solchen Anlässen waren dann auch die verstreut lebenden
Gruppen regelmäßig zusammengekommen. Durch die gemeinschaftlich
begangenen Kulte könnten sich soziale Normen etabliert und sich Einzelne
als Anführer hervorgetan haben, etwa weil sie das Wetter vorhersagen
konnten und so das Wohl der Gemeinschaft förderten.
Sobald eine
soziale Hierarchie existierte, gab es eine Elite, die genügend Arbeiter
für Bauprojekte mobilisieren konnte. Weil das Wassermanagement der
gesamten Gemeinschaft zugutekam, verfestigte sich wohl auch die
bestehende Gesellschaftsordnung. Der herrschenden Schicht fielen
folglich mehr Macht und Reichtum zu. Und beides ermöglichte es der Elite
wiederum, weitere kunstvolle Objekte fertigen und monumentale Bauten
errichten zu lassen.
»Wasser ist sicher nicht die einzige Ursache für die Entstehung komplexer Gesellschaften, aber es ist eine der wichtigsten«Vernon Scarborough, Archäologe, University of Cincinnati in Ohio
Dieselben
Umstände, die in Liangzhu zur Herausbildung einer frühstaatlichen
Gemeinschaft führten, herrschten nach Ansicht von Scarborough auch im
Vorderen Orient – nur dass sich die Menschen dort vor allem gegen
Dürreperioden wappnen mussten. »Es ging darum, Wasser, das ja nur
begrenzt zur Verfügung stand, aus dem Tigris oder Euphrat abzuleiten, um
so die wachsenden Städte zu versorgen.« Wie in Liangzhu hatten die
Einwohner erkannt, dass ihr Dasein sicherer wäre, wenn sie die
Umweltbedingungen beeinflussen könnten. Auch diese Entwicklung hat
vermutlich zum Gesellschaftswandel beigetragen. Die Gruppen kooperierten
enger, Einzelne taten sich dabei hervor, und allmählich bildeten sich
Eliten heraus. »Wasser ist sicher nicht die einzige Ursache für die
Entstehung komplexer Gesellschaften, aber es ist eine der wichtigsten«,
sagt Scarborough. Fluten brachten das Ende
Liangzhu
entstand, weil das Land von Überschwemmungen heimgesucht wurde. Doch
genau das führte wohl zu ihrem Untergang. Wang Zhanghua und ihr Team von
der Pädagogischen Universität Ostchina untersuchten Sedimentschichten
in der Region. Offenbar, so fanden die Forscher heraus, brachen immer wieder Flutwellen aus dem Ostchinesischen Meer über das Gebiet herein –
erstmals vor etwa 4500 Jahren. Dadurch lagerten sich Algen und kleinen
Meeresfossilien ab. Die Forscher um Wang dokumentierten die Schichten
direkt über den Hinterlassenschaften der Liangzhu-Kultur. Die Fluten
verwüsteten das Gebiet nicht nur, sie versalzten auch allmählich den
Boden – bis kaum noch Reis angebaut werden konnte. »Die wichtigste
wirtschaftliche und soziale Grundlage der Menschen von Liangzhu brach
weg«, fasst Wang zusammen.
Die Stadt wurde verlassen. Die Menschen
wanderten in andere Regionen ab – samt ihren Kenntnissen. Liu Bin und
seine Kollegen gehen davon aus, dass spätere Kulturgruppen Elemente aus Liangzhu wie die Jade-Congs aufgegriffen haben.
Doch schon die Liangzhu-Zivilisation selbst hatte die Landschaft um
ihre Kanalmetropole nachhaltig verändert – und das bis heute.
Nota. - 'Hydraulische Gesellschaft' ist der Begriff, den Karl August Wittfogel geprägt hat, um die Entstehung und Funktionsweise der unter Marxisten als asiatische Prokuktionsweise be-kannten Gesellschaftsformation zu erklären. Ihre Grundlage ist ein zentral betriebenes groß-flächiges Bewässerungssystem aus Kanälen, Rohren und Schleusen, das sich mit kleinräumiger Parzellenwirtschaft nicht verträgt und als politische Herrschaftsform die orientalische Despo-tie möglich und erforderlich macht.
Der Wiener Standard bringt heute ein Interview mit dem belgischen Philosophen und Ökonomen Philippe van Parijs.
...
Van Parijs: Es gibt eine perverse Korrelation:
Attraktivere Jobs werden viel besser bezahlt als unangenehme Jobs. Es
sollte umgekehrt sein. Jetzt ist es so, dass die Verhandlungsmacht der
Arbeitnehmer mit bestimmten Qualifikationen größer wird. Das
Grundeinkommen würde genau das Gegenteil bewirken, es würde die
Verhandlungsposition der Schwächeren stärken. Derjenigen, die sonst
keine Wahl haben, als einen unangenehmen Job anzunehmen. Was müsste
passieren? Die Gehälter für unattraktive Jobs müssten steigen oder diese
Jobs angenehmer werden. Das wäre sozial fair. Es gibt viele
systemrelevante Jobs, die sehr anstrengend sind. Zum Beispiel
Krankenpfleger. Jetzt könnte man einwenden, dass wir ohnehin schon zu
wenige Krankenpfleger haben und ein Grundeinkommen die Situation noch
schlimmer machen würde. Aber es gäbe genügend Geld, um das Einkommen von
Pflegern anzuheben. Man muss diejenigen besteuern, die derzeit viel
mehr verdienen. Die würden ihre Arbeit weiterhin machen, ihr Gehalt
würde ja weiterhin über dem Grundeinkommen liegen.
STANDARD: Womit wir bei der Frage der Finanzierung wären. Viele behaupten ja, ein Grundeinkommen sei nicht finanzierbar.
Van Parijs: In entwickelten Sozialstaaten müsste das
bedingungslose Grundeinkommen zusammen mit einer Reform der
Einkommenssteuer eingeführt werden. Es würde sich dann großteils selbst
finanzieren. Sozialtransfers, die unter dem Grundeinkommen liegen,
würden gestrichen. Und Leistungen, die drüber liegen, wie etwa
Pensionen, um den Betrag des Grundeinkommens gekürzt. Weil dadurch
manche bessergestellt werden, entstehen zusätzliche Kosten für den
Staat. Die kann er durch eine Reform der Einkommenssteuer finanzieren.
Zum Beispiel würde die Steuerfreiheit für niedrige Gehälter fallen, man
würde jeden verdienten Euro gleich mit 30 Prozent oder mehr besteuern.
Die Spitzensteuersätze auf hohe Einkommen würden steigen. Ein Vorteil
wäre, dass Menschen nicht mehr in Sozialleistungen gefangen werden. Wer
etwa Arbeitslosengeld bekommt, wird nur arbeiten gehen, wenn das Gehalt
hoch genug ist. Bei einem bedingungslosen Grundeinkommen wäre das nicht
der Fall, das Grundeinkommen wird nicht gestrichen. ...
Nota. - Er legt den Finger auf den springenden Punkt: Wenn Löhne und Gehälter nicht mehr daran gemessen würden, was die Ausbildung der jeweiligen Arbeitskraft einma gekostet hat, sondern daran, wieviel menschliche Mühsal die Arbeit heute kostet, wäre das Grundgesetz der bürgerlichen Gesellschaft außer Kraft gesetzt: das Wertgesetz. Nicht mehr der Tauschwert regierte den gesellschaftlichen Verkehr, sondern der Gebrauchswert, alias der Nutzen für einen jeden. Das müsste politisch reguliert werden statt ökonomisch.
Sollte Friedrich Merz erneut kandidieren, wäre ihm der
CDU-Vorsitz kaum zu nehmen. Doch viel spricht dafür, dass er keinen
nachhaltigen Eindruck hinterlassen wird.
Noch hat sich keiner der potenziellen Nachfolger von Armin Laschet gemeldet. Aber alles deutet darauf hin, dass Friedrich Merz
einen dritten Anlauf auf den CDU-Vorsitz nehmen wird. Auch wenn
inzwischen viel von seinem Momentum verpufft ist: Seine Chancen stehen
deutlich besser als bei seinen vergangenen zwei Kandidaturen. Denn
damals wählte jeweils ein Parteitag. Diesmal sollen die Mitglieder bestimmen
– ein Parteitag Ende Januar wird das Ergebnis nur noch formell
bestätigen. Unter den CDU-Anhängern ist Merz nach wie vor äußerst
populär. Und einen ähnlich aussichtsreichen Gegenkandidaten gibt es
nicht. Norbert Röttgen dürfte für den liberalen Flügel antreten, aber
wohl eher nicht gewinnen.
Viel spricht also dafür, dass Merz bald die CDU
führen wird. Noch mehr deutet allerdings darauf hin, dass er die Partei
weit weniger prägen wird, als er das im Augenblick vermutlich selbst
glaubt.
