Sonntag, 17. Januar 2021

Merkels Erbschaft.


aus welt.de, 17. 1. 2021

Die Ära Merkel ist noch nicht beendet
Armin Laschet ist CDU-Chef – aber Kanzler noch lange nicht. Nico Hofmann, Filmproduzent von Werken wie „Unsere Mütter, unsere Väter“, glaubt nicht an das Ende der Ära Merkel. Denn sie hat einen Ton in die Politik gebracht, der erst jetzt seine Wirkung zeigt. Ein Gastbeitrag. 
 

Sechzehn Jahre sind – gerade in der Politik – eine ziemlich lange Zeit. Und doch sind es am Ende möglicherweise nur ein paar Monate, die darüber entscheiden, welches Bild – und welche Bilder – uns von der Kanzlerschaft Angela Merkels als prägend in Erinnerung bleiben werden.

Ihre Partei, die CDU, hat am Wochenende einen neuen Vorsitzenden gewählt. Es ist bereits der zweite Versuch, die Nachfolge von Angela Merkel zu regeln, und wir werden sehen, ob er erfolgreicher verläuft als der erste. Schon vor zwei Jahren, als sie ihren Rückzug vom Parteivorsitz ankündigte, begann das große Resümieren. Abgesang war der Tenor, nicht viele hätten damals darauf gewettet, dass Angela Merkel bis zum regulären Ende der Legislaturperiode im Amt bleibt.

Auch in dieser Woche werden wir wieder jede Menge Artikel lesen können, die sich nicht nur mit dem neuen Vorsitzenden beschäftigen, sondern auch die Ära Merkel für beendet erklären. Ich halte das auch heute noch für zu früh. Denn wir befinden uns gerade jetzt in jeder Hinsicht nicht am Ende. Sondern mittendrin.

Mittendrin in einer Pandemie, die in ihrem Ausmaß und ihren Folgen sicher historisch zu nennen ist. Wir alle müssen uns täglich mit etwas auseinandersetzen, für das wir auf keine Erfahrungsmuster zurückgreifen können: Niemand von uns hat so etwas zuvor erlebt. Diese Pandemie trifft uns existenziell. Und sie trifft jeden von uns, unabhängig von Geld oder Macht und Einfluss.

Gleichzeitig stehen wir an einem Punkt, an dem wir spüren, dass die Verfasstheit unseres demokratischen Systems gerade neu definiert wird. Es steht viel auf dem Spiel dabei. Wie widerstandsfähig ist diese Demokratie? Die Bilder von der Erstürmung des Kapitols in Washington durch einen für kein Argument mehr zugänglichen Mob haben uns auch deshalb so verstört, weil es kaum ein stärkeres Bild für die Zerbrechlichkeit einer Demokratie gibt, die wir für unerschütterbar gehalten haben. Uns beschleicht die bange Ahnung, dass es nicht nur in Amerika, sondern auch hier bei uns, in Europa, in Deutschland, möglicherweise nicht viel braucht, um Undenkbares geschehen zu lassen.

Die Pandemie wirkt dabei als Katalysator und als Brandbeschleuniger gleichermaßen, in einem Prozess, der darüber entscheidet, wie wir in Zukunft miteinander leben werden: wie stabil diese Gesellschaft sein wird, wie geeint oder gespalten, wie demokratisch oder autoritär, wie solidarisch oder egogetrieben, wie offen-divers oder hermetisch-reaktionär. Ausgang offen.

Ich gebe es gerne zu: Es beruhigt mich, dass die Bundeskanzlerin in dieser Situation Angela Merkel heißt. So pathetisch es klingen mag, es lässt mich hoffen, dass unsere Chance, gut durch diese doppelte Krise zu kommen, dadurch ungleich größer ist. Nicht weil ich glaube, dass Angela Merkel im Alleingang alle Probleme lösen wird – welcher Politiker könnte das? –, sondern weil sie neben all ihrer Erfahrung einen Stil und einen Ton in die deutsche Politik gebracht hat, dessen Wirkung und Wert gerade jetzt so wertvoll erscheint wie selten zuvor. Auch weil dieser wie das Gegenmodell zu einem politischen Gebaren wirkt, das wir derzeit überall um uns herum erleben.

Er ist leise, wo sonst die lauten Töne die Debatte dominieren, ohne dadurch weniger machtbewusst zu sein. Er ist getrieben von einer analytischen Rationalität, wo die populistische Behauptung zunehmend das politische Argument ersetzt. Und vor allem setzt er einen weiblichen Kontrapunkt zu dem männlich dominierten Polit-Narzissmus, der in dem ganzen testosterongesteuerten, männerbündlerischen Politbetrieb nicht nur wohltuend heraussticht, sondern auch unbedingt notwendig ist. Weil er nicht nur der Macht folgt, sondern politisches Handeln mit Empathie verbindet.

Der Politikstil Angela Merkels ist lange verkannt worden. Oft wurde ihr Haltungs- und Visionslosigkeit vorgeworfen und dass sie ihr politisches Handeln nach dem Weg des geringsten Widerstandes und dem Erhalt der Machtoption ausrichte. Noch ihre Entscheidung zum Atomausstieg nach dem Reaktorunfall in Fukushima wurde ihr als spontane populistische Wende ausgelegt. Ich habe das anders empfunden.

