Mittwoch, 18. September 2013

Und alle wollen ihr Bestes.

aus Badische Zeitung, 18. 9. 2013                                                                       Rauf oder runter?

Ist die Mittelschicht so begehrt, dass sie zerrieben wird?  

Die gesellschaftliche Mitte – Mittelstand und Mittelschicht – fühlt sich bedroht. Hat sie in der Politik noch Verbündete? 

Eine Analyse von BZ-Redakteur Alexander Dick.  

Bezeichnenderweise war der Mann ein Epikureer: einer, der, wie es sein Vorbild Epikur lehrte, nach Glückseligkeit strebte – nach Vermeidung von Unlust und Gewinn von Lust. Und so suchte der römische Philosoph Lukrez in seinem Hauptwerk "De rerum natura" (Über die Natur der Dinge") vor rund 2000 Jahren das Streben nach der Mitte als Fiktion, als "Wahn" zu enthüllen: "Doch selbst gäb’ es die Mitte, warum denn sollte man glauben,/ Dass nun grad’ in die Mitte sich irgendein Körperchen drängte." 

Phantom Mitte?

Sicher nicht. Doch lebte Lukrez heute, womöglich würde er seine Zweifel an der Mitte, freilich der gesellschaftlichen, umkehren. In der Form, dass sich nun grad’ in die Mitte ganz viele Körperchen drängten… Oder, wie es nicht wenige formulieren – diese bedrängen. Anders gesagt: Sie ist begehrt, die gesellschaftliche Mitte. Von allen Seiten. Denn noch immer weiß man, welches Gewicht hinter ihr steckt. Welche soziologische, wirtschaftliche, demokratietragende Potenz. Und sie ist bedroht, fühlt sich bedroht. Denn Potenz weckt Begehrlichkeiten, erst recht in Zeiten des Wahlkampfes.



Aber auch darüber hinaus. Denn wo viele kleine Vermögen zu finden sind und das Gros derer, die zum Bruttosozialprodukt beitragen, lässt sich immer noch etwas herauspressen. Vor allen Dingen leichter als bei jenen ganz Saturierten, deren Vermögen oft außer Reichweite für die Staatsmacht liegen. Was in der jüngeren Vergangenheit immer mehr Unmut und Widerstand geweckt hat. "Unten ist nichts mehr zu holen, und oben sind es wenige", umreißt der Journalist Marc Beise die These seines Buchs "Die Ausplünderung der Mittelschicht. Alternativen zur aktuellen Politik" (München 2009). "Also muss mal wieder die Mittelschicht ran. Unter den stetig wachsenden Belastungen wird sie immer mehr zerrieben." Ein Gefühl, das viele beschleicht, wenn sie auf die Abzüge auf ihren Gehaltszetteln blicken und gleichzeitig immer wieder hören müssen, was dem Staat die Rettung jener Banken wert ist – sein muss –, die auch mit den Vermögen aus der Mitte ihre Geschäfte mach(t)en.

Eine Zäsur tut not. 


Wenn hier pauschal von der Mitte die Rede ist, dann erstens, weil der Begriff etwas Diffuses meint, was sich schwer konkretisieren lässt. Die Abgrenzungen nach oben und unten sind äußerst fließend, fransen aus, eine Definition existiert nicht. Zweitens entsteht immer wieder Begriffsverwirrung um die Termini "Mittelstand" und "Mittelschicht". Nach heutigem Gebrauch meint der erste die Unternehmen und Handwerksbetriebe unterhalb der Großindustrie. Aber immer auch noch – soziologisch – das, was unter dem zweiten, jüngeren Begriff subsumiert ist: die Mittelschicht, jene Bevölkerungsgruppen, "die in der sozialen Schichtung der Gesellschaft eine Mittellage einnehmen", wie es ein Politiklexikon noch in den 1970ern formulierte. In jener Zeit also, die heute vielen als die Blütezeit von Mittelstand und Mittelschicht gilt. Weil sich die wirtschaftliche und soziale Lage auch bei Arbeitern und Angestellten dank gezielter Mittelstandspolitik so verbesserte, dass eine ideologische Begründung der einzelnen Positionen immer mehr obsolet wurde: Die angestrebte goldene Mitte zwischen Proletariat und den ganz Reichen war auch durch staatliche Unterstützung gefestigt, die Ränder schrumpften. Womit das alte Selbstverständnis des Mittelstandes von einer tragenden Rolle für das Gemeinwesen unterstrichen wurde: widergespiegelt in Ralf Dahrendorfs Schichtenmodell, der berühmten "Zwiebel", die mit ihrer gewaltigen Mitte und den beiden Spitzen oben und unten zum Sinnbild für den gesellschaftlichen Proporz der alten Bundesrepublik wurde.