Da ist, erstens, die Ausgangslage: Merz ist deutlich konservativer als alles,
was die CDU so zuletzt im Angebot hatte. Er polarisiert damit die
eigene Partei. Das wird selbst jemand wie Merz nach innen damit
kompensieren müssen, dass er seine fünf Stellvertreter, den
Generalsekretärsposten und den Vorstand der Bundestagsfraktion mit
Jungen, Liberalen und – im Idealfall – Frauen besetzt. Bei seinen
letzten Kandidaturen galt er als der Solitär – auch das wird als Grund
für seine Niederlagen betrachtet. Daraus scheint er gelernt zu haben und
nun seine Fähigkeiten als Integrator testen zu wollen.
Warum Merz wohl ein Interimschef bliebe
Das
Teambuilding läuft derzeit, jeder spricht mit jedem. Ergebnis: noch
offen. Ebenso wie die Frage: Hätte denn eine junge, liberale Frau
überhaupt Lust, unter einem Parteichef Merz das Adenauer-Haus als
Generalsekretärin zu leiten?
Aufs Team kommt es umso mehr an, da Merz weitere Aspiranten wird abfinden müssen – Gesundheitsminister Jens Spahn
etwa oder den Wirtschaftspolitiker Carsten Linnemann. Und weil ja
selbst Merz ahnen dürfte, dass er in der etwas breiteren Öffentlichkeit
kaum als der Kandidat wahrgenommen wird, der glaubhaft für Aufbruch und
Erneuerung steht, braucht er die Generation 40 plus dringend an seiner
Seite. Das heißt: Selbst wenn die Basis Merz mit einem starken Ergebnis
ausstatten sollte – durchregieren kann er nicht. Er ist auf die anderen
angewiesen.
Zweitens: Merz könnte als
CDU-Chef schnell Geschichte sein. Nächstes Jahr stehen vier
Landtagswahlen an. In drei Ländern könnte die CDU die Staatskanzlei
verlieren. Sollte Mitte Mai die Wahl im so wichtigen Flächenland NRW
schiefgehen, wäre das für jeden neuen Parteivorsitzenden ein schwerer
Schlag. Gut möglich also, dass Merz’ Vertrauensvorschuss als neuer
Parteichef binnen weniger Wochen verbraucht ist. Und intern seine
Autorität schwindet und die Führungsfrage gestellt wird. Ein ähnlicher
Horror-Start mit gleich mehreren Wahlniederlagen war letztlich der
Anfang vom Ende von Annegret Kramp-Karrenbauer als Parteichefin.
Parteichefs werden auf zwei
Jahre gewählt. Nicht ausgeschlossen, dass Merz danach derart verspielt
hat, dass er gar nicht mehr antreten kann.
Das wird drittens umso
wahrscheinlicher, je näher die nächste Bundestagswahl rückt. Und damit
die Frage: Wer wird Kanzlerkandidat? Dafür müssten CDU und CSU
nach den Erfahrungen des Frühjahrs schleunigst ein geordnetes Verfahren
finden, auch wenn für so grundlegende Fragen derzeit keiner einen Kopf
zu haben scheint. In jedem Fall werden CDU und CSU versuchen, einen
gemeinsamen Kandidaten aufzustellen. Und die CSU wird, solange Markus
Söder da noch was zu melden hat, alles daran setzen, dass das nicht Merz
wird. Das Verhältnis der beiden gilt als irreparabel. Und ein CDU-Chef,
der nicht Kanzlerkandidat wird, wird schnell zur Lame Duck. Und vermutlich nicht mehr allzu lange Parteichef bleiben. Zu kurz jedenfalls, um eine Ära zu prägen.
Nota. -Hoffentlich nicht einmal vorübergehen: Wo sie einem Kopffür morgen bräuchten, einen, sagen wir mal, Hintermann von gestern zu wählen - das wäre nicht nur verlorene Zeit. Das wäre ein Zurück auf Anfang.
Ich werd mir nicht das Maul verbrennen und für Norbert Röttgen Reklame machen. Wäre er nicht mehr als der Vertreter des liberalen Flügels der CDU, wäre er auch nur Platzhalter für einen, den sie wirklich brauchen. Nämlich einen, der das wirkliche Vermächtnis von Angela Merkel übernimmt. Die hat im Jahr 2015 zweimal - erst in der Krise um Griechenland, dann in der historischen Flüchtlingskrise - gezeigt, was Deutschlands Bestimmung ist: Europa zusam-menführen, um seinen Platz in der Welt zu behaupten.