Mit diesem Entschluss und mit der Entscheidung, angesichts des Flüchtlingsstromes die Grenzen nicht zu schließen, hat sie die wichtigsten Themenfelder unserer Zeit besetzt: Die Frage nach unserer Verantwortung für den Umgang mit unserer Umwelt und der Bedeutung von Migration. Nicht einem billigen Kalkül folgend, sondern aus der humanen Überzeugung heraus, das zu tun, was in dem Moment notwendig war – und noch immer ist.

Die Wechselwirkung von Macht, Vernunft und Empathie kommt gerade in der Endphase von Angela Merkels Kanzlerschaft besonders zum Tragen. Weil sie sich nun perfekt mit dem Gewicht der Erfahrung eines langen Politikerlebens verbindet, und mit einer persönlichen Lebenserfahrung. Und sie wird nahbarer, weil Angela Merkel sich anders als früher, bei dem, was sie tut, mehr in die Karten schauen lässt.

Es ist bemerkenswert, welche Autorität und souveräne Unabhängigkeit diese Kanzlerin zu einem Zeitpunkt ausstrahlt, an dem viele ihrer Vorgänger nur noch lähmend am Amt hingen. Die politische Integrität Angela Merkels ist dabei immens. Aber auch ihre persönliche – undenkbar, dass diese Politikerin ihr Handeln einem persönlichen, gar einem materiellen Vorteil unterwerfen würde. Diese über jedem Materialismus und Egoismus stehende Integrität einer Bundeskanzlerin ist derzeit vielleicht der wichtigste Stabilisator, den wir in einer Welt besitzen, die droht, aus den Fugen zu geraten.

Es liegen komplizierte Monate vor uns, mit Zumutungen, die wir vermutlich nach wie vor ebenso unterschätzen wie das Grundsätzliche der gesellschaftlichen Auswirkungen, die sie zur Folge haben werden. Es wird in diesen Monaten nicht nur darum gehen, die Pandemie zu besiegen, sondern auch, eine Spaltung der Gesellschaft zu verhindern.

Es gilt, die soziale Balance einer Gesellschaft zu erhalten, die sich angesichts der Krise nicht nur dem wirtschaftlichen Materialismus unterwerfen darf. Ob wir das schaffen, wird auch darüber entscheiden, ob wir Vielfalt und Diversität wirklich miteinander leben können, oder ob Ausgrenzung und Egoismus (wieder) die Oberhand gewinnen.

All das wird sich auch perspektivisch auf Armin Laschet bündeln – die Frage seiner eigenen Integrität, der Fokus auf soziale Balance, Diversität, der große Wunsch nach einem anderen Miteinander – Persönlichkeit, Tonfall, die eigene politische Lebenserfahrung –, es geht mehr denn je um die ehrliche, spürbare Belastbarkeit von politischer Moral. Die Übernahme des Parteivorsitzes mag da eine spannende Bewährungsprobe sein – und: noch ist nicht entschieden, wie die beiden Unionsparteien über die Kanzlerkandidatur abstimmen.

Am 21. September ist Bundestagswahl. Die Welt wird zu diesem Zeitpunkt möglicherweise eine andere sein. Und Angela Merkel dann nicht mehr Bundeskanzlerin. Noch fällt es mir schwer, mir das vorzustellen.

 

Nota, JE - Ein bisschen dithyrambischer, als ich formulieren würde. Aber sachlich hätte ich nicht viel einzuwenden. Nur ein paar Gedanken hinzuzufügen:

Angela Merkels Stärke

Die Stärken von Angela Merkel sind keine persönlichen. Nicht ihre Integrationskraft, nicht ihr diplomatisches Geschick; nicht die uneitle Art, nicht das einnehmende Wesen, nicht die uner-schütterliche Ruhe. Die Stärke von Angela Merkel war unsere Gewissheit, dass es ihr im Ernst immer nur auf den gesunden Menschenverstand ankam. 

Der kann sich irren. Doch wem es als Regierungschef um was anderes geht, der kann eigent-lich nichts anderes als sich irren. Das hat ihr Amtsvorgänger sattsam bewiesen, und es hat Deutschland ein paar Jahre Zeit gekostet.

Als sie Generalsekretärin in Kohls Partei wurde, fand sie allenthalben Hohn und Spott rings-um. Von ihrer Frisur war mehr die Rede als von Politik. Ich fand damals, sie werde - jedenfalls als Person - unterschätzt. Als sie Parteivorsitzende werden sollte, meinte auch ich, die Jacke wär ihr eine Nummer zu groß. Doch als Oppositionsführerin, eine Position, die sie sich er-kämpfen musste, machte sie keine schlechte Figur, und als sie dann hauchdünn doch noch Kanzlerin wurde, dachte ich mir, nach acht Jahren großmäuligem Hallodri war sie das Beste, was uns passieren konnte. Eine Politik nach Hausfrauenart, nüchtern und streng sachlich, ein Schritt nach dem andern, aber beharrlich den übernächsten Tag im Auge - das wars, was Deutschland nach innen brauchte und was ihm nach außen ein Vertrauen schaffen konnte, das es zuvor nie hatte.

