aus Der Standard, Wien, 27. Mai 2017, 14:00 George Marshall, M., und Harry S. Truman, 2. v. l.
Marshallplan: Die Geburt des Westens
Der
vor 70 Jahren initiierte Marshallplan war nicht nur ein ungemein
erfolgreiches Wiederaufbauprogramm für Europa, sondern schuf die
Grundlage für eine neue Weltordnung – die US-Präsident Donald Trump nun
bedroht
Essay von
Es war eine kurze, nüchterne Rede, die US-Außenminister
George Marshall am 5. Juni 1947 an der Harvard University hielt. In
zwölf Minuten beschrieb er das wirtschaftliche Elend in Europa und
schlug eine konzertierte Hilfe der US-Regierung vor, vor allem, um den
dramatischen Mangel an Devisen für den Import lebenswichtiger Güter zu
finanzieren. "Es ist logisch, dass die Vereinigten Staaten alles in
ihrer Macht Stehende tun sollen, um bei der Wiederherstellung einer
normalen wirtschaftlichen Gesundheit zu helfen, ohne die es keine
politische Stabilität und keinen Frieden geben kann."
Aus diesen Worten erwuchs innerhalb weniger Monate das größte und erfolgreichste internationale Hilfsprogramm der Geschichte. Der Marshallplan dient bis heute als Vorbild für alle größeren internationalen Hilfsinitiativen, von denen allerdings keine ihm auch nur nahekommen konnte. Die – je nach Rechnung – 13 bis 16 Milliarden Dollar, die von 1948 bis 1952 nach Europa flossen, machten rund 2,5 Prozent des amerikanischen BIPs aus – eine heute unvorstellbar hohe Summe. Dazu kamen vergleichbare Gelder für Japan. Jeder einzelne Amerikaner zahlte jahrelang höhere Steuern, um Verbündeten und früheren Feinden aus ihrer Misere zu helfen. Der Marshallplan wirkte aber nicht nur wegen dieser Großzügigkeit und seiner umfassenden wirtschaftspolitischen Auflagen, sondern auch, weil die europäische Wirtschaft hochentwickelt und im Kern gesund war. Sie musste nur wieder in Gang gebracht werden.
Bei der Entstehung dabei
Was Marshall und die Regierung von Präsident Harry Truman damals taten, war allerdings mehr als nur ein wirtschaftliches Projekt. Der Marshallplan war die Grundlage für die Schaffung einer Staatengemeinschaft, die ähnlichen politischen und wirtschaftlichen Werten verpflichtet ist und diese in alle Welt hinaustragen will. Marshalls Rede vor 70 Jahren war die Geburtsstunde dessen, was bis heute der Westen genannt wird. Present at the Creation ("Bei der Entstehung dabei") hat Marshalls damaliger Vertrauter und Nachfolger Dean Acheson, der eigentliche Architekt des Marshallplanes, seine Autobiografie bezeichnenderweise genannt.
Alle Elemente dieser liberalen internationalen Weltordnung waren in seiner Rede enthalten: das Bekenntnis zu Frieden, Demokratie, Marktwirtschaft, freiem Handel und gegenseitiger Solidarität. Nicht Wettbewerb, sondern Kooperation sei das wichtigste Ziel jeder Außen- und Wirtschaftspolitik, das Wohlergehen eines Staates hänge von dem der anderen ab. Diese Gemeinschaft stehe allen Ländern offen, die sich zu den gemeinsamen Werten bekennen; selbst die Sowjetunion war von Marshalls Vorhaben nicht ausgeschlossen. Aber eines stellte er klar: Die Welt brauche eine starke Führung, die mangels Alternative von den USA ausgehen müsse.
Welch ein Kontrast zur 15-Minuten-Rede, die US-Präsident Donald Trump bei seiner Angelobung am 20. Jänner 2017 hielt: Sein "Amerika zuerst"-Appell signalisierte das mögliche Ende jener Ära, die Marshall einst eingeleitet hatte. Seither beobachtet die ganze Welt mit Misstrauen und Sorge, ob Marshalls Visionen oder diejenige von Trumps strategischem Berater Stephen Bannon die amerikanische Politik der kommenden Jahre bestimmen wird. In einem Artikel im aktuellen Foreign Affairs schreibt der prominente Politikwissenschafter John Ikenberry in Anlehnung an einen Philip-Roth-Roman über die "Verschwörung gegen Amerikas Außenpolitik" und stellte darin das Überleben der liberalen Weltordnung infrage.