Gezeigt hat sie es; aber wahrgenommen wurde es drinnen so wenig wie draußen. Heute klingt es fast bockig, wenn sie sagt, 'das' hätten wir geschafft. Schlecht und recht haben wirs ge-schafft, ohne dass wirklich ein Schaden entstanden wäre. Aber das ist leider auch alles. Worum es eigentlich ging: Eine historische Herausforderung, die, wie wir an der polnischen Ostgrenze sehen, noch lange Weltpolitik machen wird, als europäische Aufgabe wahrzunehmen - das ist in den Niederungen des bundesdeutschen Klein-Kleins untergangen. Aber sie wird uns er-haltenbleiben und gar noch anwachsen. An ihr wird sich Europa bewähren - oder auseinan-derfallen.
Das ist keine Frage von eher liberaler oder eher konservativer Herzensneigung. Es ist eine weltpolitische und eine historische Frage. Wer in Deutschland das Ruder ergreifen will, muss an diesem Punkt seine Qualifkation glaubhaft machen. Einen andern dürfen wir uns auch "vorübergehnd" gar nicht erst überhelfen lassen.
Diese wollen eine Eintagsfliege zum Kanzler machen. Setzen jene einen Dauerbrummer dagegen?
Nota. Das
obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
Auch die größten Theoretiker haben einmal als Praktiker begonnen. Zumindest gilt das für Niklas Luhmann (1927–1998),
der – lange bevor er zum Übersoziologen wurde – in nieder-sächsischen
Behörden gearbeitet hat. Nach acht Jahren als Ministerialbeamter begann
Luh-mann 1962 seine akademische Karriere als Verwaltungswissenschaftler
in Speyer. In dieser Zeit entstand eine unvollendet gebliebene
Abhandlung, die nun umsichtig ediert worden ist. Es ist eine denkbar
grundlegende Verwaltungstheorie, die wirtschaftswissenschaftliche,
juri-stische, psychologische und soziologische Fragestellungen
miteinander vereint.
Das
geht nicht ohne Abstraktionen ab, die durch konkretes Insiderwissen zum
Beamtenalltag unterfüttert werden. Luhmann entwickelt auf dem
empirischen Feld des Behörden- und Mana-gementwesens jenes begriffliche
Instrumentarium, mit dem er später so unterschiedliche Din-ge wie Liebe,
Kunst, Pädagogik und Massenmedien analysiert hat. Die Geburt der
System-theorie aus dem Geist der Bürokratie. Der Meister selbst zeigt
sich von der Tragweite seiner Methode schon damals überzeugt und
verkündet selbstbewusst im Vorwort: „Es gibt nichts Praktischeres als
eine gute Theorie.“ Marianna Lieder
Niklas Luhmann: Die Grenzen der Verwaltung. Suhrkamp, 254 Seiten, 28 Euro
„Ich denke, dass der wirkliche Grund manchen Verhaltens der Wunsch ist,
die Umwelt zu schockieren.“ Seit 1968 gebe es optisch, musikalisch,
sexuell nichts mehr, „was wirklich gegen den Strom schwimmen kann –
ausgenommen rassistisches Verhalten, das für das politische
Establishment und das Allgemeinbefinden der Menschen ziemlich unangenehm
ist“.
Die CDU muss nach Auffassung des früheren
Bundestagspräsidenten Norbert Lammert ihren Markenkern grundlegend
modernisieren. „Die CDU hat fast alle historischen
Alleinstellungs-merkmale verloren“, sagte Lammert dem Tagesspiegel am
Sonntag.
Klassische Positionen von der
Westbindung bis zur sozialen Marktwirtschaft seien längst auch von
anderen Parteien übernommen worden. Notwendig sei deshalb jetzt ein
„prägnante Neu-formulierung“ dieser Markenkerne „unter Berücksichtigung
der tatsächlichen Herausforde-rungen des 21. Jahrhunderts“.
Lammert,
der heute die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung leitet, warnte dabei
vor einer Verengung des Blickwinkels auf die Kernklientel. „Wahlen
werden heute von den Wechsel-wählern entschieden“, sagte er.
Der früher typische CDU-Wähler könne sich heute genauso vorstellen, seine Stimme für FDP, Grüne oder SPD
abzugeben. „Für drei Viertel der Wählerinnen und Wähler wird mit jedem
Wahltag das Spiel neu eröffnet“, sagte Lammert. „Keine Partei, auch
keine der ehemals größe-ren Volksparteien, kann heute mehr Wahlen durch
die Mobilisierung der Stammwähler gewin-nen.“
Die Union habe bei Bundestagswahl alleine 2,5 Millionen Stimmen an SPD und Grüne verlo-ren. „Schlicht desaströs“ sei ihr Abschneiden bei Erstwählern.
