Sonntag, 15. August 2021

Mit den Goten begann die Völkerwanderung.

 Seit dem Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. drängten Germanen in immer neuen Wellen über die Grenze des Imperiums, dessen reiche Provinzen sie anzogen.
aus welt.de, 29. 9. 2015                                                                                                                                                            Seit dem Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. drängten Germanen in immer neuen Wellen über die Grenze des Imperiums, dessen reiche Provinzen sie anzogen.
 
Goten-Zug 376 n. Chr. 
Was Roms Völkerwanderung von heute unterscheidet
Um sich vor den Hunnen in Sicherheit zu bringen, erbaten germanische Gruppen 375 n. Chr. Zuflucht im Römischen Reich. Was folgte, erinnert an moderne Migration, zeigt aber auch Widersprüche.
 
Wie zuvor die Kimbern und Teutonen konnte Rom die Invasoren zunächst stoppen. Eine andere Praxis war, den Germanen als Siedlern und Militärs Land zuzuweisen.
Der Einfall der asiatischen Hunnen (Bild) im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts veränderte die Lage dramatisch. Ganze ostgermanische Großstämme zogen nach Süden und Westen.
Der Einfall der Hunnen Ende des 4. Jahrhunderts veränderte die Lage. Ganze ostgermanische 
Großstämme zogen nach Süden und Westen.
Bei Adrianopel stellte sich ihnen 378 Kaiser Valens entgegen. Seine vernichtende Niederlage öffnete den Goten das Imperium.
Bei Adrianopel stellte sich ihnen 378 Kaiser Valens entgegen. Seine vernichtende 
Niederlage öffnete den Goten das Imperium.
Mehrmals plünderten Germanen daraufhin die alte Hauptstadt Rom, die Westgoten 410, die Vandalen 455.
Mehrmals plünderten Germanen daraufhin die alte Hauptstadt Rom, die Westgoten 410, 
die Vandalen 455.
Im Jahr 476 legte der letzte Kaiser des Westreichs, Romulus Augustulus, vor dem germanischen Söldnerführer Odoaker seine Insignien ab. Damit endete das Imperium im Westen.
476 legte Kaiser Romulus Augustulus vor dem Söldnerführer Odoaker seine 
Insignien ab. Damit endete das Imperium im Westen.
Das Oströmische Reich gewann dagegen seine Macht zurück. Justinian I. (M.; reg. 527–565) vernichtete die Germanenreiche in Afrika und Italien. Es wurde Byzanz und beherrschte noch für Jahrhunderte weite Teile der Levante.
Das Oströmische Reich gewann dagegen seine Macht zurück. 
Justinian I. (M.; reg. 527–565) vernichtete die Germanenreiche in Afrika und Italien.

Nachdem diese kampfestüchtigen, unbändigen Invasoren plündernd und mordend die Grenzen überwunden, die Verteidiger geschlagen und Städte und Dörfer geplündert und verwüstet hatten, beschloss die Mehrheit des Bewohner, von Hunger geschwächt, sich einen neuen Zufluchtsort zu suchen. Wegen der Fruchtbarkeit seiner Weiden und des Schutzes, den die breite Donau bot, fiel ihre Wahl auf die Landschaft Thrakien unweit der oströmischen Hauptstadt Konstantinopel.

So beschreibt der spätrömische Historiker Ammianus Marcellinus (um 330–395) in seinen „Res Gestae“ die Ursache der sogenannten Völkerwanderung, die im Jahr 375 n. Chr. durch den Einfall der Hunnen aus Zentralasien in die südrussische Steppe ausgelöst wurde. Wie die Römer diese Migrationsbewegungen deuteten, beschreibt der Autor, der als hoher Offizier Zeuge der Ereignisse war, so:

Neben den Terwingen und Greutungen verließen ab 375 auch andere Gruppen wie Sarmaten, Taifalen und Alanen unter dem Druck der Hunnen ihre Siedlungsgebiete im Norden der römischen Grenzen

„Eine Masse unbekannter Barbarenstämme, durch plötzliche Gewalt aus ihren ursprünglichen Wohnsitzen verdrängt, unstet mit Weib und Kind in einzelnen Gruppen am Donauufer umhertreibend. Ganz am Anfang nahmen unsere Leute die Sache nicht ernst. Allmählich konnte man aber den Ereignissen größeren Glauben schenken, und die Ankunft von Gesandten aus dem Barbarenland bestärkte ihn noch. Flehentlich und unter Beschwörungen baten sie, die landflüchtige Volksmenge diesseits des Stroms aufzunehmen.“

