Sonntag, 16. Mai 2021

Brinkhaus will den Neustaat.


aus Tagesspiegel.de, 16. 5. 2021

Unionsfraktionschef dringt auf Modernisierung  
Wir brauchen einen „Neustaat“, damit das Gute bleibt
Zu viele Zuständigkeiten, zu wenig Tempo: Die Coronakrise hat klar gemacht, wo es hakt. Wir müssen den Staat modernisieren – jetzt. Ein Gastbeitrag.
 
von Ralph Brinkhaus
 
... Unsere Staatlichkeit beruht auf Säulen, die zur Zeit ihrer Entstehung modern und innovativ waren. Das gilt für die Verwaltungsreformen von Hardenberg und von Stein aus der Zeit der napoleonischen Befreiungskriege, auf deren Grundlage wir im Wesentlichen bis heute arbeiten. Es gilt aber auch für unsere föderale Ordnung, die 1949 im Grundgesetz festgeschrieben wurde, und die seit 1990 in ganz Deutschland gilt.
 
Wir müssen uns auf vier Bereiche konzentrieren

Das sind Ordnungsprinzipien, die in einer analogen, in einer langsameren Welt dazu beigetragen haben, den Wohlstand unseres Landes zu mehren und es stark zu machen. In der beschleunigten Welt des 21. Jahrhunderts brauchen wir aber eine grundlegende Reform. Nicht nur weil wir bei den Besten sein wollen, sondern weil ich überzeugt bin, dass so das Leben in unserem Land heute und in der Zukunft lebenswerter ist.

Genau jetzt in der Krise ist der Zeitpunkt, Staat und Verwaltung rundum zu erneuern. Wir wollen dabei die unbestrittenen Vorteile der föderalen Ordnung und der kommunalen Selbstverwaltung in das 21. Jahrhundert tragen. Wir wollen aber auch Neues wagen. Gutes bleibt, alles andere muss geändert werden. Diese Krise wäre eine vergeudete Krise, wenn wir nicht daraus lernen. Deshalb müssen wir die Modernisierung unseres Staates auf vier konkrete Bereiche konzentrieren.

I. Strukturen auf den Prüfstand stellen

Zuerst müssen wir die Strukturen, Ebenen, Institutionen und Verantwortlichkeiten unseres Staates kritisch überprüfen: Was ist doppelt, was kann weg, was muss dazu kommen? Das gilt auch für die Wege der Entscheidungsfindung. Unsere Gesellschaft ist auf Konsens ausgelegt. Einvernehmlichkeit fühlt sich befreiend an und dient auch dazu, Verantwortung zu verschleiern.

Wir haben mit Bund, Ländern, Bezirksregierungen, Landkreisen und Gemeinden in manchen Bundesländern bis zu fünf Verwaltungsebenen, die an irgendeiner Stelle mitentscheiden. Das geht oftmals zu langsam – schon in normalen Zeiten. Geld ist oft ausreichend vorhanden, es kommt aber nicht rechtzeitig dort an, wo es am dringendsten gebraucht wird. Bund, Länder und Kommunen sind in diesen Strukturen nicht schnell und nicht effizient genug. Deshalb wollen wir die Strukturen und Entscheidungswege unseres Staates überprüfen und, wo erforderlich, reformieren.

Inventur aller staatlichen Aufgaben

Dazu müssen wir zunächst eine grundlegende Inventur aller staatlichen Aufgaben vornehmen. Die so identifizierten Aufgaben müssen wir dann bewerten. Dabei wird sich dann herausstellen, dass, wie bei jeder Inventur, einiges ausgesondert werden kann. Denn der Staat muss nicht alles regeln, nicht für alles sorgen, nicht für die Bewältigung jedes persönlichen Lebensrisikos verantwortlich sein.