Zugleich
präjudiziere die Entscheidung über die Person die Neuaufstellung, bevor
über diese Probleme überhaupt gesprochen worden sei. „Beides hätte ich
eigentlich lieber umgekehrt gesehen“, sagte er.
„Unter
praktischen wie empirischen Gesichtspunkten spricht manches dafür, dass
die Dele-gierten eines Parteitags ... näher an der Wählerschaft sind als
die Mitglieder“, sagte Lammert. Denn Delegierte müssten sich selber
Wahlen stellen, während „die Mehrheit der Mitglieder politisch eher
inaktiv“ sei.
Zwischen den Erwartungen von Mitgliedern und Wählern bestünden aber „zum Teil beacht-liche Unterschiede“.
Kanzlerin
Angela Merkel habe sich etwa in der Familienpolitik oder beim Umgang
mit Migra-tion deutlich von den eigenen Mitgliedern entfernt. Eine Studie
der Stiftung habe jedoch ge-zeigt, dass sie damit zugleich große
Zustimmung unter Wählern gefunden habe. „Leicht zu-gespitzt gesagt: Hätte
sich die Vorsitzende als Kanzlerin so verhalten, wie es die Mehrheit
der Unionsmitglieder von ihr erwartete, wäre sie mit hoher
Wahrscheinlichkeit längst nicht mehr im Amt gewesen“, sagte Lammert.
Nota. - Wie eine Unterstützung der Kandidatur von Helge Braun klingt das nicht; vom Unto-ten ganz zu schweigen. Dasselbe wie gehabt, bloß in gefälligerer Verpackung, oder gar zurück zur guten alten Zeit? Nicht im Erscheinungsbild, sondern in ihrer Substanz müsste die CDU erneurt werden. Westbindung und soziale Marktwirtschaft sind gebongt. Als Markenkern übrig bliebe Kanzler*wahlverein mit Bisselwas für jeden. Das war der Kandidat Laschet: Mit 'Volks-partei' ist kein Staat mehr zu machen. Was heute gefragt ist: Profil statt großer Magen.
aus derStandard.at, 12. 11. 2021 Gemälde aus der Ming-Dynastie.
Zahlreiche chinesische Dynastien gingen nach Vulkanausbrüchen unter
Untersuchung weist auf Zusammenhang zwischen vulkanischen Eruptionen und der Stabilität von Herrscher-Dynastien hin
Vulkanausbrüche dürften in den letzten zweitausend Jahren
entscheidend zum Zusammenbruch zahlreicher Herrscher-Dynastien des
chinesischen Kaiserreichs beigetragen haben. Das geht aus einer Analyse eines internationalen Forschungsteams mit Beteiligung der Universität Bern hervor.
Große Vulkanausbrüche zählen zu den wichtigsten natürlichen Ursachen
für abrupte und kurzfristige Klimaveränderungen. In Asien beispielsweise
können sie kältere Sommer im Norden, einen schwächeren Monsun und somit
weniger Regen im Süden hervorrufen. Die Kälte und Trockenheit schlagen
sich negativ auf die Ernteerträge nieder.
156 Vulkanausbrüche
Die
Forschenden um Chaochao Gao von der Zhejiang University (China) und
Francis Ludlow vom Trinity College im irischen Dublin rekonstruierten
nun anhand von Eisbohrkernen 156 Vulkanausbrüche, die sich zwischen dem
Jahr 1 und 1915 ereignet hatten. Diese Informationen verknüpften sie mit
historischen Dokumenten aus 68 chinesischen Dynastien.
Die im Fachmagazin "Communications Earth & Environment" veröffentlichte Analyse
legt nahe, dass der großen Mehrheit der Dynastie-Kollapse (62 von 68)
eine oder mehrere Vulkaneruptionen vorausgingen. "Wir konnten zum ersten
Mal zeigen, dass es in China nach Vulkanausbrüchen deutlich
wahrscheinlicher war, dass Dynastien zusammenbrachen. Diese Ursache hat
System", sagte Mitautor Michael Sigl von der Universität Bern.
Zusammenspiel vieler Faktoren
Die Forschenden weisen
allerdings darauf hin, dass der Zusammenbruch einer Dynastie komplex und
ein Zusammenspiel vieler Faktoren ist. Das wird beispielsweise durch
die Tatsache unterstrichen, dass den Ausbrüchen des Tambora im Jahr
1815, des Huaynaputina (1600) oder des Samalas (1257) kein unmittelbarer
Sturz folgte. Neben Missernten gehören etwa auch schlechte Führung und
Korruption in der Verwaltung zu den Faktoren, die eine Dynastie
destabilisieren.
