Donnerstag, 28. Mai 2020

Langzeitspuren von Herrschaft.

aus derStandard.at, 26. Mai 2020

Von den langfristigen Effekten von Herrschaft
Die Ökonomin Melissa Dell hat die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen des Kolonialismus in Lateinamerika untersucht 

von Valentin Seidler 

Für die meisten Ökonomen weltweit gilt der Nobelpreis als die höchste denkbare aller Auszeichnungen. Für Kollegen in den USA ist das jedoch die "John Bates Clark Medal". Seit 1947 ehrt die American Economic Association damit die einflussreichsten Ökonomen unter 40. Die Liste der Empfänger der Auszeichnung liest sich wie das Who's who der Wirtschaftswissenschaften. Jeder Wirtschaftswissenschafter, der an einer US-Universität angestellt ist, kann nominiert werden. Entwicklungsökonomen finden sich immer wieder darunter: Esther Duflo, Nobelpreisträgerin 2019, erhielt die Medaille im Jahr 2010. Am 28. April diese Jahres ging die Auszeichnung wieder an eine junge Kollegin aus der Entwicklungsökonomie, Melissa Dell von der Harvard University in Boston.

Langfristige Auswirkungen

Melissa Dells bekannteste Studie, die auch die Grundlage für die Entscheidung der Jury war, führt uns in die ehemaligen Silberminen im Süden von Peru. Von 1573 bis 1812 zwangen dort spanische Kolonialherren die lokale Bevölkerung zum Abbau des Erzes. Das System der Zwangsarbeit ("mita") existierte nur in den Provinzen mit Silbervorkommen. Benachbarte Provinzen blieben verschont und setzten auf "Haciendas", große, von Spaniern geführte Farmen, die allerdings ebenfalls auf Zwangsarbeit beruhten.

Die Mita-Provinzen sind heute die ärmsten im Land: Im Vergleich zu allen anderen Provinzen verfügen die privaten Haushalte in den Mita-Provinzen um 25 Prozent weniger Kaufkraft. Verkümmertes Größenwachstum bei Kindern ist um sechs Prozent häufiger als im Rest des Landes. Dells Studie macht dafür den Mangel an Haciendas verantwortlich. Der Mangel an Arbeitskraft ließ offenbar keine doppelte Ausbeutung zu: entweder Silberminen oder Landwirtschaft. In den Mita-Provinzen entschieden sich die Spanier für die lukrativeren Silberminen, was nach dem Zusammenbruch der "mita" zur völligen Verarmung der Bevölkerungen führte.
Entwicklungsökonomen vermuteten schon seit den 1990er-Jahren, dass politische Strukturen über Jahrhunderte Entwicklungspfade beeinflussen können. Das Interessante an der Studie ist (neben der schönen methodischen Umsetzung) auch die Tatsache, dass die ebenfalls ausbeuterischen Haciendas zumindest besser waren als Minenarbeit.
 
Gleichzeitig erlaubt die exakte methodische Umsetzung in Dells Studie wenig Zweifel an der Interpretation. Könnten koloniale Strukturen am Ende nicht nur negativ für Entwicklung sein? In einer späteren Studie belegt Dell (gemeinsam mit Benjamin Olken vom MIT in Boston), dass indonesische Dörfer in der Nähe ehemaliger niederländischerZuckerfabriken im 19. Jahrhundert heute wohlhabender sind als Nachbardörfer. Auch hier gab es Zwangsarbeit auf den Zuckerplantagen und in den Fabriken. Die negativen Effekte dürften allerdings durch die verbesserte Infrastruktur mehr als ausgeglichen worden sein. Niederländische Kolonialherren investierten massiv in den Straßenausbau, um Zuckerproduktion mit Anbauflächen und Exporthäfen zu verbinden.

Positive Auswirkungen?

Die Annahme, dass sich Kolonialherrschaft positiv auf die spätere Entwicklung eines Landes auswirken kann, ist durchaus beachtenswert. Als Österreicher müssen wir gar nicht so weit in die Ferne blicken. In den letzten Jahren haben eine Reihe von Studien untersucht, ob die Verwaltung des Habsburgerreichs in Osteuropa längerfristige ökonomische Effekte hatte. Sascha Becker von der Monash University in Australien untersuchte mit einer Gruppe von Kollegen das Vertrauen der Bevölkerung in die öffentliche Verwaltung in einem 200 Kilometer breiten Gürtel diesseits und jenseits der ehemaligen Habsburgergrenze, die heute quer durch Polen, die Ukraine, Rumänien, Serbien und Montenegro verläuft.

Einwohner dieser Staaten, die heute innerhalb der Grenzen des ehemaligen Habsburgerreichs leben, geben in Befragungen an, dass sie mehr Vertrauen in die Polizei und in Gerichte haben als Landsleute außerhalb der ehemaligen Habsburgergrenze. Auch die Bereitschaft, Bestechungsgelder zu zahlen, ist auf dem Territorium des ehemaligen Habsburgerreichs geringer als in der Vergleichsgruppe.