Die verbleibenden Aufgaben des Staates und die zugrundeliegenden Prozesse müssen dann klar den föderalen Ebenen des Staates unter Einbeziehung der Kommunen zugeordnet werden. So vermeiden wir Doppelstrukturen und unklare Verantwortlichkeit. Jede staatliche Ebene braucht außerdem die Mittel, um ihre Aufgaben optimal erfüllen zu können. Deshalb müssen wir den Finanzbedarf für die Erfüllung der Aufgaben feststellen. Jede föderale Ebene hat dann ihre ureigenen Aufgaben, ihren Finanzbedarf und ihre eigenen Steuern, um diesen Finanzbedarf zu decken. Der mittlerweile völlig intransparente Verschiebebahnhof im Finanzverhältnis zwischen Bund, Ländern und Kommunen wäre damit Vergangenheit.

II. Verwaltungshandeln modernisieren und beschleunigen

Alles in allem hat unsere Verwaltung auch in der Krise überwiegend gut funktioniert. Gleichzeitig hat die Krise aber auch wie ein Brennglas klaren Handlungsbedarf offengelegt: Wenn der Staat von privaten Arbeitgebern Homeoffice für alle verlangt, aber in Ländern wie Berlin nur ein Bruchteil der Mitarbeiter überhaupt über Dienstlaptops verfügt. Wenn Senioren in ihrem Bundesland einen Impftermin buchen wollen, aber selbst mit Unterstützung der Enkel an Warteschleifen und abstürzenden Internetseiten scheitern.

Verfahren entschlacken und beschleunigen

Deshalb müssen wir die Gewissheiten des Verwaltungshandelns einer umfassenden Überprüfung unterziehen. Hierarchien, Entscheidungsabläufe, Schriftgutverwaltung, Vergabewesen müssen wir zeitgemäß weiterentwickeln. Planungs- und Genehmigungsverfahren müssen wir konsequent entschlacken und dann beschleunigen.

Ein Beispiel: Die Bedeutung des Hamburger Hafens für Stadt und Region, aber auch als wirtschaftliche Lebensader für uns als Exportnation ist kaum zu überschätzen. Die Schiffe werden immer größer, müssen den Hafen aber auch erreichen können. Dafür muss die Elbe regelmäßig ausgebaggert werden. 2019 wurde mit der letzten Vertiefung begonnen, nach 17 Jahren Planung und Auseinandersetzung mit den Gegnern. Abgeschlossen wurde sie dann im März 2021, nach knapp 20 Jahren. Das funktioniert so nicht.

Anderes Beispiel: In der Nähe des Wirtschaftsministeriums in Berlin-Mitte steht eine Kita, davor sollte ein Zebrastreifen gemalt werden. Im Januar 2017 bejahte der Berliner Senat die Erforderlichkeit. Fertiggestellt wurde der Zebrastreifen im Sommer 2020: dreieinhalb Jahre und 18 Verwaltungsvorgänge für etwas Farbe auf Asphalt.

Das ist keine Kritik an den Mitarbeitern der Verwaltung: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst machen einen guten Job und haben sich in der Krise als zuverlässige Kraft erwiesen. Gleichwohl wissen viele von uns, wie Verwaltungsstrukturen auch gute Ideen ausbremsen und notwendige Initiativen im Sande verlaufen lassen. Wir brauchen mehr Raum für neue, agile Arbeitsweisen und -methoden in der Verwaltung. Die Expertise von Seiteneinsteigern müssen wir nutzen und den Wechsel von der Wirtschaft in die Verwaltung und zurück Realität werden lassen.

III. Unseren Staat grundständig digitalisieren

Bund, Länder und viele Kommunen haben in den vergangenen Jahren intensiv am Fundament für eine umfassende Digitalisierung gearbeitet. Aber gerade in der Krise wäre es gut gewesen, wenn wir schneller und schon weiter gewesen wären.

In der Vergangenheit haben wir bei der Digitalisierung zu oft auf Goldrandlösungen gesetzt. Diese gingen an den echten Bedarfen vorbei und haben sich nicht durchgesetzt: der digitale Personalausweis, das Projekt De-Mail. Kennen Sie jemanden, der diese Verfahren im Privaten nutzt? Ich nicht. Das sollte uns zu denken geben.