In ihrer Studie zeigten die Forschenden, dass kleinere, von Vulkanen
ausgelöste Klimaschocks zum Zusammenbruch von Dynastien führen können,
falls es bereits politische und sozioökonomische Spannungen gibt.
Größere Schocks hingegen können auch bei zuvor geringem Druck zum Sturz
führen.
Vulkanausbrüche auch in Zukunft folgenreich
Die Forschenden
vermuten, dass die lediglich mäßigen Vulkanausbrüche der 1970er- bis
1990er-Jahre in Kombination mit von Menschen verursachten
Schwefelemissionen zu Dürren in der Sahelzone beigetragen haben dürften.
Die Katastrophen forderten der Universität Bern zufolge 250.000
Todesopfer und trieben zehn Millionen Menschen in die Flucht. In
Verbindung mit der globalen Klimaerwärmung könnten größere
Vulkanausbrüche wohl tiefgreifende Auswirkungen auf die Landwirtschaft
"in einigen der bevölkerungsreichsten und gleichzeitig am stärksten
marginalisierten Regionen der Erde haben", so die Autoren. (APA)
Sie sehen ihre
Berufung noch immer darin, große Gesellschaftstheorien zu entwerfen: In
ihrem gemeinsamen Buch klopfen sie Konsens und Dissens ihres Denkens ab
von Ronald Pohl, Stefan Weiss
Die Ansätze der beiden Sozialphilosophen könnten unterschiedlicher
kaum sein. Andreas Reckwitz gebraucht die Gesellschaftstheorie als
"Werkzeug", mit dessen Hilfe die Struktur-merkmale einer spürbar
stagnierenden Kulturformation bearbeitet werden können. Hartmut Rosa
antwortet darauf, indem er die unausgesetzten Steigerungszwänge
innerhalb der Gesell-schaft herausarbeitet und scharf geißelt. Tenor:
Theorie muss Stellung nehmen.
Heraus kommt ein anregender Doppelband, mit einem von Martin Bauer moderierten Gespräch zum Abgleich: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? ist
ein Werk, das der deutschsprachigen Sozialwissenschaft eine zentrale
(Doppel-)Position in der internationalen Debatte zuweist.
Zu Terminen erscheint der freundliche Anwalt des "neuen
Mittelstandes" stets korrekt gekleidet: Auf den ersten Blick könnte man
den Kultursoziologen Andreas Reckwitz (51) für den bürgerlichen Cousin
Herbert Grönemeyers halten. Reckwitz lehrt heute an der Berliner
Humboldt-Universität. Mit seiner "Gesellschaft der Singularitäten" ist
der gebürtige Wittener zur bundesrepublikanischen Eule der Minerva
geworden.
Reckwitz gilt als Meister begrifflicher Schärfe, mit Hang zu
elastischer Nutzanwendung. Die Epoche der Moderne erklärte er zum
Schauplatz permanenter Krisen. Sein Theorie-Set? Das Begriffsbesteck?
Glänzt wie Chrom. Bereits als Student trachtete er danach, das
bundesdeut-sche Schisma zwischen Systemtheorie (Niklas Luhmann) und
kommunikativem Handeln (Jürgen Habermas) aufzuheben: im berühmten
mehrfachen Wortsinn.
Prompt greifen Reckwitz’ Fragen wirkungsvoll ineinander. Wie sehen
die Fabrikationsweisen des Sozialen aus? In welchem Wechselverhältnis
stehen Lebensformen und Institutionen zu-einander? Reckwitz, der in
Cambridge bei Anthony Giddens studiert hat, fasst die dialektische
Bewegung des Fortschritts neu. Letzteren befreit er von lästigen
Vorannahmen; darunter derje-nigen, dass er in allseits ungetrübte
Harmonie münden müsse.
Als weitaus zählebiger erweist sich dagegen die Krisenhaftigkeit von
Gesellschaftsprozessen. Die Epoche der Moderne sorgt daher seit rund 250
Jahren für Umwälzungen in Permanenz. Der Modus dieser Veränderungen ist
die "Dauerrevision": Sobald die soziale Welt stagniert, erzwingt der
Istzustand das Bedürfnis nach Veränderung.
Neue Bedürfnisse
Die Gesellschaft wird mit einem Mal offen
für Kontingenz: Praktiken, Institutionen, Lebens-formen können eben auch
"anders" sein, als Schulweisheit, Aberglaube, Borniertheit etc. es sich
träumen lassen. "Moderne" Gesellschaftlichkeit entpuppt sich somit als
Wechselspiel von Kontingenzöffnung und -schließung. Die Logik der
Rationalisierung wechselt sich ab mit derjenigen der Kulturalisierung.