Wie diese Schlacht innerhalb des Weißen Hauses ausgeht, ist offen. Auch wenn Trumps Instinkte und Worte – nun auch auf seiner Europareise – in eine andere Richtung gehen, stehen viele seiner außenpolitischen und wirtschaftlichen Berater fest in Marshalls und Achesons Tradition und halten den Präsidenten immer wieder davon ab, die von den USA ab 1947 geschaffene Weltordnung – die Welthandelsorganisation, die Nato, die Uno – zu zerstören.
Auch in Europa steht beim Brexit und beim nunmehr gestoppten Vormarsch rechtspopulistischer Kräfte Marshalls Vermächtnis auf dem Spiel. Denn der Marshallplan war auch die Geburtsstunde der europäischen Integration. Schon in seiner Rede vor 70 Jahren forderte der US-Außenminister die europäischen Staaten auf, gemeinsam ihre Bedürfnisse und Beiträge zum Wiederaufbau zu definieren. Zu diesem Zweck gründeten die USA mit ihren Verbündeten 1948 die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), aus der Jahre später die OECD wurde. Sie war die Keimzelle einer gemeinsamen europäischen Wirtschaftspolitik und half beim Abbau von Handelsschranken und der Erleichterung grenzüberschreitender Investitionen.
Keimzelle Europas
Ebenso wichtig war ab 1950 die Europäische Zahlungsunion (EZU), die dem Ausgleich von Defiziten und Überschüssen zwischen den Leistungsbilanzen europäischer Staaten diente – eine Aufgabe, die später vom freien Kapitalverkehr übernommen wurde, aber seit Ausbruch der Euroschuldenkrise wieder zum Teil von überstaatlichen Einrichtungen erfüllt werden muss. Aus diesen US-gesponserten Institutionen erwuchs 1951 die Montanunion, die Keimzelle der späteren Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der EU.
Die Unterstützung der europäischen Integration war 70 Jahre lang ein Grundprinzip der US-Außenpolitik; die USA nahmen dafür auch die Schlechterstellung ihrer Waren und Dienstleistungen im europäischen Binnenmarkt in Kauf, um den Frieden auf dem Kontinent zu sichern, auf dem sie zweimal in den Krieg ziehen mussten. Wieder war es Trump, der – zumindest während des Wahlkampfes – diese Haltung als Erster infrage stellte und die EU als von Deutschland geführte Verschwörung gegen US-Handelsinteressen darstellte.
Der Marshallplan wurde auch deshalb zum Geburtshelfer des Westens, weil er die Teilung Europas begründete. Marshalls Angebot richtete sich zwar an alle Europäer vom Atlantik bis zum Ural. Aber wie der österreichische Historiker und Marshallplanexperte Günter Bischof in seinem neuen Buch beschreibt, entschied die Sowjetunion sehr rasch, dass dies ein amerikanischer Plan für eine "westliche Blockbildung" war – und zwang die Staaten unter ihrer Kontrolle, den Plan abzulehnen. Das war insofern richtig erkannt, als der Marshallplan auch darauf abzielte, "durch Schaffung von Wohlstand der Attraktivität der Sowjetunion entgegenzutreten", sagt Bischof. "Der Eiserne Vorhang wurde zur Wohlstandsgrenze", die bis heute zu spüren ist.
Das betraf vor allem Österreich. "Dass Österreich teilnehmen konnte, war eminent wichtig für die Westbindung des Landes", sagt Bischof. Dies sei auch der Klugheit der US-Militärs damals zu verdanken, die sicherstellten, dass Marshallplanmittel auch in die sowjetische Ostzone fließen würden – wenn auch weniger als in den Westen.
Und die Teilnahme an den OEEC-Sitzungen in Paris prägte eine ganze Generation österreichischer Politiker, sagt Bischof: "Kreisky schrieb einmal: Österreicher gingen nach Paris und wurden dort zu Europäern."
Langsamer Zerfall
Wie sehr der Marshallplan und die westliche Allianz Bauplan für eine liberale Weltordnung oder Instrument des Kalten Krieges waren, darüber gehen bis heute die Meinungen auseinander. Politikwissenschafter aus der Schule des Realismus wie Stephen Walt sagten schon in den 1990er-Jahren den langsamen Zerfall des Westens voraus (The Ties That Fray – Why Europe and America are Drifting Apart), nachdem der gemeinsame Feind Sowjetunion abhandengekommen sei.
Aber trotz aller Spannungen, vor allem nach der US-Invasion des Irak, hat Marshalls Vision der gemeinsamen Wirtschaftsinteressen, politischen Ziele und Werte überlebt – und ist heute nicht mehr auf Nordamerika und Europa beschränkt. Und auch die ersten Monate der Trump-Präsidentschaft geben Grund zur Hoffnung, dass die Idee des Westens auch diese Präsidentschaft überlebt.
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