Samstag, 26. Oktober 2019

Konservativ ist, wer auf den Fortschritt setzt.

 
aus Die Presse, Wien, 26.10.2019

Es geht voran – aber keiner glaubt es Die Zahlen zeigen: Noch nie ging es der Menschheit so gut wie heute. Aber wir weigern uns, die frohe Botschaft zu akzeptieren. Die verzerrte Wahrnehmung liegt in Evolution und Psychologie begründet. Können wir uns davon befreien? Sollten wir es überhaupt?

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Man sollte sich nicht über Kollegen lustig machen. Erst recht nicht, wenn sie vermutlich einen weniger interessanten Job haben. Aber seien wir ehrlich: Was in Gemeindezeitungen und Bezirksblättern steht, ist meistens recht langweilig. Das hat einen Grund: Dort passiert nichts Spannendes, sprich: Schlimmes. Man berichtet über kleine Erfolge, kleine Verbesserungen, rasch gelöste Probleme. Wie öde!

Gottlob wissen wir aus nationalen Medien (und millionenfach geteilten Handyvideos): In der großen weiten Welt geht alles den Bach runter. Es regieren Not und Gewalt. Eine Katastrophe jagt die andere. Dabei picken die Verbreiter aus der Flut von Nachrichten wenige schockierende Abweichungen heraus. Weit akkurater wäre die Lage der Welt beschrieben, würde man die Berichte aller öden Provinzmedien der Welt akkumulieren: Das „Dort“, wo so vieles langsam besser wird, ist unser aller „Hier“. Da uns diese Einsicht fehlt, sehen wir das Ferne seltsam verzerrt: In Umfragen schätzen die meisten die eigene Lage als recht gut ein, die allgemeine aber als miserabel. Die Hölle, das ist überall anders.


Sind nur Journalisten schuld daran, dass es an Optimismus mangelt? Es liegt an uns allen: Wir wollen vom schrecklichen Flugzeugabsturz hören, aber nicht darüber, dass sich die Zahl der Flugzeugabstürze seit den Siebzigerjahren trotz zehnmal so vieler Passagiere halbiert hat. Unsere Sucht nach dem Alarm, auch wenn es meist ein falscher ist, hat evolutionäre Wurzeln: Wer in grauer Vorzeit stets nach neuen Gefahren Ausschau hielt, überlebte eher als jene, die sich entspannt auf die Wiese legten. Die Gene der Sorgenvollen haben sich durchgesetzt und auf uns Heutige übertragen.

Wir Retromanen

Zugleich haben wir eine Tendenz, die Vergangenheit zu verklären. Der Urlaub, das Familientreffen, erst recht die ferne Jugend: Auch wenn sie noch so unerfreulich ausfielen, malen wir sie in der Erinnerung in rosigen Farben. Gerade die 1950er- und 1960er-Jahre gelten als Goldenes Zeitalter, an dem man sich wieder orientieren solle. Das ist kein Zufall: Viele aktuelle Meinungsmacher sind überreife Babyboomer, die damals ihre Kindheit verlebten. Unsere Nostalgie – oder treffender: Retromanie – lässt sich psychologisch erklären. Es ist unserer mentalen Gesundheit abträglich, wenn unsere Erinnerungen widersprüchliche Gefühle hervorrufen. Wir schreiben sie deshalb so um, dass sich alles zusammenfügt – und zwar zum Positiven. Denn die Alternative wäre ein rundum negatives Fazit, an dem wir persönlich verzweifeln müssten. Das wäre keine gute Basis für das Meistern der eigenen Zukunft.

Vom Schlimmsten ausgehen, die Vergangenheit beschönigen: Kombiniert liefert das den populären Seufzer „Früher war alles besser“. Da sich die Klage seit dem alten Babylon in jeder Generation wiederholt, müssten wir nun am vorläufigen Tiefpunkt der Geschichte angelangt sein. Das Gegenteil ist der Fall: Nach fast allen objektiven Kriterien – Wohlstand, Gesundheit, Lebenserwartung, Sicherheit, Freiheit – geht es der Menschheit so gut wie nie zuvor. Aber das wollen wir nicht hören.
 

