Wie die Gebrechen von Staatsoberhäuptern die Geschicke der Menschheit bestimmen
Krankheiten
haben verschiedentlich den Lauf der Geschichte beeinflusst, vor allem
in Gestalt der grossen Seuchen. Doch auch Einzelschicksale können
historische Wegscheiden sein – wenn sich die politische Macht in einer
Person konzentriert.Ein Fallbericht: Die Patientin ist 42 Jahre alt, von normaler Körpergrösse und Gewicht; seit langem hegt sie einen bis anhin unerfüllten Kinderwunsch. Jetzt jedoch sind Zeichen einer Schwangerschaft aufgetreten: das Ausbleiben der Regel, ein kontinuierliches Anschwellen des Unterleibes. Doch diese Schwellung geht mit Schmerzen einher, der Allgemeinzustand der Patientin verschlechtert sich, sie wird zunehmend schwächer. Dann, mit dem nasskalten Herbstwetter, zieht eine Grippeepidemie über das Land. Ihre Abwehrkraft ist gemindert, die Frau stirbt. Die vermeintliche Schwangerschaft waren vermutlich grosse Zysten der Eierstöcke oder ein bösartiger Tumor des Uterus.
Königliche Patientin
Bei diesem tragischen Schicksal hält das Räderwerk der Geschichte für einen Moment inne, bevor es
sich, mit anderer Taktung und neuer Richtung, weiterbewegt. Die Patientin war Mary Tudor (Maria I. von England), deren Zeit auf dem englischen Thron durch das nicht zweifelsfrei identifizierte Leiden auf fünf Jahre begrenzt blieb. Als sie im November 1558 der Kombination aus Unterleibsgeschwür und Infektion erlag, scheiterte ihr kurzes, aber brutales politisches Lebenswerk: Sie hatte versucht, das Ruder des Staatsschiffes herumzuwerfen, England wieder zu einer Bastion des Katholizismus zu machen, und liess dafür mehrere hundert Personen, die sie und ihre frommen Berater als Ketzer erachteten, bei lebendigem Leibe verbrennen.
Der frühe Tod der Königin, die als «Bloody Mary» in die Annalen einging, änderte alles: Ihre jüngere Halbschwester Elizabeth kam auf den Thron und setzte den von ihrem gemeinsamen Vater Heinrich VIII. verordneten Protestantismus in Gestalt der Church of England durch. Elizabeth regierte 45 Jahre über ein zunehmend blühendes und expandierendes Land, das Fuss in der Neuen Welt fassen sollte. Und: Unter Elizabeth besiegte England 1588 die spanische Armada und zeigte dem Weltreich von der Iberischen Halbinsel Grenzen auf – ein Weltreich, an dessen Spitze Marys Gatte Philipp II. stand. Ohne Marys frühen Tod hätte die konfessionelle Landkarte Europas anders ausgesehen – mit unabsehbaren Folgen. Und ein William Shakespeare hätte unter dem Damoklesschwert der Inquisition die meisten seiner Werke kaum geschrieben.
Effekte auf Mikroebene
Es bestehen wenig Zweifel, dass Krankheiten die Historie beeinflussen. So ist etwa der als Schwarzer Tod bezeichnete Zug der Beulenpest um die Mitte des 14. Jahrhunderts, dem rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung zum Opfer fiel, in seinen sozialen und ökonomischen Auswirkungen eingehend untersucht worden. Doch neben diesem Makroeffekt gibt es einen Impact von Leid, Krankheit und unzeitigem Tod auf einer Mikroebene: dem eines signifikanten politisch Handelnden. Universitäre Historiker vor allem in Europa sehen Geschichte primär als eine Abfolge wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Tendenzen. Dass sogenannte «grosse» Persönlichkeiten den Gang der Ereignisse entscheidend bestimmen, ist eine etwas verpönte Vorstellung. Indes können sich die meisten Menschen nur schwer vorstellen, welche Entwicklung Europa im 20. Jahrhundert ohne Hitler genommen hätte.
Oder auch, ob es zu einem so friedlichen Ende des Kalten Krieges gekommen wäre, wenn nicht Michail Gorbatschew 1985 in der Sowjetunion den Parteivorsitz angetreten hätte. Die Pathobiografie, das Zusammentreffen von Medizin und biografischer Geschichtsschreibung, verleitet fast stets zu der spekulativen Frage: Was wäre gewesen, wenn . . . – eine Frage, die vor den Augen vieler Historiker keine Gnade findet.