Weitere Beispiele: Es gibt weder ein zentrales Grundbuch für Deutschland noch ein zentrales Melderegister. Die aktuelle Koalition aus Union und SPD hat im Bereich Registermodernisierung und Onlinezugangsgesetz sicherlich einiges auf den Weg gebracht, was viele Jahre liegen geblieben ist.

Online-Banking geht schon längst, Online-Autoanmelden nicht

Wir können uns bei der Digitalisierung keine weiteren Verzögerungen leisten. Meine Zielvorstellung für das Modernisierungsjahrzehnt der 20er Jahre ist die Digitalisierung aller wesentlichen Verwaltungsdienstleistungen. Die Verwaltung muss jeden Bürger digital mit den notwendigen Dienstleistungen versorgen können: für jede Generation. Zu jederzeit und an jedem Ort. Sicher, benutzerfreundlich und barrierefrei. Oder können Sie erklären, warum Online-Banking auch mit größeren Summen möglich ist, die Zulassung von Kraftfahrzeugen aber nicht überall von zu Hause aus digital erfolgen kann?

Dabei müssen wir die Themen Datenschutz und Cybersicherheit neu denken: Den Datenschutz müssen wir entschlacken. Im Kern muss die Frage stehen, wie wir Daten für bessere Dienstleistungen nutzen können. Gleichzeitig müssen wir bei der Cybersicherheit zulegen, um staatliche und private Infrastrukturen zu schützen. Es gibt Feinde der Demokratie im Inneren und im Äußeren: Hier müssen wir eine wehrhafte Demokratie sein.

IV. Bevölkerungsschutz stärken

Die Fähigkeiten von Bund und Ländern im Bevölkerungsschutz müssen wir besser verknüpfen und deutlich stärken. Dafür sollten wir die Lektionen aus der Coronakrise systematisch erheben und kritisch reflektieren.

Gefahren für die Bevölkerung können im Cyberraum, durch Klimawandel, durch Überschwemmungen oder im Gesundheitsbereich entstehen. Die nächste große Krise kommt vielleicht erst in 20, vielleicht aber schon in zwei Jahren.

Wir müssen vorbereitet sein. Wir müssen den Staat so aufstellen, dass er für unvorhergesehene Katastrophen gewappnet ist. Im Bund müssen wir eine zentrale Schaltstelle schaffen. Wir müssen Krisen üben, Automatismen schaffen. Hier muss das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) künftig eine stärkere Rolle spielen. Die von Bundesinnenminister Seehofer und dem Präsidenten des BBK Armin Schuster vorgeschlagenen Reformideen sind richtig und müssen zügig umgesetzt werden.

Stehende Katastrophenstäbe, mehr Übungen, bessere Vernetzung

So wie unsere Bundeswehr im Kalten Krieg gut ausgebildet und mit einer starken Reserve ausgestattet in ständiger Bereitschaft war, so müssen wir jetzt die Strukturen zum Schutz der Bevölkerung aufstellen. Auf regionaler Ebene haben wir gut funktionierende Strukturen im Katastrophenschutz, ob durch Feuerwehr, THW oder andere ehrenamtliche Hilfsdienste. Diese sind gut geschult, vernetzt und vor allem tun sie eins: üben, üben, üben.

Das brauchen wir auch auf Bundesebene. Stehende Katastrophenstäbe, mehr Übungen und eine bessere Vernetzung. Und wir bräuchten neben den sehr gut arbeitenden Hilfsorganisationen eine zivile Reserve. Männer und Frauen zum Beispiel mit Verwaltungshintergrund, die bereit sind, in der Pandemie im Gesundheitsamt administrative Aufgaben zu übernehmen.

Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern genauer ansehen

Die verfassungsrechtlichen Kategorien für den Krisenfall entstammen einer Zeit, in der militärische Auseinandersetzungen die wahrscheinlichsten Krisenauslöser waren. Jetzt aber müssen wir uns für aktuelle Krisen wappnen. Zum Beispiel sollten wir uns Artikel 35 des Grundgesetzes, der die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Krise regelt, genauer ansehen. Wir müssen in der Lage sein, im Krisenfall schnellstmöglich Kräfte überall dort in Deutschland einzusetzen, wo es erforderlich ist. Hier müssen wir klare Strukturen und eindeutige Abstimmungswege zwischen Bund, Ländern und Kommunen schaffen.

