Mittwoch, 19. September 2018

Rausch und Vernunft.

Caravaggio 1595
aus welt.de, 05.09.2008 

Am Anfang war das Bier – und nicht der Hunger
Bislang meinte man, der Hunger habe die Menschen sesshaft werden lassen. Doch es war eher die Freude am Rausch, meint ein Münchner Naturhistoriker. Die Schamanen wussten, wie man diese Drogen dosiert und religiös nutzt. Der Ackerbau dagegen ist dem Forscher zufolge ein Ergebnis des Überflusses.

Vor gut 10.000 Jahren entschieden sich Steinzeitmenschen zu einem dramatischen Wandel in ihrer Lebensweise: Sie betrieben Ackerbau und wurden sesshaft. Diese neolithische Revolution, die den Beginn der Jungsteinzeit markiert, veränderte nicht nur die Ernährung. Sesshaftigkeit wurde auch Grundlage für die Bildung von Stämmen, Staaten und Religionen, sagt der Münchner Biologe und Naturhistoriker Josef H. Reichholf. Am 9. September 2008 erscheint von ihm im Verlag S. Fischer „Warum die Menschen sesshaft wurden“.

WELT ONLINE : Im Untertitel heißt Ihr Buch „Das größte Rätsel unserer Geschichte“. Ist es wirklich so rätselhaft? Die Menschen entdeckten den Pflanzenanbau und konnten sich so besser ernähren.

Professor Josef H. Reichholf : Diese gängige Sichtweise verwechselt Ursache und Folge. Wenn Jäger und Sammler von ihrer Lebens- und Ernährungsweise abgewichen sind, muss das einen Anfangsvorteil geboten haben. Die traditionelle Meinung ist, dass die Menschen zu Bauern wurden, weil sie Hunger litten und mit der Stärke und dem Protein der Pflanzen überleben konnten. Aber der Pflanzenanbau brachte keineswegs sofort einen nennenswerten Überlebensvorteil. Die Erträge waren anfangs viel zu gering, und das Bearbeiten des Bodens war aufwendig. Das hätte die Existenz nicht sichern können, zumal man bei der sesshaften Lebensweise am Ort der Äcker nicht auf dieselben Mengen an Wild hätte zugreifen können. Jäger mussten dem Wild folgen. 


WELT ONLINE : Was also hat sie bewegt, sich niederzulassen?

Reichholf : Der traditionellen Sicht nach gab es in den ersten Siedlungsregionen wie dem fruchtbaren Halbmond wenig Wild, aber viel Gras. Es war aber genau umgekehrt. Diese Regionen waren wildreich, es bestand keine Notwendigkeit, von der Jagd zu lassen. Denn eine Region kann nicht fruchtbar und wildarm sein. Wo Gräser und Kräuter gut wachsen, gedeiht auch Wild gut und ist so auch für die Jagd verfügbar. Gemüse, Wurzeln, Gräser, Melonen und dergleichen waren hingegen nur eine Zukost. Die Verknappung des Wildes, die schon zu Beginn erfolgreiche Nutzung der Gräser und die damit folgerichtige Erfindung des Ackerbaus und der Sesshaftigkeit sind nicht schlüssig belegt. Ich behaupte ganz im Gegenteil, dass der Ackerbau aus einer Situation des Überflusses heraus entstanden ist. Die Menschen haben mit Getreideanbau experimentiert und nutzten die Körner allenfalls als Zukost. Die anfängliche und entscheidende Absicht war nicht, aus Korn Brot zu backen, sondern durch Gärung Bier zu erzeugen.

WELT ONLINE : Das Brauen von berauschendem Bier als Basis der Landwirtschaft?