Viele Beispiele
Dabei gibt es durchaus anerkannte pathobiografische Studien – zu mentalen Krankheiten, zu Subjekten wie Hitler, Caligula und Nero sowie (in seinem Wahn wesentlich harmloser als die Vorgenannten) zu Georg III. von England. Vergleichbare Untersuchungen, die auf physische Gebrechen abzielen, haben hingegen oft den Beigeschmack des Anekdotischen. Für die Zeitgenossen waren körperliche Dysfunktionen ihrer Herrscher indes von einschneidender Bedeutung. Beispiele hierfür gibt es viele. So war etwa Napoleon bei der Schlacht von Waterloo am 18. Juni 1815 nicht er selbst: Der Mann, dem kaum jemand ein militärisches Genie abspricht, litt an Hämorrhoiden und wohl auch an einem Burnout-Syndrom. Sein Agieren als Oberbefehlshaber an diesem schicksalhaften Tag wird weithin als lethargisch beschrieben – Napoleon stand vermutlich unter dem Einfluss schmerzlindernder Opiate.
In seinen Auswirkungen gar nicht unterschätzt werden kann zudem das plötzliche Leiden (die Malaria, aber auch ein Giftanschlag werden vermutet) Alexander des Grossen, der im Alter von nur 33 Jahren starb, nachdem er ein Weltreich erobert hatte, das dann rasch wieder zerfiel. Vereinzelt hatten auch leichte, fast banale Störungen eine verheerende Wirkung: etwa die Kurzsichtigkeit von Schwedenkönig Gustav II. Adolf, der die Kaiserlichen im Dreissigjährigen Krieg bis in den Süden Deutschlands zurückdrängte. Dieser Sehfehler und aufkommender Morgennebel liessen den begabten Heerführer in der Schlacht bei Lützen im November 1632 die Orientierung verlieren, unter die Feinde geraten und einen frühen Tod finden. Hätte die Katastrophe Mitteleuropas sonst nur halb so lange gedauert und zu einer stabileren Friedenslösung geführt?
Die Wertschätzung einer pathobiografischen (Mit-)Beurteilung mancher historischer Wendemarken darf freilich nicht dazu führen, den Faktor Krankheit zu überschätzen. Die Katastrophe, die vor hundert Jahren ihren Lauf nahm, wäre – aufgrund der unerbittlichen Bündnissysteme, des Misstrauens, des Wettrüstens – wohl auch eingetreten, wenn es, um mit Barbara Tuchmann zu sprechen, im Sommer 1914 nicht eine solche «Torheit der Regierenden» im Übermass gegeben hätte.
Psychisch labile Gestalt
Allerdings: Dass zwei der wichtigsten Akteure eigentlich nicht amtsfähig waren, hat sicherlich nicht zu einer Eindämmung der Eskalation beigetragen. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. war eine psychisch labile, unsichere Persönlichkeit, was zumindest in Teilen auf seine bei der Geburt erlittene Behinderung – eine Verkrüppelung des linken Arms – zurückgeführt wird. Der zweite Akteur, der einflussreiche englische Aussenminister Sir Edward Grey, litt unter seiner beginnenden Blindheit. Aufgrund dieses Leidens hinterliess er die bekannteste Metapher über den heraufziehenden Ersten Weltkrieg: «In Europa gehen die Lichter aus, und wir werden sie zu Lebzeiten nicht mehr angehen sehen!» Krankheiten, ob akut oder chronisch, haben freilich nicht nur die Staatsgeschicke einstiger absolutistischer Regime beeinflusst, sondern auch jene von Demokratien der Zeitgeschichte.
Zeitalter des Lügens
Vertuschung war und ist dabei meist oberstes Gebot. Unübertroffen dürfte in dieser Hinsicht Frankreichs Präsident François Mitterrand gewesen sein. Dem 1981 ins Amt gekommenen Sozialisten wurde nach nur einem halben Jahr im Elysée-Palast von seinen Ärzten mitgeteilt, dass er an einem fortgeschrittenen Prostatakarzinom leide. Sein Leibarzt Claude Gubler bemerkte rückblickend, es habe das Zeitalter des generalisierten Lügens begonnen. Dass Mitterrand dennoch zwei volle Amtszeiten, von 1981 bis 1995, amtierte, legt Zeugnis ab von der Effektivität moderner Krebstherapien. Die Franzosen erfuhren erst 1992 von der schweren Krankheit ihres Präsidenten – die Mitterrand nicht an seinem politischen Lebenswerk hinderte, die D-Mark (Mitterrand: «Die Atombombe der Deutschen») zugunsten des Euro abgeschafft zu sehen.
In den USA wurde die Nebennieren-Erkrankung (Morbus Addison) von Präsident John F. Kennedy ebenso negiert wie Franklin D. Roosevelts Behinderung infolge einer Kinderlähmung – die dessen Amtsführung allerdings nicht im Wege stand. Indes hätte sein Herzleiden 1944 eine Wiederwahl ausschliessen müssen.
John F. Kennedy litt an Morbus Addison.
Roosevelts Herzschwäche und seine horrend hohen Blutdruckwerte wurden zu Staatsgeheimnissen. Inwieweit der fahl und elend aussehende Präsident dem Sowjetdiktator Josef Stalin bei der Konferenz in Jalta im Januar 1945 unterlegen war, ist vielfach debattiert worden. Der für die Öffentlichkeit unerwartete Tod Roosevelts am 12. April 1945 war indes ein Glücksfall für das gerade besiegte Deutschland und für die mit ihm wirtschaftlich verflochtenen Länder Europas: Der von Roosevelts Finanzminister Henry Morgenthau gehegte Plan, Deutschland in einen Agrarstaat zu verwandeln und eine Reindustrialisierung zu verbieten, wurde Makulatur: Roosevelts Nachfolger Harry Truman entfernte Morgenthau aus seinem Kabinett.
Schutzmechanismen
Anders als viele Autokratien sind demokratische Systeme in der Lage, Schutzmechanismen zu installieren, so dass die Pathobiografie einzelner Personen möglichst wenig Einfluss auf die Staatsgeschicke nimmt: Das gelingt ihnen, indem sie die Verantwortung auf viele Schultern verteilen. Kaum denkbar erscheint daher beispielsweise, dass in der Schweiz ein plötzlicher Krankheitsfall eines Nationalrates oder eines Ministers krisenhafte Konsequenzen nach sich ziehen könnte.
Um die körperliche und mentale Gesundheit einer autokratischen Person muss man sich andererseits auch im 21. Jahrhundert noch sorgen – wenn es etwa darum geht, wie amtsfähig eine Person ist, die über die Nuklearstreitkräfte ihres Landes gebietet. So wurde erst Jahre nach der Öffnung von sowjetischen Archiven bekannt, wie nahe die Welt im November 1983 an einer Eskalation stand. So glaubte der schwer an Diabetes erkrankte und in seinem Moskauer Klinikbett gelegentlich ins Halbkoma driftende Parteichef Juri Andropow, die Nato-Simulation «Able Archer» sei Teil eines Angriffs auf den Warschauer Pakt. Die sowjetischen Atomstreitkräfte wurden in Bereitschaft versetzt.
Parteichef Yuri Andropow im August 1983
Andropow entstammte dem Geheimdienst KGB – so wie jener Mann, der heute über das gleiche nukleare Arsenal wacht, im Unterschied zu Andropow aber vor Gesundheit zu strotzen scheint. Das jedenfalls sollen uns die propagandistischen Bilder eines vitalen, kalte Ströme durchschwimmenden, hoch zu Ross reitenden und den Wildgänsen nachsegelnden Präsidenten der Russischen Föderation vermitteln.
Nota.
Nicht große Männer machen Geschichte, sondern die Massen. Ja ja, aber die Massen machen Geschichte meist nur, wenn sie energische Anführer haben, die man aus ebendiesem Grunde als große Männer und manchmal große Frauen ansieht.
Und die Frage "Was wäre gewesen, wenn..." ist nach Max Weber die einzige, die erlaubt, in der Geschichte so etwas wie einen Wirkzusammenhang auszumachen; wenn man sich nämlich einen ausgewählten 'Faktor' wegdenkt: Was wäre gewesen, wenn XY zu diesem Zeitpunkt nicht an diesem Ort gewesen wäre? Hätte sich nicht viel geändert? Dann gehört XY nicht zu den großen Bewegern. Wäre alles anders gekommen - dann gehörte XY zu den 'Faktoren', die "Geschichte machen". Wobei es sich offenbar nicht um eine analytische, sondern um eine intuitive Einschätzung handelt, aber das ist mehr als nichts, und man kann es immerhin kritisieren.
JE