Montag, 3. August 2015

Selbstoptimieren als Sinngebung.


Apollon, Pierre & Gilles
aus nzz.ch, 3.8.2015, 05:30 Uhr

Interview
«Wir leben in einer Gesellschaft, die nur Sieger sehen will»
Der Arzt, Philosoph und Medizinethiker Giovanni Maio über die selbstverordnete Gesundheitsdiktatur und die Frage, welches Menschenbild dahintersteckt.

Interview von Jenni Roth

Selbstoptimierung greift in unserer Gesellschaft um sich. Warum?

Aus der Einstellung zu sich selbst, die aus dem neoliberalen Denken erwächst, das wir verinnerlicht haben. Durch die Übernahme ökonomistischen Denkens begreift sich der moderne Mensch als Unternehmer seiner selbst und den eigenen Körper als Biokapital, in das er investieren muss. Er wird rastlos, weil er das Gefühl hat, nie genug aus seinem Kapital herausgeholt zu haben.

Aber der Wunsch des Menschen, sich zu verbessern, ist doch nicht neu?

Schon in den achtziger Jahren hat der Philosoph Michel Foucault mit seiner Idee der Gouvernementalität das neoliberale Denken beschrieben, ebenso Jürgen Habermas mit seiner «Kolonialisierung der Lebenswelt» durch ein äusseres System. Aber dieses Denken schlägt erst jetzt voll durch. Viele sehen sich wie eine Aktie, die sie auf der Börse anpreisen, die jeden Tag neu bewertet wird und jederzeit abgesetzt werden kann.
Und wann mache ich mal Pause?

Gar nicht. Es wird uns jeden Tag vorgegaukelt, dass wir noch mehr investieren könnten und nie gut genug sind. Dadurch hören wir nicht mehr auf unsere innere Stimme, sondern auf das, was man von uns erwartet. Es geht nur um die Fassade. Funktionieren kann das nur, weil es mit Slogans wie Eigenverantwortung und Freiheit verkauft wird.



Eine Art Diktatur?

Nicht der Staat etabliert eine Diktatur, sondern der einzelne Mensch versklavt sich selbst. Schliesslich hat ja nicht irgendein Politiker die Selbstoptimierung verordnet. Es ist viel subtiler. Während wir von Freiheit und Menschenwürde sprechen, treten wir durch das Einfallstor zur Selbstentfremdung.

Gehört dazu auch Selbstvermessung?

Es gibt Menschen, die messen morgens als Erstes Lungenfunktion und Herzfrequenz. Bei der Selbstvermessung verbindet sich ein Kontrollimperativ mit einem Optimierungsdrang. Man verbringt seine Zeit damit, den Körper zu maximieren, und vergisst dabei zu leben. Auch das gehört zur Leistungssteigerung, der Körper wird nach Normkriterien modelliert. Dabei geht es nicht um Ästhetik, sondern um den Körper als Symbol der Produktivität.

Aber eine krumme Nase ist doch kein Symbol fehlender Leistungsfähigkeit?


Nein, aber es wird vorgegaukelt, dass man nur über den vermeintlich attraktiven Körper erfolgreich sein kann, und deswegen hecheln alle einem Ideal hinterher, das am Ende keine Attraktivität generiert, sondern bloss Konformität.
Aber das läuft doch dem Trend der individualisierten Gesellschaft entgegen?

Wir modellieren unseren Körper entsprechend den Erwartungen und betonen dabei, dass das unsere Freiheit sei. Aber eines steht über allem: Wehe, du bist erfolglos. Daher suchen wir unablässig nach Anerkennung im Aussen. Weil wir nicht erkennen, dass wir uns einem Konformitätsdruck beugen, glauben wir, besonders individuell zu sein.

Also mitmachen oder aussteigen?

Wir müssten diese Ideologie erkennen und dann gegensteuern. Es gibt Ansätze einer Gegenbewegung, noch sind die aber nicht im Alltag sichtbar. Die Massenmedien berichten kritisch über die Selbstoptimierung, und auch in Expertenkreisen hat sich die Debatte verändert: Die früheren Verteidiger der vermeintlichen Freiheit haben erkannt, dass es gar nicht um Freiheit geht.

Wenn wir alle in diesem ökonomistischen Denken gefangen sind: Welche Rolle spielen die Unternehmen selbst?