Reichholf : Es gab stets ein starkes Bedürfnis, berauschte Zustände zu erreichen. Rauschdrogen vermittelten das Gefühl der „Transzendenz“, des Verlassens des eigenen Körpers. Alkohol oder Rauchdrogen waren die Mittel. Deshalb hatten die kundigen Schamanen eine so große Bedeutung. Sie wussten, wie man diese Drogen dosiert und religiös nutzt. Die ältesten Siedlungen im Vorderen Orient sind im Umfeld von Kultstätten entstanden, wie etwa Göbekli Tepe in Anatolien. Diese Tempelanlage wurde vermutlich noch vor der Sesshaftigkeit der Menschen von umherschweifenden Jägern erbaut.

WELT ONLINE : Also erblühte nicht erst die Landwirtschaft, wodurch Kräfte frei wurden, um Kultstätten zu bauen – um sich dort zu berauschen?

Reichholf : Genau das ist eben kaum vorstellbar. Bier lässt sich aus Körnern von Wildgetreide brauen, das noch keine großen Erträge bringt und von dem man noch nicht leben kann. Bier und Wein fördern Zusammenhalt, nicht aber das direkte Überleben. Das Brot konnte erst hergestellt werden, als man Getreide im Überschuss zu ernten imstande war. Das geschah nachweislich erst Jahrtausende nach Beginn der Nutzung von Wildgetreide. Bier zu brauen war übrigens keine spontane Eingebung; die Vergärung von Früchten war sicher längst bekannt. 

WELT ONLINE : Menschen wurden also sesshaft, als sie Pflanzen züchten konnten. Wie haben sie das gelernt?

Reichholf : Es lässt sich belegen, dass die Samen von verschiedenen Arten oder Unterarten von Wildgetreide aus unterschiedlichen Regionen – vermutlich zu bestimmten Anlässen – an einem Ort zusammengetragen wurden. Keimten die Körner, dann entstanden so Mischpopulationen und schließlich Hybride, die ertragreicher waren. Sie wurden nun gezielt angebaut.

WELT ONLINE : War der fruchtbare Halbmond der einzige Ort, an dem das geschah?

Reichholf : Die Menschen sind an drei weit entfernten Orten sesshaft geworden: im fruchtbaren Halbmond mit der Gerste, in Nordostasien mit dem Reis und in Zentralamerika mit dem Mais. Wobei in Nordostasien Korea anfangs das Zentrum war. Spannend ist, was Sprachforschung und Genetik zutage gefördert haben: Die Völker in allen drei Regionen stammen von den Ural-Altaiern ab. In der Endphase der letzten Eiszeit, vor 15.000 bis 11.000 Jahren, spalteten diese sich in eine westliche und eine östliche Linie auf. Auf die westliche Linie gehen die Indo-Europäer, also auch die Völker des fruchtbaren Halbmondes zurück, auf die östliche die Mongolen und die Urvölker Amerikas. Sie können vor ihrer Trennung schon ein grundsätzliches Wissen über die Nutzung von Getreidepflanzen gehabt haben.

WELT ONLINE : Wie kam der Ackerbau nach Europa? Haben benachbarte Völker die Lebensweise übernommen, oder wanderten die Ackerbauern?

Reichholf : Der Streit wurde aufgrund von genetischen Analysen zugunsten der zweiten Theorie entschieden. Die Bauern kamen mit dem Vieh, sie hatten schon die genetische Ausstattung für die Verdauung von Milch. Das funktioniert natürlich nur, wenn die nacheiszeitlichen klimatischen Bedingungen weithin offenes Land erzeugt hatten. Dichte Wälder konnte man mit Steinbeilen nicht roden. Es muss offenes Land gegeben haben, auf dessen Grasebenen das Vieh weiden konnte, wo es aber auch Wild reichlich gab.

