Samstag, 2. Mai 2015

Geschichte der Russlanddeutschen.

Clara Zetkin besucht 1923 Marxstadt, Hauptstadt der Wolgarepublik                                                                                                                                              aus nzz.ch 15.4.2015, 05:30 Uhr

György Dalos über die Russlanddeutschen
Fleissige Minderheit in einem grossen Imperium

von Cord Aschenbrenner

Die Geschichte der Russlanddeutschen ist so gut wie beendet. In Deutschland ist sie mittlerweile fast unbekannt, Jüngere hören von ihr vielleicht zum ersten Mal, wenn sie für die in der sibirischen Stadt Krasnojarsk geborene Schlagersängerin Helene Fischer schwärmen. Da ist es gut, dass sich ein Schriftsteller und, wie sich bei der Lektüre herausstellt, belesener Kenner der Historie dieser Minderheit und ihres Schicksals annimmt. Durchaus bemerkenswert ist, dass er aus einem dritten Land kommt, einem, das seine eigene Geschichte mit Russland hat. György Dalos ist Ungar, lebt aber in Berlin, er hat einfühlsame Romane und preisgekrönte historische Bücher geschrieben, deren Thema auch Russland und die Sowjetunion sind.

Dalos kennt beide aus eigener Anschauung, er hat in den 1960er Jahren Geschichte in Moskau studiert. Und er bleibt auch in seinem neuen Buch dem Imperium treu, gewissermassen – jedoch ist die Perspektive eine ganz andere. Naturgemäss, denn die Russlanddeutschen hatten einen anderen Blick auf das Land, das sie Mitte des 18. Jahrhunderts auf Einladung der Zarin Katharina II. betraten, als dieses umgekehrt auf sich selbst. Das gewaltige Reich brauchte Kolonisten – mit Ausnahme der Juden allerdings, wie es in dem Manifest der Zarin von 1763 hiess –, und arbeitsame deutsche Bauern und Handwerker sollten es vorzugsweise sein. Sie, so erhoffte man es sich, würden kommen, weil ihr vom Siebenjährigen Krieg schwer mitgenommenes Vaterland vielen weder Brot noch Zukunft bot. Sie kamen, brachten ihre Konfession mit – überwiegend waren die Siedler Protestanten –, sie brachten ihre Mundarten mit und die Namen, die sie ihren neuen Heimatorten verliehen: Es waren die der alten Heimat wie Darmstadt, Schaffhausen oder Mannheim.


Katharinas Proklamation

Ihrer Geschichte den Rücken gekehrt

Dalos macht darauf aufmerksam, dass die ausgewanderten Deutschen «ihrer Geschichte den Rücken kehrten» und Teil eines anderen historischen Prozesses wurden. Nicht mehr die Gründung des Deutschen Zollvereins 1829, nicht die Frankfurter Nationalversammlung 1848 hatte Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Ansichten, sondern der Dekabristenaufstand 1825, die Befreiung der russischen Leibeigenen 1861. Als Deutsche betrachteten sie sich dennoch weiter – und wurden von den Russen auch so angesehen, nämlich als fleissige, gut ausgebildete und gut organisierte, ihnen selbst in vielen Belangen überlegene Menschen, die Schlüsselpositionen in St. Petersburg einnahmen – «Deutsche, überall zum Trotze nichts als Deutsche», wie der Publizist Alexander Herzen verzweifelt spottete. Seine Worte galten der deutschen Stadtbevölkerung, die anders als die Kolonisten gut integriert war – zu gut, weil sie nämlich die Russen überflügelte, wie nicht nur der mit deutschen Wurzeln versehene Herzen fand.

György Dalos zeichnet den Weg der Deutschen in Russland von den friedlichen Anfängen über das einigermassen gedeihliche Miteinander im späten 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, als nur noch eine kleine liberale Elite einen Unterschied machte zwischen dem Kriegsgegner Deutschland und «unseren Deutschen». Diesen widerfuhr weithin, wie Dalos schreibt, «offene Diskriminierung und öffentliche Verunglimpfung» – was aber noch nichts war verglichen mit dem, was ihnen unter Stalin bevorstand. Im bolschewistischen Russland, aus dem bald die Sowjetunion wurde, war den Deutschen ihre eigene Republik an der Wolga überlassen worden, eine Tatsache, die heute allenfalls noch nebulös bekannt ist. Zutreffend betitelt Dalos das Kapitel über die Entstehung dieses autonomen Gebiets «Die Geburtswehen einer Republik» – es waren, wie überall in Russland zu dieser Zeit, schmerzliche, erbarmungslose Jahre des Hungers, der Verdächtigung und Verfolgung, des gewaltsamen Todes. Und immer noch sprachen längst nicht alle der Kolonisten Russisch. Ebenso blieben viele tief religiös. Nicht wenige verliessen Russland auch.


Oskar Aul, Auf dem Weg nach Russland

Die jüngste Zeitenwende

Die Nachkommen dieser Menschen kamen nach der Zeitenwende 1989 vermehrt nach Deutschland, nach dem vergeblichen Versuch, die Wolgarepublik wiederherzustellen. Sie kamen vielfach aus Sibirien, wohin Stalin die «unzuverlässigen», als Kollaborateure verdächtigten Deutschen 1941 hatte deportieren lassen. Im Land ihrer Vorfahren trafen sie auf wenig bis gar kein Verständnis. Ihre Muttersprache wurde längst anders gesprochen, als sie es taten, auch ihr Wunsch nach der Pflege ihrer «altmodischen» religiösen Bräuche und ihres Deutschtums traf bei den Deutschen vielfach auf Unverständnis. Die Jungen, die kamen, sehnten sich nach dem goldenen Westen, der jedoch keineswegs auf sie gewartet hatte. Dalos schreibt vom beiderseitigen Gefühl einer Fremdheit.

György Dalos, als ungarischer Jude selbst Angehöriger einer Minderheit, schildert die Geschichte dieser Menschen lakonisch und detailliert, er zeichnet sie erkennbar zugewandt, aber nicht distanzlos. Viele Dokumente, Briefe, Akten, aus denen Dalos zitiert, zeigen das Bild einer unglücklichen, vielfach zerrissenen Minderheit, die letztlich dem Imperium unterlag, das sie einst in anderer Gestalt gerufen hatte. Und das selbst auch, «doktrinär und lebensfremd», wie Dalos betont, am Umgang mit der nationalen Frage scheiterte – auch gegenüber den Russlanddeutschen.

György Dalos: Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Grossen bis zur Gegenwart. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla. C. H. Beck, München 2014. 330 S., Fr. 35.90.


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