Donnerstag, 25. Juli 2019

Der Fluch des Ackerbaus.

Kulturlandschaft – aber auch Kultur? Oder steht Landwirtschaft für den Beginn der Sklavenhalterei?
aus welt.de, 18. 7. 2019

Ackerbau ist barbarisch
Ohne Landwirtschaft, sagt James C. Scott, wäre die Sklaverei nie entstanden. Sesshafte Zivilisationen seien eindeutig unkultivierter als archaische. Müssen wir jetzt wieder Jäger und Sammler werden?



Der Amerikaner James C. Scott ist ein Anarchist. Früher einmal hat er in Connecticut Schafe gehalten; heute begnügt er sich damit, an der Yale University Politikwissenschaft zu lehren. Sein wichtigstes Werk trägt den scheinbar harmlosen Titel „Seeing Like a State“. Dieses Buch handelt von lauter Versuchen, die Gesellschaft nach rationalen Maßstäben zu gestalten. Solche Rationalisierungsmaßnahmen können laut Scott nur durchgeführt werden, wenn die Gesellschaft erst einmal radikal simplifiziert wurde: Jedes Radieschen muss nummeriert (und möglichst quadratisch) an seinem Platz stehen, bevor es losgehen kann.

Die Schurken in diesem früheren Buch von Scott waren etwa Baron Haussmann, der für seine Prachtboulevards breite Schneisen durch Paris schlug und so eine brutale Ordnung in das Wirrwarr der mittelalterlichen Gassen und Gässchen brachte; oder der Architekt Le Corbusier, der am Reißbrett eine Drei-Millionen-Metropole im Urwald entwarf, Brasilia; oder Julius Nyerere, der fünf Millionen Bauern in Tansania umsiedeln ließ. Es war jedes Mal so gut gemeint, und es endete jedes Mal in Chaos und Elend. Die Helden von James C. Scotts sind die einfachen Leute, die sich den staatlichen Zwangsmaßnahmen mithilfe einer antiken Tugend widersetzten, die auf altgriechisch metis heißt – gemeint ist so etwas wie List, Bauernschläue, Lebensklugheit. Metis bewies Odysseus, als er sich von seinen Gefährten an den Mast fesseln ließ und ihre Ohren mit Wachs verstopfte, damit sie nicht Opfer der Sirenen würden. James C. Scott rät uns, den Sirenengesängen der radikalen Modernisierer besser nicht zu lauschen.

„Die Mühlen der Zivilisation“

Jetzt hat der Anarchist sich für sein neues Buch die Frühgeschichte der Menschheit angesehen, und siehe da: Es war alles ganz anders, als wir es uns bisher vorgestellt hatten. Die Standarderzählung geht so. Am Anfang waren wir alle Jäger und Sammler, und unser Leben war „scheußlich, viehisch und kurz“. Dann wurden in der Wiege der Zivilisation, also in Mesopotamien, die Landwirtschaft erfunden. Mit Kanälen wurden Felder bewässert, Getreide wurde geerntet, Äcker wurden bestellt. Zugleich wurden die ersten Städte gegründet. So entstand der Staat: Beamte, Steuern, Hierarchien und der ganze Rest. Jene, die Jäger und Sammler blieben, mussten leider draußen bleiben und hießen Barbaren; hin und wieder fielen sie über die Leute in den Stadtstaaten her, denen sie das gute Leben neideten. Der Rest der Erzählung ist eine Fortschrittsgeschichte. Nach der Sklavenhaltergesell- schaft der Antike kam der Feudalismus, auf den Feudalismus folgte der Kapitalismus, und für Marxisten gibt es dann noch – nach einer kurzen sozialistischen Übergangsperiode – das kommunistische Paradies.

Barbarische Baumwollpflückerei? Mit der Landwirtschaft begann nicht nur die Zivilisation, sondern auch die Leibeigenschaft, argumentiert James C. Scott  
Barbarische Baumwollpflückerei? Mit der Landwirtschaft begann nicht nur die Zivilisation, sondern auch die Leibeigenschaft, argumentiert James C. Scott

James C. Scott hat sich die archäologischen Befunde der letzten zwanzig Jahre angesehen und stellt die Geschichte auf den Kopf. Voilà: Mesopotamien (der heutige Irak) war 6500 v. Chr. keineswegs so trocken, dass er mit Kanälen bewässert werden musste. Das Zweistromland war ein wunderbarer Sumpf, in dem es von essbaren Tieren und Pflanzen nur so wimmelte. Das Wasser des Persischen Golfs schwappte bis vor die Tore des alten Ur. Hier ließen sich die ersten Jäger und Sammler auf Hügeln nieder – aber sie betrieben keineswegs Landwirtschaft. Sie domestizierten auch keine Tiere. Sie pflückten, was ihnen in die Finger fiel, und jagten Fische, Vögel und Schildkröten, von denen es nur so wimmelte. Und keine staatliche Autorität weit und breit! Vielleicht ist diese frühe Epoche die Grundlage für die biblische Geschichte vom Garten Eden.


