Sonntag, 30. Mai 2021

Gibt es sie denn, die neue Mittelklasse?

  Prenzlauer Berg, Straßenszene

aus FAZ.NET, 29. 5. 2021                                                    

Neue Mittelklasse? Das wären ja wir!
Gibt es eine neue Mittelklasse in unserer Gesellschaft? Ein deutscher Soziologe wirft seinen Kollegen vor, die Augen vor den Realitäten der Gegenwartsgesell-schaft zu verschließen.
 
Von Gerald Wagner

Gibt es in der deutschen Soziologie einen „Abwehrreflex“ gegen die neue Mittelklasse? Der Berliner Kultursoziologe Andreas Reckwitz hat diesen Vorwurf jetzt in einem Beitrag der Zeitschrift Leviathan* erhoben, die dem Thema der „gespaltenen Gesellschaft“ ihr aktuelles Heft widmet. Reckwitz antwortet dort seinerseits auf den Vorwurf von Nils Kumkar und Uwe Schimank, dass seine Diagnose einer „Spätmoderne“ mit einer in drei Klassen geteilten Ge-sellschaft falsch sei. Genauer: dass Reckwitz’ Thesen einer empirischen Überprüfung nicht standhalten, weil die Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft viel komplexer sei, als Reckwitz es darstelle.

Der so Angegriffene reagiert auf die übliche Weise: Viel Lob für die Einlassungen der Kritiker, aber im Kern habe man ihn missverstanden. Reckwitz schließt seinen Beitrag mit der ironi-schen Bemerkung, man sei das ja von der deutschen Soziologie gewöhnt: dass man dort auf Widerstände stöße, wenn man die Existenz einer neuen und kulturell dominanten Mittel-schicht behaupte. Widerstände, die eben „nicht nur sachliche Gründe“ hätten. Reckwitz nimmt hier seine beiden Kontrahenten ausdrücklich aus, aber er unterstellt, dass sich „nicht wenige andere in der Zunft“ lieber ahnungslos stellten, als die Existenz einer neuen Mittel-klasse ernsthaft zu diskutieren. Leicht könne man diese Abwehr aber nicht nehmen, so Reckwitz. Die Sache sei zu ernst, immerhin stehe damit nicht weniger als die Fähigkeit der Soziologie auf dem Spiel, „die Gegenwartsgesellschaft zu begreifen“. Und zwar „ganz ohne Scheuklappen hinsichtlich dessen, wie man es gern hätte“. Was Reckwitz hier eigentlich meint, sind aber wohl die Scheuklappen davor, wie man die Gesellschaft nicht gern hätte.

Ist „Prenzlauer-Berg-Soziologie“ unanständig?

Reckwitz unterstellt der deutschen Soziologie recht pauschal, ihre empirischen Interessen von ihren sozialkritischen Motiven leiten zu lassen. „Sozialstruktur heißt im Kern Ungleichheits-analyse.“ Man schaue bevorzugt „in die unteren Etagen der Gesellschaft“, um dann nach den eigenen Maßstäben sozialer Gerechtigkeit diese Ungleichheit beklagen zu können. Sich statt-dessen so wie er, Reckwitz, mit der neuen Mittelklasse der Modernisierungsgewinner und de-ren „vermeintlichen Selbstverwirklichungsproblemen“ zu beschäftigen, erscheine dann „gera-dezu frivol“. Ist „Prenzlauer-Berg-Soziologie“ (so Reckwitz’ ironische Selbstetikettierung) un-anständig, solange noch an deutschen Schulen Migrantenkinder schlechtere Noten bekom-men? Man muss sich aber (trotzdem) mit den Gewinnern beschäftigen, so Reckwitz trotzig, weil man sonst die heutige Gesellschaft gar nicht mehr verstehe.

Aber Reckwitz geht noch weiter: Die analytischen Berührungsängste gegenüber der neuen Mittelklasse lägen an einem „unterschwelligen politischen Unbehagen“ gegenüber diesen „politisch unsicheren Kantonisten“. Ihre Angehörigen fügten sich nicht mehr in die übliche „Links-rechts-Unterscheidung“. Zudem sei die neue Mittelklasse gesellschaftlich einflussreich bis fast zur „Hegemonie“. Man weiß nicht so recht, ob das eine „gute oder schlechte Hege-monie“ sei, da scheint es tatsächlich nahezuliegen, diese Klasse erst mal zu ignorieren. Seine Diagnose zwänge die Soziologie aber zu einer „unbehaglichen Selbstbeobachtung“. Denn nehme man „in seinem privaten Leben“ als privilegierter Akademiker nicht „unterschwellig an jenen sozialen Schließungstendenzen“ teil, welche die neue Mittelklasse charakterisierten? Hat Reckwitz also die deutschen Soziologen dabei ertappt, in ihrer Forschung etwa die schulischen Nachteile von Migrantenkindern anzuprangern, den eigenen Nachwuchs aber doch lieber auf die Waldorf-Schule zu schicken? Das ist natürlich „peinlich“, so Reckwitz, darum scheint für manche Kollegen zu gelten: „Die neue Mittelklasse, das sind immer die anderen.“

Der Frage nach der kulturellen Dominanz einer Klasse, der man selbst angehört, möchte man lieber ausweichen, so Reckwitz. Sich einzugestehen, man gehöre zu den „Globalisierungsge-winnern“, obwohl man sich als Soziologe doch lieber mit den Verlierern solidarisch erklärt, könne bis zur „Selbstbeschämung“ führen.

Man könnte Reckwitz’ schneidende Kritik an der deutschen Soziologie fast als Aufforderung zum Fremdschämen lesen: Die Gesellschaft provoziere sie gern, sich selbst aber beim schönen und guten Leben in den Vierteln der Gewinnerklasse zu ertappen führe zum klammheimli-chen Verrat an den eigenen wissenschaftlichen Grundsätzen der Neutralität und Wertfreiheit. Klar ist: Das Phänomen der neuen Mittelklasse ist ein „umstrittenes Feld, ein vermintes, ein politisiertes Gelände, in dem deutlich mehr als nur wissenschaftliche Neugierde und Wahr-heitssuche“ verhandelt werden.

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