Man stelle sich vor, in der Griechenlandkrise wäre Schröder noch Kanzler gewesen! Angela Merkel in griechischen Journalen in SS-Uniform auf dem Titelblatt - das war so abseitig, dass selbst die Griechen mit dem Kopf schüttelten. Dass sie damals Geschichte schrieb, hat weder sie noch das Ausland bemerkt. Es war ja auch nur eine Sache des gesunden Menschenver-stands: Griechenland in der Union halten, ohne sich auf einen Schuldenschnitt einzulassen. In der Union halten, weil sonst Europa inder Welt und vor allem in Europa jedes Vertrauen ver-spielt hätte; und einen Schuldenschnitt vermeiden, weil sonst nicht nur Griechenland, sondern alle andern europäischen Mittelmeerstaaten in der Welt keine müde Markt mehr geborgt be-kommen hätten. Ein Drahtseilakt auf den Millimeter genau, ohne sich von rechts und links beirren zu lassen! 

Dass es sich um eine Richtungsentscheidung gehandelt hatte, wurde den Zeitgenossen erst im Nachhinein klar. Denn das war nicht, was man von Angelika Merkel zu allererst erwartet hatte. Zumal ihr in den Alltagsdingen ihr Finanzminister die Hand geführt haben wird. Hinterher haben alle gestaunt, und selbst Varoufakis hat gemurmelt, wenn Deutschland in Europa nicht führt, tut es keiner, und alle kochen ihr eigenes Süppchen.

Und dann gar die Flüchtlingskrise. Damit ist Angela Merkel in die Geschichte eingegangen. Eine Aufgabe, die nur in kontinentalem Rahmen bewältigt konnte und kann, doch wenn alle andern sich drücken wollen, muss einer - naturgemäß der Stärkste - vollendete Tatsachen schaffen, an denen die andern nicht vorbeikönnen. Dass sie, anders als Schröder nachträglich maulte, damals nicht herumtelefoniert und sich die faulen Ausreden angehört hat, die sie sich ja ausdenken konnte, das war das Historische an der Sache. 

Es war bei allem momentanen Enthusiasmus auch klar, dass die Stimmung bei erstbester Ge-legenheit umkippen würde. Würde sie weiche Knie bekommen und, wie sie angeblich immer tat, den Meinungsumfragen huldigen? Das hat sie nicht. Mag sie zuerst, was ja ehrenwert wäre, wie die vielen andern nur "den Menschen helfen wollte" - spätestens, als Ge-genwind kam, hat sie erkannt, dass es um eine epochale Weichenstellung ging - für Deutschland in Europa und für Europa in der Welt. Letzteres ist nicht erst seit Trump, sondern schon seit Obama eine wachsende Herausforderung. Sie hat in der Sache bis heute nichts zurückge-nommen, und das ist auch gut so.

Dass sie zu historischer Größe aufgelaufen ist, hat sie wahrscheinlich ebenso überrascht wie das Publikum. Nämlich dass sie sich nicht gedrückt hat? Das ist eigentlich nicht so überra-schend. Dass Aufgaben von geschichtlicher Größe über einen hereinbrechen, kann man sich nicht aussuchen. Und ob man sich ihnen dann stellt, eigentlich auch nicht. Es ist bloß eine Frage der Pflicht.

*

Doch hat sie ihr Werk nicht zuende geführt: Wer's nicht wusste, hat es spätestens gestern gesehen. Sie hat Deutschland egal ob pragmatisch oder aus Weitsicht auf die richtige Spur gesetzt. Doch das Instrument zu schaffen, es auf der Spur zu halten, hat sie versäumt. Seit die Kanzlerin war, war sie nur noch das.

Sache eines Regierungsschefs ist es, Mehrheiten zu suchen und zu finden. Sache eines Parteiführers ist es, Mehrheiten zu schaffen - zuerst in seiner Partei. Angela Merkel war schon als Parteivorsitzende Kanzlerin im Wartestand. Als Kanzlerin hat sie die CDU dann unter sich erdrückt, gewiss zu deren Vorteil, doch Parteiführerin ist sie nie geworden

Das war anfangs ihre Stärke, doch in der Flüchtlingkrise ist es eine Schwäche geworden. Seehofer und damals mehr noch Markus Söder haben das rücksichtlos ausgenützt, ohne Rücksicht auf die Stellung Deutschlands in der Welt nämlich. Und am Ende ihrer Regierungszeit taucht nun selbst das untote Ego aus der Versenkung auf und wittert ein Chance im Vakuum. Dass sie ein solches hinterlassen und nicht zugekleistert hat - nachdem ein erster Versuch gescheitert ist -, war vielleicht ihr letzter großer Dienst an der deutschen Politik. Denn jeder weiß doch: Gestern war erst ein Anfang.

JE

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