Dann passierte irgendetwas, das auch James C. Scott nicht erklären kann. Die Folge dieses Irgendetwas war die neolithische Revolution: Die Menschen hörten auf, Jäger und Sammler zu sein, und fingen an, sich in Städten anzusiedeln. Eine Vertreibung aus dem Paradies! Scott nennt die frühen Städte denn auch gar nicht so; er spricht von „spätsteinzeitlichen Umsiedlungslagern für verschiedene Spezies“.

Die Folgen der neolithischen Revolution waren katastrophal. Man kann diese Katastrophe in Zahlen ausdrücken: Im Jahr 10.000 vor Christus lebten auf der Welt circa vier Millionen Menschen. Im Jahr 5000 vor Christus war die Weltbevölkerung gerade mal auf fünf Millionen angestiegen. Was erklärt dieses Beinahe-Gar-nicht-Wachstum? Die Antwort: Seuchen. Je mehr Menschen auf einem Fleck zusammenlebten, desto rasanter konnten sich Pest, Cholera und Typhus ausbreiten. Da die Menschen in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihren Haustieren lebten, teilten sie mit ihnen Würmer, Larven, Viren und Bazillen.


Zu diesen Seuchen kam als weitere Plage: der Staat. Diese Plage gründete sich auf den Anbau von Getreide, und zwar nur von Getreide. Scott schreibt: „Die geschichtlichen Quellen berichten von keinen Maniokstaaten, keinen Sago-, Yamswurzel-, Taro-, Mehlbananen-, Brotfrucht- oder Süßkartoffelstaaten.“ Dies hat einen einsichtigen Grund: Getreide ist am einfachsten zu besteuern. Yamswurzeln wachsen in der Erde, sind also schwer zu inspizieren. Hülsenfrüchte haben keine feste Erntezeit. Getreide reift genau einmal im Jahr, und wogende Weizenfelder sind schwer zu verstecken.

In engstem Zusammenhang damit steht die Erfindung der Schrift. Die ersten Keilschrifttafeln bestehen aus „Listen, Listen, Listen“: Es wird aufgeführt, wie viel Gerste geerntet wurde, wie viele Kriegsgefangene gemacht wurden, wie viele weibliche und männliche Sklaven heimgeführt wurden. Die Sklaven wurden gebraucht, um das Getreide zu ernten; zu den ältesten Bildnissen der Menschheitsgeschichte gehören Darstellungen von Leuten in Halsketten, die in Kolonnen zur Arbeit geführt werden. Damit man mehr Sklaven fangen konnte, wurde von Zeit zu Zeit ein Krieg nötig. Und natürlich war die Organisation des Ganzen nicht ohne Spezialisten möglich: Priester, Diener, Verwalter.

Die Barbaren, die vor den Stadtmauern bleiben, erscheinen aus dieser Perspektive gar nicht als die zu einem unizivilisierten Leben Verdammten. Sie kommen uns eher wie anarchische Scharen von Freien und Gleichen vor, denen es gelungen war, sich nicht von den Verwaltern des Gulag einfangen zu lassen. Und jene „dunklen Zeitalter“, in denen Städte zusammenbrachen – sei es wegen Naturkatastrophen, sei es, weil sie ihre Umwelt ökologisch zu sehr ausbeuteten –, sind für James C. Scott Augenblicke der Befreiung: „Dunkel – für wen?“, fragt er.

Sklaven wurden gebraucht, um das Getreide zu ernten, argumentiert James C. Scott  
Sklaven wurden gebraucht, um das Getreide zu ernten, argumentiert James C. Scott  

Das goldene Zeitalter der Barbaren brach an, als sie anfingen, die zivilisierten Staaten nicht nur zu plündern, sondern auch mit ihnen Handel zu treiben. Die keltischen oppida am Rand der römischen Republik waren multiethnische Handelsposten, die Getreide, Öl, Wein, feines Tuch importierten und den Römern im Gegenzug Rohstoffe, Wollsachen, Leder, Pökelfleisch, ausgebildete Hunde und Käse schickten. Dieses goldene Zeitalter dauerte viele Jahrtausende. An ihrem Untergang waren die Barbaren dann selber schuld.