Das ist fast 50 Jahre her. 


In der Zwischenzeit finanzierte die Mittelschicht einen nicht geringen Teil der Wiedervereinigung, überstand die Wirtschaftskrisen des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts ebenso wie die (notwendigen) Reformen der Agenda 2010 und sieht sich seither mit einer Finanzkrise konfrontiert, deren Kosten noch immer nicht abschätzbar sind, ebenso wenig wie die Konsequenzen für den gesellschaftlichen Wohlstand. Und obwohl dieser laut vielen Studien in weiten Teilen der Gesellschaft so groß ist wie noch nie in der Geschichte dieses Landes, bleibt dieses Unbehagen. "Sparen fürs Alter", schreibt Beise, "nachhaltig vorsorgen, uns und den Kindern etwas aufbauen – all das, was für Menschen wie uns einst normal war und die Gesellschaft stabilisierte, das können wir nicht mehr." Den gefühlten Schrumpfungsprozess unterstreichen Zahlen. Das mittlere Bruttovermögen im Land ist im vergangenen Jahr um ein Viertel eingebrochen, im internationalen Vergleich rangiert die deutsche Mittelschicht mit 42 000 Dollar pro Kopf nur noch auf Platz 23. Hinter Spanien, Italien, Frankreich. Zum Vergleich: Beim Klassenprimus Australien schlagen 193 000 Dollar zu Buche.

Den großen Parteien sollte das Unbehagen von Mittelstand und Mittelschicht selbst ein solches im Wahlkampf bereiten. Und tatsächlich machen sie der Mitte ihre Aufwartung, aber es wirkt oft genug seltsam indifferent, hilflos. Wenig überraschend konstatiert die SPD in ihrem Wahlprogramm die Krise der Mittelschicht als Konsequenz der immer weiter auseinander gehenden Schere zwischen Arm und Reich: "Nicht nur Besitz und Einkommen sind immer ungleicher verteilt, sondern auch Zugänge zu Bildung, Gesundheit, Mobilität und Kultur. Die Armut wächst ebenso wie der Reichtum – die Mittelschicht kommt unter Druck." Die CDU bekräftigt ebenso naturgemäß das Bekenntnis zu ihrer Klientel, zum Mittelstand als "Rückgrat unserer Wirtschaft und einer der Garanten für unseren Wohlstand". Und setzt auf ein Rezept, mit dem Schwarz-Gelb in dieser Legislaturperiode an der rot-grünen Mehrheit im Bundesrat scheiterte: "Leistung muss sich lohnen. Wir wollen deshalb die Leistungsträger in der Mitte unserer Gesellschaft weiter entlasten. Dazu wollen wir die sogenannte kalte Progression abbauen." Also das Missverhältnis zwischen Preissteigerungen und Einkommenssteuersätzen. Die FDP fordert eine Steuerentlastung des Mittelstandes, Fernziel: Abschaffung der Gewerbesteuer.

In einer schwierigen Position befinden sich die Grünen, weil sich in ihrem Verhältnis zur Mittelschicht der alte Konflikt zwischen Fundis und Realos widerspiegelt. Für die einen ist der Bürger der aufgeblasene, feiste Bourgeois. Für die anderen der aufgeklärte Citoyen. Erwiesen ist, dass es ein bürgerliches Lager war, das der Partei zum Wahlsieg in Baden-Württemberg verhalf. Umstrittener dagegen ist die Frage, ob das Bürgertum zunehmend grün wird. Der Soziologe Manfred Güllner, Mitbegründer des Forsa-Meinungsforschungsinstituts, bestreitet dies nachvollziehbar und unterstellt den Medien, mit der "grünen Brille" zu agieren. Auffallend ist gleichwohl das Schielen in manchen Teilen der Partei in Richtung Mitte. Co-Spitzenkandidat Jürgen Trittin gab früh im Wahljahr die Devise aus, man wolle den Citoyen nicht allein dem konservativen Lager überlassen.

Das Schielen der Parteien in Richtung Mitte erfolgt also unter unterschiedlichen Vorzeichen. Und mit einer spürbaren Tendenz ins Unkonkrete. Offensichtlich lässt sich Mitte weit weniger klar umreißen wie noch vor wenigen Jahrzehnten– auch im Hinblick auf die politisch-soziale Gesinnung und die Bindungen an Parteien. Nicht selten formieren sich starke Protestbewegungen aus der Mitte heraus – nicht von unten: Zum Beispiel Stuttgart 21, Freie Wähler in Bayern, "Alternative für Deutschland", die indes am rechten Rand kontaminiert ist.