Ausblick

Diese vier Schritte für eine Modernisierung des Staates sind erste Lehren aus der Pandemie. Wir stehen am Anfang eines Modernisierungsjahrzehnts. Wir sollten die Krisenfestigkeit unseres Landes stärken und ausbauen. Da gibt es noch sehr viel zu tun, wir müssen jetzt anfangen. Und zwar gemeinsam. Die umfassende Modernisierung unseres Staatswesens ist eine Herkulesaufgabe und sie braucht politische Führung und Entschlossenheit. Dazu müssen die Verantwortlichen in Bund und Ländern zusammenwirken und erkennen, dass wir jetzt einen Sprung nach vorne machen können.

Ohne die Länder und Kommunen geht es nicht, das wird in manch hitziger Debatte vergessen. Der Bund kann und will die Verwaltungen in Städten und Kommunen nicht per Anordnung modernisieren, er kann aber den Impuls geben und vorangehen. Diese Reform wird nur mit den Menschen gelingen: mit den vielen Ideen und Erfahrungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst selbst und mit der Kreativität aller anderen Bürgerinnen und Bürger.

Brauchen wir die ganzen Gesetze?

Wir neigen in Deutschland dazu, viel zu regeln. Viele sind davon überzeugt, dass sich mit Gesetzen die Wirklichkeit verändert. Im Bundestag steht in dieser Legislaturperiode noch eine hohe zweistellige Anzahl von Gesetzen zur Beratung an – in nur drei Sitzungswochen. Brauchen wir wirklich jedes dieser Gesetze? Die Wirklichkeit verändert sich nicht durch ein Gesetz, das im Bundesgesetzblatt steht, nicht durch Geld, das im Bundeshaushalt zur Verfügung steht. Es verändert sich etwas durch Machen, Tun, Handeln. Wir brauchen einen anderen Geist in unserem Land. Der Staat, das sind nicht „die da oben“ – der Staat ist das organisierte „Wir“. Der Staat ist unsere Gemeinschaft, die uns alle angeht.

Wir brauchen Mut, etwas zu wagen. Mut etwas anders zu machen als bisher. Mut, neue Wege zu gehen. Dabei werden auch Fehler passieren. Und das ist auch gut so, denn die Angst vor der Fehlervermeidung lähmt unser Land an zu vielen Stellen.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin der festen Überzeugung, dass Deutschland trotz der von mir kritisierten Unzulänglichkeiten ein sehr gutes, in einigen Bereichen sogar ein herausragendes Land ist. Aber wir brauchen einen „Neustaat“, damit das Gute bleibt. Nicht morgen oder übermorgen, sondern jetzt.

 

Nota. - Eine grundlegende Staatsreform?! - Na ja, das reißt einem alles nicht grade die Schuhe von den Füßen, jedenfalls nicht, solange man jedes für sich nimmt. Aber jedes für sich - das ginge gar nicht: Das könnte Jahrzehnte dauern, dafür die jeweils erforderliche Mehrheit zu finden; und davon, es dann auch noch bis in die Verwaltungen hinein durchzusetzen, gar nicht zu reden... Das geht nur als Gesamtpaket, das nicht mit je nach Wahlperiode neu zusammen-zusetzenden Koalitionen, sondern nur von einer strategischen Allianz durchzusetzen wäre, und nicht als wechselhafte Schnittmenge von konkurrierenden Wahlkämpfern, sondern als bindendes Programm - und dies nicht bloß, weil gelegentlich Zweidrittelmehrheiten erfor-derlich würden.

Das ist zwar noch meilenweit entfernt von der Radikalen Mitte, die ich zu propagieren nicht müde werde. Aber es ist doch, wenn ich's recht übersehe, ein ernstliches Novum in der deut-schen Politik. Ob er sich der Tagweite bewusst ist? Wenn nicht, wäre es Zeit, dass er's wird.

JE

 

 

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