Entweder eroberten sie die Reiche, denen sie gegenüberstanden – den Chinesen etwa ist das zwei Mal in ihrer Geschichte passiert. In diesem Fall hörten sie sofort auf, Barbaren zu sein, und wurden zu einer neuen Elite. („Man kann ein Königreich zu Pferde erobern“, sagt ein chinesisches Sprichwort, „aber um zu herrschen, muss man absteigen.“) Oder sie ließen sich vom jeweiligen Machtzentrum als Söldner anwerben und waren damit nicht mehr frei. Oder aber die Barbaren verkauften ihresgleichen an die Zentren der Zivilisation – denn zu den Waren, mit denen sie handelten, gehörten selbstverständlich auch Sklaven – und bedachten nicht, dass irgendwann sie selber am Ende dieser brutalen Nahrungskette stehen würden.

Heute gibt es praktisch keine Barbaren mehr. Die riesigen multiethnischen Stadtstaaten, die rund um den Globus entstanden sind – Lagos, Mumbai, New York, Schanghai, Mexico City – sind keine Straflager. Sie wachsen, weil die Landbevölkerung mit den Füßen abstimmt und freiwillig in die urbanen Ballungszentren zieht. Eine neue „Verstreuung“ der Stadtmenschen über den Globus ist schon aus ökologischen Gründen nicht wünschenswert. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Stadtbewohner von den Tugenden der Barbaren – Faulheit, Renitenz, Staatsverdrossenheit – nicht allerhand zu lernen hätten.

James C. Scott: Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten. Suhrkamp, 400 S., 32 €.


Nota. - Als Persiflage des überlieferten bürgerlichen Fortschrittsdogmas ist das vorzüglich, denn in Wahrheit war es eine Apotheose der Arbeit - freilich der Arbeit von Andern, und damit sich jene das Joch nicht etwa vom Halse schüttelten, wurden die Staaten gebildet: Ansammlungen bewaffneter Menschen.

Soll das aber heißen, wir hätten es damals anders anfangen und hätten unsere Geschichte anders gestalten sollen - und sollten sie womöglich zurückdrehen und nochmal von vorn beginnen?

Dass man auf so eine Frage überhaupt kommen kann, setzt jedoch faktisch voraus, dass die Geschichte so verlaufen ist, wie sie verlaufen ist, denn erst intellektueller und technologischer Fortschritt habe uns in die Lage versetzt, uns eine absichtlich selbstgemachte und bezweckte Geschichte auch nur vorzustellen. Es wäre doch nötig gewesen, dass unsere Vorfahren sämtlich oder doch in großer Mehrheit übereingekommen wären, den Weg des Getreideanbaus nicht einzuschlagen und schon seine Anfänge an der Wurzel auszurotten - und stattdessen einen andern Weg zu planen. Nicht nur fehlten Institionen und Instanzen, die den erforderlichen Austausch von Gesichtspunkten und die Ausbildung alternativer Projekte möglich gemacht hätten; es fehlten zuerst einmal die Kenntnisse, die nötig gewesen wären, um sie als wünschenswert zu erachten. Historische Erfahrungen muss man, um  sie beherzigen zu können, erst einmal gemacht haben. 

Die Frage, ob die Geschichte so, wie sie verlaufen ist, notwendig war, verdunkelt mehr als sie erhellt. Sie müsste in diesem Falle ja einem intelligent design gefolgt sein - und wer sollte das entworfen haben? 


Wir müssen sie vielmehr anschauen wie die Naturgeschichte: als Auslese der unter gegebenen Umständen wahrscheinlichsten Lösungen. Nehmen wir an, neben den getreidebauenden Gemeinden im Fruchtbaren Halb- mond habe es Maniok-, Yamswurzel- und Kartoffel-bauende Gemeinschaften gegeben, die mit den umherstrei- fenden Jäger- und Sammler-Gruppen im fredlichem Austausch gelebt hätten. Hätten die sich neben den Getrei- debauern dauerhaft behaupten können, die ihre Mitglieder ja nur kümmerlich nähren konnten? Nach Scotts Überlegung nicht, denn sie haben eben keine... Staaten gebildet, und das sind Ansammlungen bewaffneter Menschen. Gegen die könnte man sich nur durch Mauern und eine Ansammlung bewaffneter Menschen schützen...
JE


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