aus nzz.ch, 29. 3. 2014 Nachbau des 1914 konstruierten Prototyps A.L.F.A. 40-60 HP Aerodinamica, genannt «La Bomba».
Zeit aus den Fugen
Zwischen 1900 und 1914 befindet sich die westliche Welt in grosser Erregung. Der radikale Wandel in Technik, Wissenschaft und Kultur beflügelt und verängstigt die Menschen zugleich. Die Ambivalenz jener Epoche wirkt bis heute nach.
Manchmal genügen wenige Augenblicke, um eine ganze Epoche zu verdichten. Noch etwas zaghaft steht der Mann mit dem Fledermaus-Anzug auf der Brüstung des Eiffelturms; er konzentriert sich, wartet auf den richtigen Moment. An diesem 4. Februar 1912 will sich Franz Reichelt, wie der Schneider und Tüftler aus Österreich heisst, von einer Aussichtsplattform des Pariser Wahrzeichens stürzen und mit einer Art vormodernem «Wingsuit» sanft zu Boden schweben. Dazu hat er die Presse geladen, denn die Welt darf die Sensation auf keinen Fall verpassen. Noch einmal schweift sein Blick in die Ferne, dann springt er. Knapp vier Sekunden dauert es, bis Reichelt aus 57 Metern Höhe nahezu ungebremst am Boden aufprallt. Der Todessprung wird von den surrenden Kameras auf Film gebannt und steht heute geradezu emblematisch für den Rausch und die Hybris jener unbeschwerten Jahre, die als «La Belle Epoque» bezeichnet werden und mit dem Ersten Weltkrieg ein jähes Ende finden.
«Tänzerin» von Ferdinand Hodler, um 1912,
Ein Idyll?
Der Schriftsteller Stefan Zweig spricht in seinen Lebenserinnerungen von einem «goldenen Zeitalter der Sicherheit», in dem der «Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen Fortschritt [. . .] wahrhaftig die Kraft einer Religion» hatte. Die Zukunft scheint gestaltbar und der ewige Friede greifbar. Die Schlagbäume sind noch offen; in ganz Europa lässt es sich ohne Pass reisen. War die damalige Welt ein Idyll vor dem Sündenfall?
Geschäftshaus Jelmoli, Zürich, 20. Juli 1903
Dass die Zeit zwischen 1900 und 1914 nicht nur geprägt ist von bahnbrechenden Erfindungen, Entdeckungen und einem unerschütterlichen Fortschrittsglauben, sondern auch von einer nietzscheanischen Umwertung aller Werte, rasantem sozialem Wandel und tiefer Verunsicherung, zeigt das Landesmuseum in Zürich nun in einer opulenten Schau. Die Idee dazu geliefert hat unzweifelhaft der Historiker und Schriftsteller Philipp Blom, der vor einigen Jahren mit dem Buch «Der taumelnde Kontinent» ein mitreissendes Panorama jener erregten Epoche vorlegte.
«Fehmarndüne mit Badenden unter Japanschirmen» von Ernst Ludwig Kirchner, 1913,
Im dunkel gehaltenen Ausstellungspavillon im Innenhof erfährt die Ambivalenz jener Dekade eine virtuose museale Auferstehung. Schnell wird klar: Vieles, was im «kurzen 20. Jahrhundert» bedeutsam werden sollte, entfaltete damals erstmals eine Breitenwirkung oder wurde sogar erfunden – vom Feminismus bis zur abstrakten Kunst, vom Terrorismus bis zur Quantenphysik. Die von Stefan Zweifel und Juri Steiner umsichtig kuratierte Ausstellung mit dem etwas missverständlichen Titel «Expedition ins Glück» vertritt denn auch keine These, weshalb es zum grossen Krieg kam. Vielmehr will sie auf assoziative Weise die Atmosphäre jener Umbruchzeit erfahrbar machen. Die Szenografie aus unzähligen Vitrinen mit Hunderten von hell ausgeleuchteten Exponaten aus in- und ausländischen Sammlungen sowie flimmernden Filmsequenzen erinnert an ein Spiegelkabinett. Der Ausstellungsparcours gibt keinen Weg durch die voraussetzungsreichen Themenfelder vor: In der schwindelerregenden Fülle von Objekten und ihrer labyrinthischen Anordnung soll sich jene Überforderung manifestieren, die den Zeitgenossen angesichts der Beschleunigung aller Lebensbereiche und der Zertrümmerung alter Gewohnheiten so schwer zu schaffen machte.