WELT ONLINE : Welche Folgen hatten Ackerbau und Sesshaftigkeit?
Reichholf : Der Ackerbau brachte zwei Phasen mit harter Arbeit im Jahr: die Zeit der Feldvorbereitung und des Säens sowie die Zeit der Ernte. Dazwischen gab es ein gutes halbes Jahr mit Arbeitskräfteüberschuss. Der konnte anderweitig genutzt werden, und auf dieser Basis wurden schon frühzeitig monumentale Bauten erstellt, etwa die Pyramiden der Ägypter und die Großsteinkreise in Mitteleuropa und Zentralasien. Auch wenn das bäuerliche Leben oft hart war, so war es doch ein Garant für den Fortbestand und eine Chance, das Überleben der Kinder zu sichern, weil Überschüsse erwirtschaftet wurden. Das war ein Selbstläufer: Die Landwirtschaft diente der Bevölkerungssicherung durch mehr überlebende Kinder, und die Kinder bedeuteten neue Arbeitskräfte. Bei Nomaden dagegen waren Kinder auf den Wanderungen hinderlich. Die Kleinen mussten getragen werden. Die Geburtenrate war niedriger.

WELT ONLINE : Hatte die Sesshaftigkeit Einfluss auf die genetische Durchmischung?

Reichholf : Sicher, je sesshafter eine örtliche Bevölkerung ist, desto weniger wird sie durchmischt. Ein Beispiel für Abschottung sind bis heute bäuerlich-religiöse Gemeinschaften wie die Mormonen, Amish und Mennoniten in Amerika, die sich besondere Eigenheiten bewahrt haben, wie etwa die Mennoniten des Gran Chaco, die ein altes Plattdeutsch aus dem 18. und 19. Jahrhundert sprechen. Unterschiede in den Stämmen tendieren dazu, sich zu verfestigen. Es gibt den Fachbegriff des „assortative mating“. Er bedeutet, dass Angehörige derselben Sprache, Kultur und Physiognomie als Partner bevorzugt werden. Fremdvölker vermischten sich oft kaum mit der ansässigen Bevölkerung.

WELT ONLINE : Nomaden sind homogener?

Reichholf : Ja, die australischen Aborigines lassen sich auf dem ganzen Kontinent genetisch nicht in „Völker“ unterteilen. Die einzige Ausnahme sind die Tasmanier, die auf ihrer Insel geografisch von den Aborigines Australiens getrennt waren. Ihre nächsten Verwandten, die Papua von Neuguinea, betreiben dagegen Gartenbaukulturen in voneinander isolierten Tälern. Da fehlte die Migration so sehr, dass extrem viele Sprachen, über 700, und sehr unterschiedliche Kulturen entstanden.

WELT ONLINE : Hat die Sesshaftigkeit die Geschlechterrollen verändert?

Reichholf : Wo der Feldbau überwiegt, sind die Strukturen patriarchalisch. Da gibt es den Hofbesitzer und seine Frau, und es gibt das Gesinde. Diese Struktur wirkt wie ein Ministaat. In Gesellschaften, in denen die Viehhaltung dominiert, geht es weniger patriarchalisch zu. Die Frauen kümmern sich um die Herden und haben viel Einfluss. Ganz anders bei reinen Nomaden. In Wüstenvölkern mit Kamelen, die über den Handel existieren, dominieren die Männer. Sie haben mehr oder weniger in jeder Oase eine Frau mit geringem Status: Ihr Preis wird nach der Zahl von Ziegen oder Kamelen taxiert. Durch den Übergang zur Sesshaftigkeit sind Frauen in bestimmten Funktionen einflussreicher geworden. Es waren nach den Schamanen der Nomaden die „Weisen Frauen“, die das Wissen um die Mittel hatten, die bei den Festen eingesetzt wurden. Sie waren Priesterinnen und galten als Zauberinnen.

WELT ONLINE : War die Abkehr vom Nomadentum nur positiv?