Sie haben erkannt, dass sie die Menschen dann zu maximaler Leistung bringen, wenn diese das Wettbewerbsdenken, so weit es geht, internalisieren. Denken Sie an das Plädoyer von Microsoft, die Trennung von «Arbeit» und «privat» aufzugeben und den Arbeitnehmer arbeiten zu lassen, wann er will. Aber eine zu starke Verinnerlichung des Leistungsdruckes führt zu innerer Leere. Je mehr sich der Mensch wie im Hamsterrad bewegt, desto mehr nimmt man Unproduktivität durch Krankheit in Kauf.

Wie finde ich eine Balance zwischen «Ich gebe alles» und «Jetzt reicht's»?

Die Balance zwischen Leistung und Musse kann man nicht verordnen. Die Menschen sollten erkennen, dass jeder unverwechselbar ist und in jedem andere Potenziale schlummern. Und sie sollten selbstbewusster werden. Dabei ist auch die Medizin gefragt: Statt viele Pillen zu verschreiben, sollten die Ärzte besser nachfragen: Sind Sie sicher, dass Sie in diesem Bereich wirklich funktionieren müssen?

Auch Ärzte machen Werbung für Anti-Aging-Produkte . . .

. . . und fördern so die Kultur der Selbstoptimierung – um Profit draus zu schlagen. Stattdessen sollten sie das Gespräch suchen und jenen, die glauben, nur mithilfe von Botox attraktiv zu sein, verdeutlichen, dass Attraktivität von innen entsteht.

Wird nicht mit dem Alter alles besser?

Gerade die älteren Menschen glauben, dass sie nur dann Anerkennung finden, wenn sie als alte Menschen fit sind und leistungsfähig, also so sind wie Menschen im mittleren Lebensalter. Ältere Menschen sind die echten Verlierer, weil sie damit Angst vor der Gebrechlichkeit bekommen und Sorge haben, bald absolut wertlos zu sein. Wir leben in einer gnadenlosen Gesellschaft, die nur Sieger sehen möchte und letzten Endes keine Schwäche duldet.

Giovanni Maio ist Arzt und Philosoph und Professor für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.


Nota. - Das ist mir viel zu flach: Fitnesskult = Neoliberalismus. Erinnert sich niemand, dass die Gesundheitsmystik in den achtziger Jahren mit dem grünalternativen Lebensstil aufgekommen ist? Gesundes Brot, Ying und Yang, Körner und Kräutertee und um Himmels Willen keine Chemie! Sie strickten in Naturwolle, liefen in Birkenstocklatschen und schoben immer ein Fahrrad mit sich rum. - Das waren Leute, die noch ein paar Monate zuvor für den Sieg im Volkskrieg auf die Straße gegangen waren, die internationale Solidarität hochleben ließen und auf ihren Versammlungen die Massenlinie beschworen; und im Morgengrauen standen sie wieder vor den Fabriktoren und verteilten klassenkämpferische Flugblätter. Bis dann der Ruf "endlich mal an mich selber denken!" den Zauber brach und sich alle, vom Druck befreit, bedenkenlos dem zuwenden durften, was ihnen eigentlich immer das Liebste gewesen war: dem Selbst. 

Auf dem Vulkan hatten sie grad mal einen Sommer getanzt, eben genug, um sich wirklich wichtig fühlen zu können: Das war eine nützliche Vorübung; "Wie komm ich mir vor?" hatte obendrüber auf den Transparenten gestanden.

Egozentrik ist seelische Grundverfassung der Angestelltenzivilisation. "Erfolg" brauchen sie ja gar nicht der Konkurrenz wegen, sondern um sich vorzukommen! Denn worin könnte in der Angestelltenwelt Erfolg denn anders bestehen? Was gibt es da denn zu leisten? Gegen den Leistungsterror, gegen den Konsumterror - das war der gleitende Übergang vom antiautoritären Revoluzzertum zu grünalternativer Erhaltung der Schöpfung, sie wollten "wie das Wasser sein" und plapperten wie Bächlein. Aber da ist die Metapher schon am Ende, denn die Bächlein drehen sich nicht um sich selbst.



Der Strudel ist als Bild more fitted. Nicht so tosend wie er hier erscheint, aber saugend, saugend... Im Fitnesskult opfern sie sich auf und geben das Letzte? Ja, aber am Altar des allerhöchsten Selbst.
JE




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