Mit ihrer zunächst dilatorischen Behandlung des Problems erwiesen sich Roms Politiker und Beamte einmal mehr als ferne Spiegelbilder unserer Gegenwart. Gut 100 Jahre später zog ein germanischer Söldnerführer den Schlussstrich unter dem Römischen Reich im Westen. Einen entsprechend prominenten Platz nimmt daher die große Völkerwanderung im Diskurs über den Untergang des scheinbar auf ewig angelegten Imperiums ein. Die Vorstellungen, die sich jede Generation von Roms Fall seitdem gemacht hat, sind immer auch ein Paradigma für ihre eigenen Existenzängste gewesen: sozialer Wandel, Dekadenz, Naturkatastrophen, Seuchen, Kriege, Migrationen. Mehr als 700 Gründe wurden über die Jahrhunderte hinweg angeführt.

Es sagt daher einiges über unsere Befindlichkeiten im beginnenden dritten Jahrtausend aus, dass Invasionen die Umweltkatastrophen als herausragenden Grund für den Untergang des Weltreichs abgelöst haben. Einer der maßgeblichen Vertreter dieser These ist der britische Althistoriker Peter Heather, der mit seinem Buch „Invasion der Barbaren“ (2009; dt. 2011 bei Klett-Cotta) einen akademischen Bestseller zum Thema vorgelegt hat.

Peter Heather: „Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus“. (Übers. v. Bernhard Jendricke, Rita Seuß und Thomas Wollermann. Klett-Cotta, Stuttgart, 2012. 667 S., 39,95 Euro) Peter Heather: „Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus“. (Übers. v. Bernhard Jendricke, Rita Seuß und Thomas Wollermann. Klett-Cotta, Stuttgart, 2012. 667 S., 39,95 Euro)

Danach waren es die Hunnen, die Ende des vierten Jahrhunderts so viele germanisch geprägte Gruppen gegen die römischen Grenzen drängten, dass das Imperium sie nicht mehr integrieren oder vernichten konnte. Stattdessen erlangten diese Gruppen auf dem Boden des Imperiums erst eine neue Stufe in der Organisation politischer Strukturen, die ihnen erst die Möglichkeit bot, „um das Weströmische Reich zu Fall zu bringen“.

Auf gut 660 Seiten analysiert Heather Roms Fall mit den Mitteln der Migrationsforschung. Die Grundlage dazu liefert ihm neben archäologischen Zeugnissen vor allem Ammianus Marcellinus, dessen großes Werk im Einbruch der Goten ab 376 und der vernichtenden Niederlage der Römer 378 bei Adrianopel gipfelt. Manche seiner Beobachtungen erinnern an Vorgänge unserer Tage.

Der in Konstantinopel residierende Kaiser Valens und seine Entourage waren über die Bitte der Goten zunächst hocherfreut. Der Zuzug kampferprobter „Jungmannschaften“ eröffnete ein neues Rekrutierungsreservoir für die Armee, was zudem den Staatsschatz weniger belasten würde. Also wurden Beamte an die Grenze mit dem Auftrag entsandt, die „wilde Menschenmenge“ samt Tross sicher über den Fluss zu geleiten, zu versorgen und ihr anschließend Lebensmittel und Äcker in Thrakien zuzuweisen.

Die „unseligen Beamten“ machten zwar den Versuch, die Zahl der Migranten festzustellen, gaben aber ihr fruchtloses Bemühen alsbald auf. Auch unterliefen inkompetente Provinzverwaltungen alle Bemühungen, die Neuankömmlinge mit Lebensmitteln zu versorgen, sondern pressten von ihnen überhöhte Zahlungen ab. Als kurz darauf weitere germanische Gruppen um Aufnahme ins Reich baten, wurden sie abgewiesen, konnten aber von der schwachen Grenzverteidigung schließlich nicht am Übergang über die Donau gehindert werden. Kaiser Valens aber stand mit seinem Heer im fernen Antiochia im Süden, wo er den Krieg gegen die persischen Sassaniden koordinierte.

Ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht ließen sie in Mord und riesigen Feuersbrünsten alles zugrunde gehen
Ammianus Marcelinus, über den Zug der Goten

Von Hunger und Ärger über die zunehmend feindlich gesonnene römische Verwaltung getrieben, taten sich die Goten mit anderen germanischen Gruppen zusammen. Barbaren, die bereits früher auf dem südlichen Balkan angesiedelt worden waren, schlossen sich ihnen an. Gemeinsam gingen sie auf Beutezug: „Ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht ließen sie in Mord und riesigen Feuersbrünsten alles zugrunde gehen, sogar Säuglinge wurden von der Mutter Brust gerissen und getötet, die Mütter selbst in die Sklaverei verschleppt, die Männer vor den Augen ihrer Frauen erschlagen und jene so zu Witwen gemacht.“

In vielen Formulierungen erweist sich Ammianus als gelehriger Schüler spätantiker Rhetorik und guter Kenner historischer Topoi. Gleichwohl entdeckt Peter Heather in seinen Schilderungen der germanischen Stämme wichtige Indizien für deren politische und gesellschaftliche Verfasstheit.

Lange Zeit hatte man sich die Goten als ein „altes“, gewachsenes Volk vorgestellt, das im dritten Jahrhundert seine Heimat in Nordeuropa verlassen und nördlich des Schwarzen Meeres ein richtiges Reich errichtet hatte. Ammianus berichtet dagegen von Kriegerverbänden von einigen Tausend Mann, die von eigenen Führern angeleitet wurden. Die Terwingen, die 376 Rom um Aufnahme baten, hatten sich zuvor geteilt, die Zurückgebliebenen werden sich später mit den Hunnen arrangiert haben oder untergegangen sein.

Zusammen mit einer freien Kriegerelite fassten die „Könige“ Alaviv und Fritigern den Entschluss, mit Frauen, Kindern und aller Habe nach Süden zu ziehen. Als langjährige Nachbarn des Imperiums werden die Goten über Handlungsmuster und Möglichkeiten des Kaisers wohl informiert gewesen sein, argumentiert Heather. Sie wussten, dass die Hauptmacht des Reiches im Osten gebunden war und gotische „Jungmannschaften“ den Werbern des Heeres hochwillkommen waren.

Zugleich machten sie sich aber auch keine Illusionen darüber, was Konstantinopel mit einer Gruppe bewaffneter Neusiedler unter eigenen Führern vor seinen Toren über kurz oder lang machen würde, sobald die Reichsarmee ihren Feldzug im Osten abgeschlossen haben würde. Die Angst, dann von deren überlegenen Waffen ausgelöscht zu werden, führte zum Zusammenschluss der Terwingen mit den Greutungen und weiterer Gruppen, darunter auch aus dem Iran stammende Alanen.

Wichtige Migrationszüge in der Spätantike Wichtige Migrationszüge in der Spätantike

Umgehend entwickelten diese durchaus heterogen zusammengesetzten Verbände Strukturen, die in der Lage waren, nunmehr eine „politische Konföderation“ von 15.000 bis 20.000 Kämpfern – das entspräche bis zu 100.000 Individuen – zu organisieren, und wurden damit zum Vorbild für nachfolgende Germanen. Diese West-, Ostgoten, Burgunder, Vandalen oder Franken begründeten eigene Reiche auf dem Boden des westlichen Imperiums und höhlten es damit aus.

Für Peter Heather waren die Goten, die 376 die Donau überschritten, nicht einfach nur Flüchtlinge, sondern Migranten, die nicht nur die Suche nach Sicherheit antrieb, sondern auch die „Hoffnung auf Partizipation am Wohlstand“ der zivilisierten Welt. Als er das Buch schrieb, war der Terror des Islamischen Staates (IS) eine unvorstellbare Größe. Heute könnte man seine Rolle mit der der Hunnen vergleichen, deren unerwarteter Ansturm 375 die Angegriffenen vor völlig neue Herausforderungen stellte.

Dagegen unterschieden sich die Migranten, die sich für den Zug nach Süden entschieden, in zwei entscheidenden Punkten von der aktuellen Migration: Zum einen, so Heather, handelt es sich „um unorganisierte Ströme von Menschen, die um ihr Leben“ laufen, und nicht um geordnete Evakuierungen. Zum anderen kommen die Flüchtlinge der Gegenwart ohne Waffen und politische Organisation. Die Goten dagegen waren kampferprobt und verfügten über eine eigene politische und gesellschaftliche Organisation. Und sie hatten die Option, jemals in ihre alte Heimat zurückzukehren, definitiv aufgegeben.

 

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