Montag, 18. Mai 2015

Putin ist doch kein Stalin.


aus beta.nzz.ch, 15.5.2015, 05:30 Uhr

Gastkommentar zu Russland
Putin ist kein Stalin
Ohne Russlands Aggressionen verharmlosen zu wollen: Es gibt auch das andere, demokratische Russland. 

Von Andreas Kappeler 

Nicht zum ersten Mal veröffentlicht Jörg Himmelreich in dieser Zeitung einen Text, in dem er das Putinsche Russland aus der Tiefe der russischen Geschichte heraus zu erklären sucht. Solche Essays können erhellend sein. Wir Historiker neigen dazu, Kontinuitäten zu betonen, sie aber auch überzustrapazieren. Dabei laufen wir Gefahr, die Geschichte als zwangsläufigen Ablauf von Gesetzmässigkeiten zu verstehen, als Einbahnstrasse ohne Alternativvarianten zu deuten.

Verzerrtes Bild

Einigen Thesen Himmelreichs kann man zustimmen, so der Dominanz patrimonialer Herrschaft und der fehlenden Autonomie der orthodoxen Kirche in Russland.

Manche geben aber ein verzerrtes Bild oder sind schlicht falsch. An den Haaren herbeigezogen ist die Ver- längerung der «Herrschaftspsychologie» zurück bis zu den Normannen/Warägern und dem ersten Herrschafts- verband der alten Rus. Das ist so plausibel, wie wenn wir Angela Merkel im Rückgriff auf Karl den Grossen zu erklären suchten.

Die mittelalterliche Rus war ein loses Konglomerat von Einzelherrschaften, die Fürsten hatten beschränkte Befugnisse, es gab Volksversammlungen und in Nowgorod eine Stadtrepublik ähnlich wie in Italien. Die Fürsten waren nicht «Eigentümer von Grund und Boden und der Bevölkerung», sondern die Mehrheit der Bauern blieb – im Gegensatz zu Mittel- und Westeuropa – bis in die frühe Neuzeit persönlich frei.

Die Geschichte Russlands seit dem 16. Jahrhundert kann man als ständige Ausweitung der Herrschermacht verstehen, der Gesellschaft und Kirche wenig entgegenzusetzen hatten. Allerdings muss auch diese Interpre- tation differenziert werden. Adel und Bauern hatten durchaus Freiräume. Seit dem späten 18. Jahrhundert führten Zarinnen und Zaren Reformen durch, die Russland tiefgreifend veränderten, so dass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem Weg war zum Rechts- und Verfassungsstaat und zur Marktwirtschaft nach westlichem Muster – und im Februar 1917 die bürgerliche Revolution nachholte.

Dass die Bolschewiki diese Entwicklung gewaltsam abblockten, steht auf einem anderen Blatt, ist aber sicher nicht primär auf die Tradition der Moskauer Autokratie zurückzuführen. Geradezu grotesk ist, wenn Himmelreich die Linie bis zur Gegenwart fortführt und von der «altrussischen Konzentration der Macht» und dem «altrussischen Expansionismus» Putins schreibt.

Die «koloniale Expansion» war keine Besonderheit Russlands, sondern folgte dem Muster anderer europäischer Staaten. Es ging zunächst um Landesausbau und die Eroberung dünnbesiedelter Gebiete im Osten, während die westeuropäischen Seemächte die halbe Welt unterwarfen. Als Russland im 18. Jahrhundert nach Westen expandierte, geschah dies im Rahmen der europäischen Kabinettspolitik: Russland war nur eine der drei Mächte, die Polen unter sich aufteilten.

Wenn man sozialpsychologische Erklärungen schätzt, kann man von einer «Bedrohungsneurose» Russlands sprechen. Diese war indes nicht ganz unbegründet. Abgesehen von der Unterwerfung und Zerstörung durch die Mongolen war Russland mehrfach durch Angriffe aus dem Westen existenziell bedroht. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts besetzten polnische Truppen Moskau und setzten einen polnischen Zaren ein, im Jahr 1812 war es Napoleon, der Russland unterwerfen wollte, im 20. Jahrhundert folgte Hitlers Vernichtungskrieg. Russlands Geschichte war nicht nur eine der Expansion, sondern auch eine der Abwehr äusserer Aggressionen.

Ausdruck der inneren Schwäche

Mir liegt es fern, Putins repressives Herrschaftssystem und seine militärische Aggression gegen die Ukraine zu verharmlosen oder gar zu rechtfertigen. Allerdings ist der Vergleich, den Himmelreich mit Stalins Expansionspolitik zieht, überzogen. Putin ist kein Stalin, und die Annexion der Krim hat eine andere Qualität als die Annexion Ostpolens und des Baltikums in den Jahren 1939/40 und die am Ende des Zweiten Weltkriegs folgende Unterwerfung Osteuropas.