Es ist vor allem das Gespenst des Wutbürgers, das Politikern Sorgen bereitet. Da ist etwas unberechenbar geworden, was als Fundament eines funktionierenden Gemeinwesens galt. Was würde in Deutschland passieren, wenn die wirtschaftliche Situation sich jener in den südeuropäischen Staaten annäherte, Ländern, wo der Mittelstand weniger ausgeprägt, weniger mächtig ist? Neigt die Mitte hierzulande zur Explosion oder zur Implosion, wenn es um die Sicherung ihrer Existenz geht? Und was bedeutet das für die Zukunft des Bürgerstaats Deutschland, in dessen östlichem Teil schon mal vier Jahrzehnte konsequente Entmachtung des Bürgertums praktiziert wurde? Viele Fragen, Ängste. Sicher ist: Sie lassen sich nicht allein durch eine florierende Wirtschaft entkräften. Dazu bedarf es eines moralischen Unterbaus, der dem Gesellschaftsvertrag neuen Antrieb gibt. Wenn die Politik es zulässt, dass die Entwicklung immer mehr zu den Rändern strebt, wird sie eine andere Natur der Dinge in Kauf nehmen müssen. 



Nota.

Das wahre Problem der mittleren Schichten in unserer Gesellschaft heißt digitale Revolution. Die klassische Mittelschicht der kleinen Bürger, der Handwerker und Einzelhändler mit etwas eigenem Kapital, ist seit den fünfziger Jahren rapide geschrumpft, aber gerade ihnen bietet die digitale Revolution mit ihrer umfassenden Erübrigung menschlicher Arbeitskraft eine neue Aussicht. Der eigentliche Leidtragende der Digitalisierung dürfte eher das - inzwischen nicht mehr ganz zu Recht so genannte - Bildungsbürgertum sein. 

Nicht die Arbeiterschaft wohlbemerkt: Die wird restlos überflüssig. Wer nicht den zweifelhaften Aufstieg in die neuen Formen der Scheinselbständigkeit, ins Neue  Prekariat der digitalen Dienstleistungen schafft, wird gar keine (entlohnte) Arbeit mehr finden. Sie werden zu einem Proletariat wie im alten Rom, vom Staat mit Brot und Spielen ausgehalten und allenfalls, aber nicht zu sehr, zum Zeugen von Nachwuchs brauchbar.

Da werden sie sich mit einer großen - der größeren? - Zahl der bisherigen Bildungsbürger treffen. Der Staatsdienst, dessen Tätigkeit, wenn man sie so nennen will, im Verwalten, im bloßen Vermitteln  besteht, wird durch die Rechner ersetzt werden, so wie die Arbeiter durch die robotisierten Maschinen. Noch überflüssiger dürften die Leitenden Beamten werden, die einstweilen noch zwischen den nachdeordneten Vermittlern vermitteln, aber deren Widerstandskaft ist erheblich und reicht ganz weit bis in die Parlamente. Die werden sich in ihren Türmen einmauern, aber unter ihnen wirds ein Hauen und Stechen geben (während man sich bislang mit Tritten gegens Schienbein begnügte).

Und die Bildungsbürger im engeren Sinn, die Akademiker? Die werden zur Sauce bolognaise eingekocht, weiterhin ganz gut besoldet zwar, aber in feudale Botmäßigkeit gezwängt, die umso schwerer drückt, als sie anonym und gesichtslos ist. Sie werden die karrierebeflissensten, anpassungsbereitesten und subalternsten Elemente aus den andern digital freigesetzen Berufsgruppen aufnehmen müssen, welch ein Gräuel!

Die digitale Revolution, die im Prinzip das Gros der Gesellschaft von der Arbeit für fremdbestimmte Zwecke entlasten und für zweckfreie Tätigkeiten um der bloßen Schönheit willen freisetzen könnte, beschwört die Horrovision einer Totalen Bürokratie in einer Brave New World herauf.

Natürlich muss es nicht so kommen, dafür sind die Zeichen schon viel zu sichtbar. Und es gab auch schon eine Partei, die die digitale Revolution zu ihrem Kernthema erklärt hat. Und die sogar schon die richtige Fährte gefunden hat, in welcher Richtung die Lösung zu suchen ist. Aber hat nichts draus gemacht. Soll man ihr noch eine Chance geben? Am kommenden Sonntag können Sie darüber abstimmen.
J.E.




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