Karte des Untersuchungsgebiets. 

Eine Studie von Pauline Grosjean (University of New South Wales, ebenfalls in Australien) untersucht in derselben Region (Osteuropa und Balkan), inwieweit die Zugehörigkeit zu einem der ehemaligen langlebigen Staatengebiete (Habsburg, Osmanisches Reich und Russisches Reich) das Grundvertrauen der heutigen Bevölkerung in ihre Landsleute beeinflusst.

Das interessante Ergebnis: Die Frage "Finden Sie, dass man generell anderen Leuten trauen kann oder dass man nicht zu vorsichtig im Umgang mit anderen Leuten sein kann?" wird innerhalb der heutigen Staatsgrenzen signifikant unterschiedlich beantwortet. Doch innerhalb der ehemaligen Grenzen der vier großen Reiche geben die Bewohner dieselben Antworten. Zugehörigkeit zu weniger langlebigen oder noch nicht so lange existierenden Staatensystemen wie der UdSSR, der EU oder den neuen Staaten auf dem Balkan beeinflusst die Antwort nicht.
 
Die kulturelle Zugehörigkeit (abgebildet durch das Geben derselben Antwort auf eine Frage zum allgemeinen Grundvertrauen) wird also vom jahrhundertelangen Zusammenleben mehr beinflusst als von neu gezogenen Staatsgrenzen. Ob zum Guten oder zum Schlechten –politische und ökonomische Systeme aus der Vergangenheit beeinflussen Wohlstand und kulturelle Zusammengehörigkeit noch Jahrhunderte später. 


Nota. - Bei flachem Denken hilft auch die akribischste Empirie nichts. Der Vergleich von Silberminen und Haciendas in Peru bewiese mal dies und mal das? Er beweist, dass die Silberminen in merkantilistisch-abso-lutistischem Geist lediglich ausgebeutet worden sind, bis sie erschöpft waren - aber was anderes gab es dort nicht. Die Haciendas gab es dagegen noch immer.

Und die Holländer in Indonesien? Die haben dort Zuckerplantagen und zugleich weiterverarbeitende Industrien gegründet. Das waren kapitalistische Investitionen in eine Produktion für den Weltmarkt. So sehr dort die Arbeitskräfte ausgebeutet wurden (keine Naturvorkommen!), ist doch eine Infrastruktur entwickelt worden, die bis heute der ökonomischen Entwicklung dient.

Und wie ist es mit den osteuropäischen Provinzen, die zur k.u.k.-Monarchie gehörten, im Vergleich mit jenen, die in Russland oder im osmanischen Reich lagen? Über das Habsburgerreich ging das fliegende Wort, es sei ein orientalische Despotie, gemildert durch Schlamperei. Orientalische Despotien waren Russland und das Osmanenreich. Unterschied sich Österreich-Ungarn von ihnen nur durch Schlamperei?

Der Habsburger Monarch war kein orientalischer Selbstherrscher, sondern Moderator zwischen vielen ethnischen Aristokratien (und später einer Wiener Bourgeoisie) über einem uferlosen Beamtenapparat. Dessen sprichwörtliche Schlamperei milderte sowohl die Überreste des Absolutismus als auch den in den westlichen Reichsteilen wenigstens schlecht und recht herrschenden Rechtsstaat.  

Vor allem aber hatten auch in den habsburgischen Provinzen Osteuropas auf dem Lande seit dem Mittelalter feudale Verhältnisse geherrscht, die immerhin auf Treueverhältnissen beruhten (die immer wieder gebrochen wurden, was aber immer wieder auch Skandal machte). Doch selbst im Vergleich dazu vertrat die habsburgische Bürokratie immerhin ein allegemeingüliges Gesetz. 

Jahrhundertelange Herrschaft hinterlässt jahrhundertelang ihr Spuren - wär hätte das gedacht! Aber die Eine diese und die Andere andere. Nämlich je nachdem, welcher Art die Herrschaft war - eine bloß raubende und plündernde oder eine ordnende und aufbauende? Die im Artikel referierten Forschungsergebnisse bestätigen, was der gesunde Menschenverstand schon ahnte. Das ist ja auch schon bissel was.

PS. Ist auch schon bissel was? Das ist gar nicht sarkastisch gemeint. Historische Forschung will zuerst einmal herausfinden. 'was gewesen ist'. Ob es die Eingangsannahmen bestätigt oder widerlegt, ist wissenschaftlich ohne Belang. Aber nicht für die Bedingungen, unter denen Wissenschaft heute betrieben werden. Die erforderlichen Gelder macht man eher locker, wenn man was Besonderes herauszufinden verspricht - etwas, das nicht erwartet wurde. Wenn dann das herauskommt, was jeder ahnte, muss man es trotzdem wie eine Sensation darstellen. Die Forschung selbst braucht das nicht zu beeinträchtigen? Auf die Dauer wird's das aber.
JE





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