Die jetzige militärische Aggression ist Ausdruck der inneren Schwäche. «Ein kleiner siegreicher Krieg», der nach dem Muster des «Grossen Vaterländischen Krieges» gegen «die Faschisten» inszeniert wird und einen Hurrapatriotismus auslöst, soll von den inneren Problemen ablenken. Hier stimme ich Himmelreich zu: Putin geht es nicht primär um die Ukraine und die Eindämmung westlicher Ostexpansion, sondern um den Machterhalt in Russland, den er durch eine erfolgreiche, demokratische und westorientierte Ukraine, die der russischen Gesellschaft als Vorbild dienen könnte, bedroht sieht.

Putins Russland ist nicht mein Russland, das Russland Tolstois, Sacharows und Nemzows. Trotz Repressionen, Verhaftungen und Propagandakrieg ist dieses demokratische Russland bis heute lebendig, wie die Grossdemonstrationen von 2011 und 2012 oder die gegen den Ukraine-Krieg auftretenden Soldatenmütter gezeigt haben. Auch dieses Russland hat Vorläufer in der Geschichte.
Himmelreichs undifferenzierter Artikel fördert eine pauschale Russophobie, die ebenfalls tiefe historische Wurzeln hat. Stattdessen ginge es darum, nicht nur die Ukraine, sondern auch dieses «andere Russland» zu unterstützen. Denn Russland ist nicht zur Despotie verdammt.

Andreas Kappeler ist em. Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.


Nota. - Stalin war nicht zuerst eine Figur der russischen Geschichte, ein roter Zar, in dem sich lediglich die lokale Tradition des Selbstherrschertums fortsetzte. Stalin war eine Figur der Weltgeschichte, der Weltre- volution - indem er zu deren Totengräber wurde. Dass nach der Zerschlagung der Bolschewistischen Partei und nach der Vernichtung aller Reste der revolutionären Arbeiterbewegung die Restauration (gar nicht so) alter autokratischer Traditionen das angezeigte Mittel war, die bürokratische Konterrevolution ideologisch zu verbrämen, ist eine Folge und keine Ursache. 

Stalins totalitäres Terrorsystem war unter den Breschnews und Andropows zu einem feudalbürokratischen Vergeudungs- und Verknappungsregime mit mafiösen Zügen verlottert, das nackten Terror nicht mehr brauchen und auch gar nicht mehr leisten konnte; ein Universum der durchgängigen Korruption auf allen Etagen der Gesellschaft, dem gegenüber die Restauration eines ordentlichen produktiven und dynamischen Kapitalismus das kleinere Übel war: hätte sein können, wenn sie gelungen wäre. Davon konnte in Jelzins abenteuerlichen Wildost aber nicht die Rede sein, Glücksritter und kriminelle Paten warfen sich zu einer Oligarchie auf, die sich die feudalisierten Überreste des pp. Volkseigentums unkontrolliert unter den Nagel riss.

Jelzins Nachfolger konnte eine irgendwie geartete öffentliche Ordnung nur herstellen, wenn er die an die Leine legte. Da rechtsstaatliche Strukturen und demokratische Verfahren nicht gegeben waren, konnte es nur mit unrechtsstaatlichen Mitteln auf undemokratischen Wegen geschehen, und wenn sich Putin immerhin eines rechtsstaatlichen und demokratischen Scheins befleißigte, kann man das fast schon als einen Gewinn ansehen. Aber es ist ein Wurschteln von der Hand in den Mund, ohne Putins persönliches Regiment wäre womöglich nicht einmal die sprichwörtliche Stagnation der Breschnew-Ära wiederzuhaben, geschweige denn ein gesellschaftlicher Aufbruch zu bewerkstelligen. Dass er links und rechts verzweifelt nach jedem erdenklichen Gadget greift, das den Laden für die nächsten paar Wochen zusammenhält und vielleicht an der einen oder andern Stelle sogar ein bisschen Elan mobilisiert, ist ihm nicht zu verdenken, es bleibt ihm ja nichts anderes übrig.

Ich bin ein Putin-Versteher, ja, ich verstehe, dass die Position, in die er sich freiwillig begeben hat, ihn zu einem hochgefährlichen Mann macht, und wenn, wie in der letzten Zeit immer wieder zu hören ist, sein persönlicher Charakter - an Intelligenz fehlt es ihm wohl nicht -  nicht zu den saubersten zählt, können einem ganz schön die Knie zittern, und man muss wünschen, man habe jederzeit ein gutes Sortiment tüchtiger Knüppel zur Hand für den Fall, dass man sie braucht.

Und das wird man mit ziemlicher Sicherheit, denn im Innern Russlands ist einstweilen keine Kraft abzusehen, die etwas Besseres machen könnte als Putin.
JE



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