Auf die Frage „Hat sich die extreme Armut weltweit in den vergangenen 50 Jahren verdoppelt, halbiert oder stagniert sie?“, gibt nur einer von zehn die richtige Antwort (halbiert). Affen würden raten, sie hätten eine Trefferquote von 50 Prozent. Wir sollten aber schlauer sein als Affen. Als rationale, selbstbestimmte Wesen sind wir auch unseren Genen und Instinkten nicht hilflos ausgeliefert. Wir können dem kurzfristigen Aufreger weniger Aufmerksamkeit schenken als der langfristigen Entwicklung, die seriöse Statistiken zeigen.

„Trendlines, not headlines“: Das predigen Autoren wie Steven Pinker, Hans Rosling oder Johan Norberg. Ihre Bücher sind nicht erfolglos, aber im lauten Chor der Schwarzmaler gehen sie unter. Die Reaktion auf ihre frohe Botschaft ist Skepsis. Es klingt ja auch verdächtig nach Werbung oder PR-Aussendung. Man weicht zurück: Da will mir jemand etwas verkaufen. Wer hingehen Missstände anprangert, hat sofort unsere Sympathie: Da will mir jemand helfen. Oft hört man auch: Politik darf sich nie mit dem Erreichten zufriedengeben. Nur: Das macht auch keiner der genannten Autoren. Sie sagen nur, dass sich seit der Aufklärung vieles dramatisch verbessert hat.

Aber schon dieses Vertrauen auf den Fortschritt macht sie gerade Intellektuellen suspekt. Eine lange Reihe von Philosophen, von Rousseau über Spengler bis Heidegger, haben den Lauf der Welt als Verfallsgeschichte gedeutet. Wortgewaltig und wirkmächtig, auch wenn die Basis nur das dumpfe Bauchgefühl von jedermann war. Oder doch Kalkül im Wettstreit der Meinungen? Wir wissen: Ein Rezensent, der Bücher oder Aufführungen verreißt, wird für kompetenter gehalten. Umso mehr gilt das für Analysen von Gesellschaft, Politik, Ökonomie. Wer sich da über Erreichtes freut, kriegt prompt ein „naiver Optimist“ ums Ohr gehauen.

Konservative Aufklärer

Muss das sein, weil nur Kritik etwas bewegt, weil ohne sie nichts weitergeht? Wahre Aufklärer sind heute zwangsläufig konservativ: Sie verteidigen Errungenschaften, die in der Geschichte der Menschheit beispiellos sind. Sie fragen sich: „Wie war das möglich?“, um auf dieser Basis in kleinen Schritten weiter zu verbessern.

Mehr Gehör finden jene, die „unheilbare Missstände“ anklagen und Radikales fordern: autoritäre Führung statt Demokratie, Abschottung statt Kooperation, Knebelung der Marktkräfte. Wir sollten ihnen nicht nur Zahlen entgegenhalten. Sondern auch Stolz im Herzen und Wut im Bauch.


Nota. - Die Etikette konservativ und progressiv sind, wie die entsprechenden Kennzeichnungen links und rechts, Erfindungen des 19. Jahrhunderts. Im Rücken die Große Revolution, deren Erinnerung den einen Angst, den andern Hoffnung machte, im Visier die Industrialisierung, die Freiheit verhieß und doch Elend in Aussicht stellte.

Zwischen den beiden Flügeln die liberalen Fortschrittler, die maßvollen Wandel predigten unter Bewahrung der Ordnung. Das folgende Jahrhundert hat nach zwei Weltkriegen die Industrialisierung im Guten wie im Schlech- ten zu einem Abschluss gebracht. Eine gewaltige Umwälzung bei mehrmaliger katastrophaler Wiederherstellung der Ordnung. Aber die alte Ordnung war es nicht. Die neue Ordnung bestand in stetem Fortschritt unter Bewah- rung des sozialen Gleichgewichts. Je kleiner die wirklichen Gegensätze wurden, umso mehr kam es auf den Ton an. Schließlich wird nur noch um Schlagwörter gefochten - aber so schrill wie nur denkbar. Die Taten bleiben unentschlossen und kleinlich.

Die begonnene digitale Revolution könnte konvulsivische Formen annehmen. Dass man ihr ausweichen kann, mögen reaktionäre Gartenzwerge träumen, doch wer zwei und zwei zusammenzählt, macht sich Gedanken über das zu bewahrende Gleichgewicht. Das heißt, um ein unablässig und gelegentlich gewaltsam zu readjustierendes Gleichgewicht. Verbaler Krawall kann da nur stören.
JE
 

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