Sobald "Praktiken" der Verallgemeinerung auf Dauer gestellt sind, regt
sich das Bedürfnis nach Subjektivierung. Stets wirken Mentalitäten auf
Einrichtun-gen. Diese strahlen zurück auf uns Konsumenten und Nutz
nießer. Auf die bürgerliche folgt die industrielle Moderne, auf diese
die "Spätmoderne".
Stille Helden des Reckwitz’schen Theorieansatzes sind die Vertreter
des "neuen Mittelstandes". Sie darf man als Gewinner des
postindustriellen Kapitalismus beglückwünschen. Ihre Expo-nenten leisten
kognitive und nicht Akkordarbeit. Die globale Mittelklasse kann es sich
leisten, sich von schönen Dingen des Lebens "affizieren" zu lassen.
Steigerung des Werts
Die Steigerung des Selbstwertgefühls ist
stets an Voraussetzungen gekoppelt. Man hat im Wettbewerb der mehr oder
minder zahlungskräftigen Subjekte die Oberhand behalten. Andreas
Reckwitz ist – ganz im Gegensatz zu Hartmut Rosa – ein Verflüssiger von
Wider-sprüchen. Konkurrenzeffekte dämpft er durch Auflegen begrifflicher
Wundpflaster. Diese sollen Unvoreingenommenheit gewährleisten.
Reckwitz hat die Gesellschaft der Singularitäten (2017) erforscht und zuletzt das Ende der Illusionen (2019)
wortreich beschworen. Er hat Pierre Bourdieus Habitus-Fragen neu
einge-kleidet: Indem er gezeigt hat, dass jeder beliebige Gegenstand
annektiert werden kann, um "Werte" zu schöpfen ("Valorisierungen"), die
den singulär Reichen und Schönen zur Ästhe-tisierung ihrer
Alltagsexistenz verhelfen.
Doch allmählich wendet sich das Blatt und Reckwitz (ein gefragter
Berater von sozialphilo-sophisch alerten Politikern) sich verstärkt den
Verlierern zu. Er nennt sie die "Modernisie-rungsverlierer der
ökonomischen Asymmetrie". Reckwitz bedenkt mit nachdenklichem Un-terton
die Verlusterfahrungen, die alle diejenigen durchmachen, die sich den
Anforderungen des "Dynamisierungsliberalismus" nicht gewachsen zeigen.
Ihren Regulierungsbedürfnissen wird sich die Spätmoderne zuwenden
müssen, um ihrerseits zur Post-Spätmoderne zu werden. Eine Formation,
die sich stärker gegenüber Zauberwörtern wie Flexibilisierung abgrenzt.
Zusammen mit dem deutlich kritischeren Rosa bildet Reckwitz in der
Zwischenzeit ein Dioskurenpaar. Insofern enthält Reckwitz’ Lob der
Singularisierung (die Logik der eigenen Herausstellung) auch nur die
Hälfte der Wahrheit. (poh)
*
Vielleicht ist das Einnehmendste an Hartmut Rosa ja sein melodiöser
Akzent. Der schwäbische Einschlag verweist auf den Geburtsort Lörrach in
der südwestdeutschen Schwarzwaldregion. Aus derselben Ecke stammt nicht
nur der emeritierte deutsche Fußballphilosoph Joachim "Jogi" Löw,
sondern auch – und das ist dann doch relevanter für die Biografie Rosas –
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, unerreichter Spitzendenker der
Philosophieepoche des Deutschen Idealismus.
Wie Hegel einst um 1800 lehrt Hartmut Rosa heute in der
geschichtsträchtigen Universitätsstadt Jena. Und während den Altvorderen
sein für die damalige Zuhörerschaft völlig unverständliches Schwäbisch
beinahe die Karriere gekostet hätte, spitzt bei Hartmut Rosa heute jeder
die Ohren. Ja, seine Vorträge bleiben hängen, sie wissen zu betören.
Dass der 56-Jährige als ziemliche, Pardon, Quasseltante ausgerechnet den
Begriff der Beschleunigung in der Soziologie groß gemacht hat, besitzt
Ironie: Er ist seinem Kritikgegenstand tempomäßig gewachsen, könnte man
ätzen.
Ja zum Gegenentwurf
Rosas wissenschaftliche Karriere führte
von Freiburg über Berlin bis an die London School of Economics und an
die Harvard University. Neben der Professur in Jena (seit 2005) ist er
außerdem Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt.
Weber, ein Gründervater der deutschen Soziologie, zählt folglich zu
Rosas Leitgestirnen, ebenso Hegel und die darauf aufbauende Frankfurter
Schule. Mit ihr geht Rosa davon aus, dass es eine Sache gibt, die die
Geschichte, speziell die der Moderne, vorantreibt. Und dass es Aufgabe
zumindest eines Teils der Soziologie sein sollte, Kritikwürdiges zu
lokalisieren und dazu auch Gegenentwürfe zu formulieren.
Von Hegel und Marx abweichend glaubt Rosa dabei aber nicht an ein
bestimmtes Ziel, auf das die gesamte Entwicklung der Gesellschaft
zusteuert. Dementsprechend versteht er seine ganze Theorie nicht als
einzig wahre Heilsgeschichte, sondern als eine Analyse unter vielen –
ein Akt der bewussten Selbstbeschränkung, den Rosa mit Andreas Reckwitz,
dem zweiten "wichtigsten Soziologen Deutschlands", teilt.
Diverse Schmiermittel
Die Unterschiede der seit langem
kollegial Verbundenen verdeutlicht am besten eine Metapher: Wenn
Reckwitz derjenige ist, der die Maschine und ihre Produktionsspitzen im
Zeitverlauf beschreibt, interessiert sich Rosa mehr dafür, was die
Maschine antreibt und welches Schmiermittel zum Einsatz kommt.
Reckwitz begreift die Geschichte der (Spät-)Moderne als ein
beständiges sich Öffnen und Schließen, Deregulieren und Regulieren,
Herstellen von Freiheit versus Sicherheit. Rosa hingegen sieht vor allem
eine seit dem Industriezeitalter sich immer weiter radikalisierende
Kultur der Beschleunigung am Werk, die er 2005 erstmals beschrieb.
Seither hat er diese umfassende Theorie immer weiter verfeinert. Etwa
um den Begriff der (Un-)Verfügbarkeit, der meint, dass nicht nur der
Drang nach Beschleunigung auf allen Ebenen das westliche Lebensmodell
bestimmt, sondern auch jener nach permanenter Reichweitensteigerung und
Verfügbarmachung von Welt.
Auf der Makroebene macht ihn das zu einem Kritiker des unbedingten
Wirtschaftswachstums, auf der Mikroebene beschreibt Rosa die
Psychokrise, die der Beschleunigungsimperativ auslöst: Burnout,
Depression, Ermattung. Gerne führt Rosa auch vermeintlich banale
Beispiele an, wie das Paradox, wonach die unbegrenzte Verfügbarkeit
jedweden Musikstücks auf Streamingplattformen rasch dazu führt, dass man
gar keine Musik mehr hört.
Wider die Angst
Resonanz lautet letztlich das Zaubermittel
bei Rosa, dem er heilende Wirkung zuspricht. Gemeint sind als gut
empfundene Begegnungen, Gespräche, Erlebnisse etc., die einen wahrhaft
berühren, die "zu und mit einem sprechen" und wo ein fruchtbarer
Austausch entsteht. Politisch plädiert Rosa für eine Form des
bedingungslosen Grundeinkommens, weil es die Arbeitenden von einer
maßgeblichen Triebfeder der Beschleunigung erlöse: der permanenten Angst
vor Jobverlust.
Stilistisch wie inhaltlich steckt in Rosas Texten vieles, was den Sozialphilosophen Erich Fromm (Die Kunst des Liebens, Haben oder Sein) auszeichnete:
ein Händchen dafür, das Publikum nicht nur im Verstand, sondern auch
ins Herz zu treffen. Im Gegensatz zu Reckwitz scheut Rosa denn auch das
Pathos nicht, wenn er schreibt: "Jede Liebe endet, wenn wir versuchen,
das Geliebte vollständig in unsere Gewalt und unter Kontrolle zu
bringen."(stew, 30.10.2021)
Nota. -Ich verstehe nichteinmal, worüber diese beiden Leute reden. Malen sie Bilder oder versuchen sie Analysen? Antworten sie auf Fragen oder erzählen sie Geschichten?Was muss man wissen wollen, um in diesem Buch Antworten zu finden? Ich würde wissen wollen: Was wird permanent umgewälzt, was, das heute oben ist, wird morgen unten sein? Was ist da in der Krise? Wenn alles in der Krise ist, ist die Krise keine Krise, sondern ein Dauerzustand. Krise heißt Entscheidung, das gibt es ein vorher und ein nachher. Ein Dauerzustand entscheidet ja gerade nichts...
Eh ich mir so ein Buch anschaffe, müsste ich wohl mindestens noch eine andere Rezension lesen.
JE
Nota. Das
obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.JE