Reichholf : Der Wechsel zur sesshaften Lebensweise hat gesundheitliche Probleme gebracht. Der Rücken wurde krumm; wir bekamen Wirbelsäulenbeschwerden, und es entstand durch zu einseitige Ernährung ein Mangel an Mineralstoffen und Vitaminen. Zudem sind die meisten der gefährlichen Infektionskrankheiten, wie Tuberkulose oder Pocken, vom Vieh auf den Menschen übergegangen. Eine der schlimmsten Folgen der Sesshaftigkeit war aber – das muss man so hart sagen – die Entstehung unterschiedlicher Religionen. Sie hat dazu geführt, dass die Menschheit gleichsam gespalten wurde in Pseudoarten, die untereinander in schärfster Konkurrenz leben. Zu den Konkurrenzen um Frauen, Besitz und Macht kam die noch stärkere Konkurrenz zwischen den Religionen, die die Ausrottung von Ethnien erst möglich gemacht hat, weil „die anderen“ nicht als Menschen eingestuft wurden.

WELT ONLINE : Wie sieht die Verbindung zwischen Sesshaftigkeit und Religion genau aus?

Reichholf : Die Religionen sind aus der Bindung an die Gemeinschaft entstanden. Re-ligio bedeutet „Rückbindung“. Die Erträge der Felder und Weiden hingen sichtlich „vom Himmel“ ab, von günstigem Wetter vor allem. Anders als die Nomaden konnten sich die sesshaft Gewordenen nicht einfach weiterbewegen zu besseren Regionen. Die Bauern waren von der Ergiebigkeit ihres Landes abhängig, und gutes Land musste verteidigt werden. Die himmlischen Ernte- und Kriegsgötter mussten längerfristiger „funktionieren“ als das Jagdglück, das man kurz vor der Jagd „beschwören“ konnte. In der christlichen Religion spielen „Wein und Brot“ nicht ohne Grund eine zentrale Rolle beim Abendmahl.

WELT ONLINE : Was macht die Sesshaftigkeitsforschung so interessant? 

Reichholf: Wie bei einem Puzzle lässt sich vieles zusammenfügen, was scheinbar nichts miteinander zu tun hat. Hat man die Bausteine richtig gelegt, taucht ein Bild auf; ein unerwartetes mitunter, und das macht eine solche Forschung so spannend. Sie versucht, ganz unterschiedliche Richtungen zu verbinden. Sicher wird es Korrekturen am Bild geben, aber das ist der normale Gang der Naturwissenschaft, der weiterführt. Niemand muss die Interpretationen glauben. Jeder kann sie mit neuen, besseren Fakten berichtigen.
Das Interview führte Wolfgang W. Merkel.


Nota. - Gewohnt, dass in der bürgerlichen Gesellschaft die Besitzgier alle andern Motive überschattet, kommt es uns selbstverständlich vor, dass ursprünglich der Mangel die Triebkraft aller wirtschaftlichen Fortschritte war. Dem kam das Vorurteil aller kritisch gesinnten Geister entgegen, das Negative sei der eigentliche Motor der Entwicklung. Demgegenüber wirkt der Gedanke, es müsse erst ein Überfluss dasein, damit etwas angehäuft werden könne, spießig und dröge.

In der Vorstellung, erst im Rausch und der Verschwendung öffne sich der Blick fürs Neue und Außerordentliche, ist indes letzterem Mangel abgeholfen. Wissenschaftlich ist aber das eine so unerheblich wie das andere.

Doch weltanschaulich spekulativ sind sie nicht gleichrangig. Sie begründen vielmehr den Unterschied von Ver- stand und Vernunft. Der Mangel ist ein bloßes Loch, und als solches ist es so gegeben, wie es ist. Es zu füllen ist Sache von Fleiß und Berechnung. Das ins Loch passende Material muss gesammelt und zweckmäßig angeord- net werden. Es ist die Wiederherstellung eines gestörten Status quo ante. 

Der Überfluss wirft die Frage auf: wozu? Da ist kein Loch zum Stopfen; man muss sich was einfallen lassen. Der Zweck liegt nicht fertig auf der Hand, welcher könnte es sein? Das Setzen von Zwecken ist die Sache der Vernunft.

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In den Wissenschaften geht der Streit seltener um die richtigen Antworten, als um die richtigen Fragen. Rein ideologisch ist das nicht.
JE






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