«Kilume» (Maske), undatiert, Kongo Kinshasa.
Vorbei an einer mächtigen Büste von Friedrich Nietzsche, diesem Propheten der Gegenkultur, taucht man ein in eine Welt, die sich gerade neu erfindet. Die Wissenschaft macht Unsichtbares sichtbar. Sigmund Freud seziert das Seelenleben des Bürgertums und entdeckt in den Träumen verdrängte sexuelle Wünsche. Die Röntgenstrahlen revolutionieren die medizinische Diagnostik, Mikroskope verleihen Keimen und Krankheitserregern Konturen. Die Bilder lernen laufen, und das 20. Jahrhundert erschafft sich mit dem Kino seine eigene Kunstform. Der Film sprengt die «Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden», wie es Walter Benjamin später formulieren wird, und lässt selbst die intimsten Wünsche der Menschen über die Leinwand flackern. Auch die bildende Kunst bricht mit den Anstandsregeln der alten Malerei. Auf den Gemälden von Wiener Avantgardisten wie Egon Schiele oder Gustav Klimt räkeln sich junge Körper, nackt, obszön und unzensiert. Erzherzog Franz Ferdinand, der in die Weltgeschichte eingehen wird, würde den Künstlern deshalb am liebsten «alle Knochen brechen».
Vorbei an einer mächtigen Büste von Friedrich Nietzsche, diesem Propheten der Gegenkultur, taucht man ein in eine Welt, die sich gerade neu erfindet. Die Wissenschaft macht Unsichtbares sichtbar. Sigmund Freud seziert das Seelenleben des Bürgertums und entdeckt in den Träumen verdrängte sexuelle Wünsche. Die Röntgenstrahlen revolutionieren die medizinische Diagnostik, Mikroskope verleihen Keimen und Krankheitserregern Konturen. Die Bilder lernen laufen, und das 20. Jahrhundert erschafft sich mit dem Kino seine eigene Kunstform. Der Film sprengt die «Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden», wie es Walter Benjamin später formulieren wird, und lässt selbst die intimsten Wünsche der Menschen über die Leinwand flackern. Auch die bildende Kunst bricht mit den Anstandsregeln der alten Malerei. Auf den Gemälden von Wiener Avantgardisten wie Egon Schiele oder Gustav Klimt räkeln sich junge Körper, nackt, obszön und unzensiert. Erzherzog Franz Ferdinand, der in die Weltgeschichte eingehen wird, würde den Künstlern deshalb am liebsten «alle Knochen brechen».
«Die Jungfrau» von Egon Schiele, 1913, Bleistift und Deckfarben auf Papier.
Die Frauen befreien sich um 1900 aus ihrem engen gesellschaftlichen Korsett. Sie gehen arbeiten, fordern politische Rechte oder steigen aufs Fahrrad. Kondome aus elastischem Kautschuk trennen die Sexualität erstmals von der Reproduktion. Die Männer reagieren ihrerseits mit Unbehagen auf die Neuordnung der Geschlechterverhältnisse. Ihre Nerven zeigen plötzlich Schwäche, die mysteriöse Erschöpfungskrankheit Neurasthenie – spräche man heute von «Burnout»? – greift um sich. Die infrage gestellte Männlichkeit versuchen sie sich nicht nur mit lebensbedrohlichen Duellen auf der Strasse zurückzuerobern: Die Muskeln werden grösser, die Bärte länger und die Uniformen auch im Alltag anbehalten. Dazu kommt der sportliche Wettkampf in den Stadien, auf dem Rasen und dem Asphalt. Der Kult der Maschine etabliert sich. Pfeilschnelle und aerodynamische Automobile werden gebaut, erfinderische Individualisten erobern mit immer ausgefeilteren Fluggeräten die Lüfte. Bald verherrlichen die sogenannten Futuristen, diese Vorboten des Faschismus, ganz unverhohlen die Geschwindigkeit, die Technologie und die Gewalt als ihr Lebenselixier.
Abschuss eines Torpedos, um 1900, Fotograf unbekannt.
Wer den Glauben an den rasanten technischen Fortschritt nicht teilt, flüchtet sich in utopische Gegenwelten. Rudolf Steiner propagiert die Anthroposophie; Vegetarier und Anarchisten widmen sich auf dem Tessiner Monte Verità dem Nackttanz und der kreativen Orgie. Interessant sind auch die Schicksale von weitgehend unbekannten Persönlichkeiten, die in der Ausstellung thematisiert werden. Der Zürcher Anton Meierhofer beispielsweise ist ein idealtypischer Vertreter jener neuen Zeit: Er verkauft in ganz Europa elektrische Lampen, informiert sich auf Pariser Messen über die neusten Trends, begeistert sich für die Luftfahrt und die Fotografie und geht in den Schweizer Bergen wandern – natürlich nackt.
Lichtbad (zweiteilig), ca. 1910, Johann Heinrich Lachmann
Wie klein die Welt durch die Kommunikations- und Fortbewegungsmöglichkeiten bereits um 1900 geworden ist, belegen die globalisierten Handelsströme: Tiefkühlschiffe versorgen Europa mit Rindfleisch aus Uruguay, das Kupfer stammt aus Peru, das Erdöl aus dem Nahen Osten. Der Kautschuk, der im Kongo gewonnen wird, dient der Herstellung von Reifen. Für die Mobilität und den Fortschritt in Europa müssen in der Kolonie des belgischen Königs Leopold II. innert weniger Jahre geschätzte zehn Millionen Zwangsarbeiter sterben. Die Händler und Kaufleute, die in Afrika und Asien reich werden, kommen nicht selten mit Jagdtrophäen sowie fremdländischen Skulpturen und Masken nach Hause, was nicht nur europäische Künstler und Wissenschafter beflügelt, sondern auch den Exotismus der Massen befriedigt. Das Geschäft floriert, denn die Rohstoffe aus der Ferne werden gierig verlangt: Die Welt ist dank der effizienten industriellen Massenproduktion zum Warenhaus geworden, das den Bedürfnissen fast rund um die Uhr gerecht wird, vom Spielzeug und Staubsauger bis zum Nassrasierer aus der Dose. Der Mensch erhält damit eine neue Rolle, die er bis heute nicht mehr losgeworden ist – die des unersättlichen Konsumenten.
Zwangsjacke, um 1900, Schneiderei Waldau, Bern.
Und das Militär?
Und was macht eigentlich das Militär in jenen Jahren des Friedens? Es weicht aus. Gekämpft wird nur noch an den Rändern des Kontinents sowie in den Kolonien, die zu einer Art Experimentierfeld für die «moderne» Kriegsführung avancieren. Die Schattenseiten der rasanten Innovationskraft zeigen sich hier eindrücklich: Die Waffensysteme werden im Gleichschritt mit den Neuerungen in Forschung und Technik effizienter und damit mörderischer als je zuvor. Es wird aufgerüstet, und heimlich entstehen Angriffspläne. Der Krieg ist weit weg und doch bereits so nah. Es braucht nur den Funken von Sarajevo, um den Weltenbrand zu entfachen. Was folgt, sind Zerstörung und Elend, es sind dies «die letzten Tage der Menschheit» wie Karl Kraus schrieb. Ein massives deutsches Maschinengewehr weist schliesslich den Weg in den Ersten Weltkrieg und aus der Ausstellung: Es ist ein stockfinsterer, 23 Meter langer Korridor, der das Stahlgewitter in den Schützengräben auch akustisch erfahrbar machen soll. Wer die Zeitreise im Landesmuseum hinter sich hat, den plagt die Gewissheit: Es hätte auch ganz anders kommen können.
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