aus Süddeutsche.de, 9. 6. 2021 Die Union will "dem Staat die Langsamkeit und die Bürokratie austreiben." Dabei scheut sie offenbar auch vor radikalen Ideen nicht mehr zurück.
Von Boris Herrmann, Berlin
In der demnächst zu Ende gehenden Wahlperiode beschloss der Deutsche Bundestag bereits mehr als 400 Gesetze, im Schnitt zehn pro Monat. Die Union hat als größte Bundestagsfrak-tion wesentlich zu diesem Gesetzgebungstempo beigetragen - aber offenbar kam sie inzwi-schen zu dem Schluss, es mit ihrem Arbeitseifer ein wenig übertrieben und den Staat damit überfordert zu haben. "Für jedes einzelne Gesetz mag es gute Gründe geben, in der Summe ist es zu viel", heißt es in einem Positionspapier, das am Dienstag in der Fraktionssitzung von CDU und CSU beschlossen wurde.
Demnach will die Union künftig jeden Gesetzesentwurf einem "Notwendigkeits-Check" un-terziehen und sorgfältiger prüfen, ob Einzelgesetze zusammengefasst werden können. Die weniger werdenden Gesetze sollen dafür dann besser werden. Damit, so heißt es in dem Pa-pier, gebe es mehr Zeit für die Bundesministerien und den Bundestag, "um sich auf das We-sentliche zu konzentrieren" sowie weniger "unnötige Regeln" für den Bürger.
Die Initiative für weniger Gesetzesinitiativen ist aber nur ein Teil eines umfassenden Reform-pakets, mit dem die Union den Staat grundlegend modernisieren will. In dem Positionspapier, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, werden insgesamt 40 Maßnahmen vorgeschlagen, mit denen die Bundesrepublik "einfacher, agiler, digitaler und krisenfester" gemacht werden soll. Dazu gehören unter anderem ein "App-Store für die Verwaltung", ein Digitalministerium, ein "Digital-TÜV" sowie "Modernisierungsteams" in den Behörden.
Während der Krise habe sich gezeigt, wie eine Verwaltung nicht effizient funktioniere
Manches mag ein wenig schlagwortverdächtig klingen, aber der vielleicht entscheidende Gedanke bei dieser Reform lautet, dass "der Bund bei sich selbst anfangen" soll. Was die Union hier vorlegt, ist eine Systemkritik aus dem System heraus. So wollen CDU und CSU nicht nur die Gesetzgebungsverfahren, das Dienstrecht und die Arbeitsweise der öffentlichen Verwaltung grundlegend verändern, sondern auch die Zusammenarbeit (beziehungsweise das fröhliche Aneinandervorbeiarbeiten) innerhalb der Bundesregierung und ihrer angeschlosse-nen Behörden und Institutionen.
Davon gibt es nach Zählung der Union sage und schreibe 969. Dass dieser Behördendschun-gel einer Verwaltungsreform bedarf, die diesen Namen auch verdient, ist nach knapp 16 Jahren Regierungsverantwortung offenbar im Mainstream der Unionsfamilie angekommen. Dafür dürften nicht zuletzt die Erfahrungen aus der Pandemie gesorgt haben. Während der Krise habe sich gezeigt, wie eine Verwaltung nicht effizient funktioniere, heißt es durchaus auch selbstkritisch in dem Papier: "Statt E-Akte im Laptop türmten sich Aktenberge in Impfzen-tren, Gesundheitsämter erfassten Daten händisch und faxten Listen."
Die Initiative für den sogenannten "Neustaat", so der Titel des Projekts, ist aber schon älter als Corona. Es wurde vor gut einem Jahr von den Fraktionsvorstandsmitgliedern Nadine Schön und Thomas Heilmann (beide CDU) mit ihrem gleichnamigen Buch angestoßen und von Fraktionschef Ralph Brinkhaus vorangetrieben. Alle wesentlichen Gedanken des Buches finden sich in dem nun beschlossenen Unionspapier wieder.
Das Ressortprinzip habe sich zum Hindernis entwickelt
Laut Teilnehmern sagten am Dienstag in der Fraktionssitzung sowohl Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) als auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt zu, dass das Papier einen wesentlichen Teil des Wahlprogramms der Union bilden soll. Laschet propagiert seit Monaten seinen Slogan von einem "Modernisierungsjahrzehnt". Dazu gehört ausdrücklich auch die Neustaat-Initiative, heißt es aus Fraktionskreisen. Nadine Schön, 37, gilt nicht von Ungefähr als sehr ernsthafte Anwärterin auf einen Platz in Laschets Wahlkampfteam.
Thomas Heilmann sagte der SZ am Dienstagabend nicht ohne Stolz: "Wir sind die einzige Partei, die eine konkrete Idee vorlegt, wie wir den Laden wieder flott machen und dem Staat die Langsamkeit und die Bürokratie austreiben." Auf dem Weg dahin scheut die Union offenbar auch vor radikalen Ideen nicht mehr zurück.
So sollen etwa die Ministerien kleiner werden und vor allem nicht mehr wie Silos nebeneinan-derher existieren. "Das Ressortprinzip, das jedem Ministerium große Unabhängigkeit gibt, hat sich in seiner überkommenen Form - insbesondere bei Querschnittsthemen wie der Digita-lisierung - zum Hemmnis entwickelt", heißt es in dem Beschluss von CDU und CSU. Sich überlappende Zuständigkeiten und Kompetenzstreitigkeiten würden die Handlungsfähigkeit Deutschlands bremsen.
Keine Ministerien mehr? "Ich könnte es mir vorstellen."
Will die Union am Ende gar die Ministerien ganz abschaffen? Schön und Heilmann schließen das jedenfalls nicht grundsätzlich aus. Nadine Schön hatte bereits bei der Buchvorstellung im vergangenen Jahr gesagt: "Ob es am Ende gar keine Ministerien mehr geben wird? Ich könnte es mir vorstellen." In ihren Gedankenspielen könnten in 15 Jahren alle Angestellten der Bundesverwaltung einen Pool an Arbeitskräften bilden und dann je nach Bedarf flexibel eingesetzt werden.
Die Union ist sich offenbar bewusst, mit ihren Vorschlägen auf Widerstand im System zu stoßen. "Mancher wird sich um liebgewonnene Besitzstände und Zuständigkeiten sorgen", heißt es am Ende des Papiers. Diese Einwände seien gewichtig. Aber: "Unser Staatswesen braucht jetzt dringend neuen Schwung."
Kanzlerin Angela Merkel hört im Herbst auf und wird sich den Ärger, den sich ihre Partei mit dem Papier gegebenenfalls einhandeln wird, nicht mehr antun müssen. Aber auch sie hatte sich dieser Tage in einer Diskussionsveranstaltung für ihre Verhältnisse euphorisch zum Neustaat-Projekt geäußert: "Unsere eingespielte Arbeitsweise funktioniert unter Umständen nicht mehr gut genug", sagte Merkel.
In der kommenden Legislaturperiode will die Union unter anderem auch eine "Umsetzungswoche im Bundestag" einführen, in der Gesetze regelmäßig auf ihre Wirksamkeit geprüft werden sollen. In dieser Woche sollen dann keine neuen Gesetze beschlossen werden.
Für die verbleibenden beiden Sitzungswochen dieser Wahlperiode gilt das Vorhaben, sich in der Gesetzgebung etwas mehr zurückzuhalten aber offenbar noch nicht. Da wollen CDU und CSU gemeinsam mit dem Koalitionspartner SPD dem Vernehmen nach noch eben 42 Gesetze verabschieden.
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