aus beta.nzz.ch, 10.7.2015, 05:30 Uhr
Der Körper als Ersatzreligion
Gestählte Träume
von Marc Tribelhorn
...
Letzte Sinninstanz
Die Postmoderne hat die Wohlstandsgesellschaft mit einer bizarren Fitnessbegeisterung überzogen, die historisch einzigartig ist. Soziologen wie Robert Gugutzer interpretieren den grassierenden Körperkult als eine Art Ersatzreligion. Der Körper ist nicht mehr nur physische Grundlage des Daseins, sondern letzte Sinninstanz. Diese Entwicklung manifestiert sich im Boom der Fitnessindustrie, die sich mit ihren Dienstleistungen und Produkten ganz auf die Optimierung und Ästhetisierung von Körpern spezialisiert und damit allein in der Schweiz Milliarden umsetzt. Laut den Zahlen des Bundesamts für Sport wächst seit zwanzig Jahren der Anteil der Personen stetig, die mehrmals pro Woche Sport treiben. Die Eidgenossen, ein Volk von Bewegungsfanatikern.
Ein Sechstel der Bevölkerung quält sich mittlerweile regelmässig hinter den gläsernen Fassaden der rund 1200 Fitnessanlagen. Tendenz steigend. Motivation sind dabei weniger der Wettkampfgeist, die Freude an der Bewegung oder die Prävention gegen Zivilisationskrankheiten wie Rückenschmerzen vom Sitzen im Büro. In der Studie zum Sportverhalten der Schweizer Bevölkerung stufte über die Hälfte der Befragten es als wichtig ein, dass sie «durch das Training ihre Attraktivität steigern können, indem sie schlank und fit bleiben». «To look better naked» heisst es etwas expliziter bei den Amerikanern.
Signum der Leistungswilligen
Wenig überraschend schreibt sich auch die Leistungsgesellschaft in die Leiber ein. Fitness gilt als Arznei, um in der stressigen Arbeitswelt bestehen zu können. Der athletische Körper offenbart die Selbstdisziplin einer Person, ihre Willensstärke, ihr Gesundheitsbewusstsein, ihre Belastbarkeit. Längst ist es nicht mehr allein Gevatter Staat, der zu mehr Sport und gesunder Lebensführung aufruft, auch viele Unternehmen motivieren ihre Belegschaft dazu. Die Verzahnung von Sportlichkeit und Arbeitskraft scheint evident: Der Körper wird zum Signum der Leistungswilligen. Die Fitnesscenterkette Silhouette etwa wirbt damit: «Arbeitnehmer, Unternehmer, Behörden, Organisationen . . . Sie haben es bereits verstanden: Sport erhöht die Produktivität!» Und zitiert eine Studie, wonach «ein Sportler eine bestimmte Arbeit in 8 Stunden erledigen kann, wofür ein Nichtsportler mindestens 9,5 Stunden benötigt» – wenn er denn vor lauter Training noch zum Arbeiten kommt.
Beruhigend nur, dass die Realität weit entfernt von den gestählten Träumen vieler ist – ein Blick in die Badeanstalten des Landes genügt.
Nota. - Das ist ja immer lobenswert, wenn einer den giftigen Hauch des Kapitals wittert und anprangert, und in der Schweiz vielleicht auch nötiger als anderswo. Aber hier bei uns ist der Leistungswille schon zu großen Teilen Vorwand. Ayurveda und Wellness gehören ja längst auch dazu! Der wahre tiefere Sinn des Fitness- und Gesundheitsrummels ist der: Endlich, ENDLICH dürfen sie sich hemmungs- und pausenlos nur mit sich selber beschäftigen - ohne links und rechts zu schauen oder auch nur geradeaus: Gesundheit hat Vorfahrt. Seht nur, wie sie durch die Parks joggen und alles über den Haufen rennen, was nicht schnell genug zur Seite springt, hört, wie sie sich im Biomarkt mit den andern Kunden über die Wege ihrer Verdauung austauschen, beachtet, wie sie die paar verbliebenen Raucher mit Worten und Blicken züchtigen, die sich mit ihrem schädlichen Laster noch in die Öffentlichkeit wagen! Immer denken sie nur Ich! Ich! Ich!, aber sie dürfen so tun, als meinten sie Gemein- wohl und Volksgesundheit. Sie dürfen, indem sie ihr Liebstes hätscheln, sich fühlen als die besseren Menschen, wie eine ideelle Sitzblockade und permanente Lichterkette. Es ist das zehrende Selbst, das sich aufspielt als Zeuge Jehovas und ein lebendes Mahnmal den Sündigen.
JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen