Zeit für eine neue Romantik?
Aus dem Geist der Konstruktion entstanden die Wissenschaften und aus ihr die Industrie. Deren Triumphe rechtfertigten sich selbst. Auf die Idee, auf das Schöne und das Wahre kann die praktische Welt des Bürgertums seither verzichten. Der Welt ihre Geheimnisse abjagen und sie verfügbar machen – das war ihr Programm genug. „Das Wahre ist das Wirkliche“, lautet das Bekenntnis des Positivismus: Was ist, trägt nun seine Bedeutung in sich selbst, denn ihr gemeinsamer tragender Grund ist – die Arbeit.
Das war der Punkt, wo die Kunst in einen rebellischen Gegensatz zur Wirklichkeit trat. Sie wurde „rein“ und zweckfrei. Es ist die Stunde der Romantik. Das Bizarre wird interessanter als das Harmonische. Das Schöne nimmt einen subversiven Charakter an: das radikal Andere, das unter Umständen sogar hässlich sein darf – wenn es nur der Wirklichkeit spottet. Der Grundcharakter der romantischen Kunst ist ausdrücklich: Ironie. Sie macht die Unwahrheit, die logische Indifferenz des Wirklichen sichtbar. Ein besseres Verhältnis zur Wahrheit hat sie nicht. Seither wird auch, anstelle der Malerei, immer mehr die Musik zum Inbegriff der Künste – als die am wenigsten „positive“ unter ihnen.
Und jetzt, am Abend der “Moderne”, am Ende der “Post”-Moderne? Ist die Zeit für eine neue Romantik “reif”?
Woher kommt “romantisch”?
Das Wort romantic ist in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgekommen und bezeichnet die Charakteristiken der – damals spezifisch französischen – Literaturgattung le roman. Es wird eine Geschichte erzählt mit klarem Anfang und klarem Ende, in ungebundener Form, mit womöglich mehreren Handlungssträngen, Verwicklungen und überraschenden Wendungen. Der Roman unterscheidet sich vom herkömmlichen Epos dadurch, dass das Geschehen aus der Perspektive einer Hauptperson, oder doch mit Perspektive auf eine Hauptperson berichtet wird, so dass ein „roter Faden“ erkennbar bleibt.
Das Wort selbst bezeichnet seine französische Herkunft: Eine romantz war im Mittelalter eine Erzählung, die in der „romanischen“ Umgangssprache des Volks geschrieben war – statt im gelehrten Latein. Zwar wurde sie auch – von den Troubadouren etwa – in der Versdichtung verwendet; typisch war sie aber für den formal ungebundenen erzählenden Prosatext, der in Latein nicht vorkam. So ist etwa der Perceval des Chrétien de Troyes nicht gereimt, im Unterschied zu Wolframs (jüngerem) Parzival (der vermutlich zunächst nur mündlich vorlag).
Allerdings schrieb der Verfasser des Katers Murr schon früh: Die Musik sei „die romantischste aller Künste, da ihr Vorwurf nur das Unendliche“ ist.*
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*) E. Th. A. Hoffmann in: Fantasie- und Nachtstücke, München 1960; S. 39
Ironie ist das Wesen des Romantischen.
Safranskis Buch präsentiert sich als das Panorama einer Epoche: der deutschen Romantik. Was die Fachkritik bemängelte, nämlich dass ihm ein bisschen der rote Faden und die besondere Pointe fehle, war sicherlich die Voraussetzung für dessen Erfolg beim großen Leserpublikum. Es werden keine schwindelerregenden Interpretationen entwickelt, kein extravagantes Garn gesponnen, sondern mit kräftigen Strichen das Bild einer geistigen Bewegung entworfen, die wie keine andere die Kultur der Deutschen bis heute geprägt hat.
Im guten oder auch in einem schlechten Sinn?
Dass diese Frage eine vieltausendköpfige Leserschaft bewegen konnte, eignet sich selber zu jener besonderen Pointe, an der es Safranskis Darstellung fehlt! Wenn man es nämlich als eine Antwort auffasst auf die Frage, ob unsere Zeit für eine neue Romantik “reif” ist.
Die Grundüberzeugung vom ebenso grenzenlosen wie unaufhaltsamen Fortschreiten der Erkenntnis teilen die positiven Wissenschaften mit dem Rationalismus, und müssen es. Sie haben den Siegeszug der Großen Industrie ermöglicht, dem die romantische Ungewissheit nicht lange widerstehen konnte. Dennoch war die romantische Grundhaltung der wesentlichen Ungewissheit das Moderne an der Moderne. Das positivistische Selbstvertrauen des Industriezeitalters war eine kostspielige Täuschung.
Wir stehen am Ende des industriellen Zeitalters und wissen nicht, was nachher kommt. Mehr Ungewissheit war nie. Kein Wunder, dass das Romantische neue Zuwendung findet.
“Anything goes”?!
Die ‘Postmoderne’, die uns die wieder wachsenden Ungewissheiten der Welt zu einer permanenten Casting-Show verharmlosen wollte, hat fertig. Das Ungewisse ist eine ernste Sache.
Aber nur mit Ernst, nur in Ungewissheit lässt sich das Leben nicht aushalten. Würde ich tatsächlich an Allem und Jedem zweifeln, das mir begegnet, würde ich kaum die nächste Viertelstunde über die Runden bringen. “Wohl wissend”, dass ich in einer Welt lebe, in der “nichts gewiss” ist, muss ich doch immer so tun, als ob. Und das Bewusstsein davon, dass dies so ist, nannten die Romantiker Ironie.
Romantische Ironie ist aber eine Weltsicht. Im Wortlaut der Sätze muss sie sich gar nicht zu erkennen geben. Sie ist vielmehr die Folie, vor der sie überhaupt erst ihren… na ja, ihren “Sinn” erhalten, der eben nicht Ja ja, nein nein lautet, sondern sozusagen “in der Schwebe” ist. Und fragt man: “Meinst du das ernst?”, dann heißt es: “Wie man’s nimmt.” Den alltäglichen Verkehr erleichtert es nicht. Das war auch nicht der Ehrgeiz der Romantiker. Denn die Ungewissheit war ihnen ja nicht nur Verlust an Berechenbarkeit – den begrüßten sie gar noch! Sie war ihnen vor allem: der Gewinn neuer Möglichkeiten. Und die fangen immer erst einmal mit neuen Denkmöglichkeiten an:
Bei der Epoche,
die derzeit untergeht, handelt es sich nicht bloß um zweihundert Jahre
Kapitalismus und
Industriezeitalter. Das Eindringen der Neuen Medien und
Informationstechniken in die materiellen Fertigungsvorgänge selbst
kündigt das Ende von zehn-, zwölftausend Jahren Arbeitsgesellschaft an.
Doch wie bei den alten Griechen zwischen zwei Tragödien zur Erholung
eine Komödie geschoben wurde, haben wir zunächst einmal die Farce der
“Postmoderne” erlebt. Da war nur Geistreichelei und keine Ironie –
die wäre ihr “zu ernst” gewesen. Die Frage nach dem Wahren führt nämlich
erst dann in ein Paradox, das nur in Ironie zu ertragen ist, wenn man
sie sich stellt.
In diesem Sinne – dass die Zeitenwende, die auf uns zu kommt, ernst genug wird, um uns zu der Frage nach dem Wahren zu veranlassen, für deren paradoxalen Gang wir uns schon jetzt in Ironie rüsten sollten – glaube ich wirklich, dass uns eine “neue Romantik” und, wenn man es so will, eine Neue Moderne bevor steht.
Und weil wir Deutschen eben eine romantische, will sagen zwiespältige und paradoxale Nation sind, müssen wir uns vielleicht wieder einmal hervor tun.
Zwiespalt ist unser Nationalcharakter
Romantik ist allerdings “eine deutsche Affäre”, denn nirgends ist Ironie so nötig und in der Geschichte so gegenwärtig, wie bei uns!
Der hervorragende Zug im deutschen Nationalcharakter ist, spätestens seit dem dreißigjährigen Krieg, seine Zerrissenheit. Was ‘das Deutsche’ sei, war daher immer umstritten. Was hat nicht alles schon – und mit demselben Recht! – als “typisch deutsch” gegolten: Pedanterie und Überschwang, Plumpheit und Poesie, Innerlichkeit und Aggression, gemütliches Selbstgefallen und himmelstürmender Größenwahn, Tiefsinn und Technik, Dumpfheit und Dialektik, Romantik und Realpolitik, der gottergebene Fleiß des Ackerviehs ebenso wie faustisches Genie; Beamtendünkel und versonnene Philosophen, Kunst und Ursprung, Dämon und Philister; Weltanschauung und Schrebergarten, Todesverachtung und Vollwertkost. Aber alles gründlich!
Der hervorragende Zug im deutschen Nationalcharakter ist, spätestens seit dem dreißigjährigen Krieg, seine Zerrissenheit. Was ‘das Deutsche’ sei, war daher immer umstritten. Was hat nicht alles schon – und mit demselben Recht! – als “typisch deutsch” gegolten: Pedanterie und Überschwang, Plumpheit und Poesie, Innerlichkeit und Aggression, gemütliches Selbstgefallen und himmelstürmender Größenwahn, Tiefsinn und Technik, Dumpfheit und Dialektik, Romantik und Realpolitik, der gottergebene Fleiß des Ackerviehs ebenso wie faustisches Genie; Beamtendünkel und versonnene Philosophen, Kunst und Ursprung, Dämon und Philister; Weltanschauung und Schrebergarten, Todesverachtung und Vollwertkost. Aber alles gründlich!
Die andern großen Nationen schauen sich selbst in einem lebendigen verbindlichen Menschenbild an, in dessen charakteristischen Zügen die Spuren der gemeinsamen Geschichte lesbar sind. Der englische gentleman personifiziert die historische Vereinigung von Adel und Großbürgertum zur typisch britischen Oligarchie, im französischen citoyen verbinden sich der plebejische Stolz des Sansculotten mit römischer Staatsvergötzung, der amerikanische pioneervereinigt den beengten Blickauf den nächstliegenden Vorteil mit einer kontinentalen Weite des Horizonts.
Kein Wunder! Denn die Bildung eines Volkes zur Nation ist Sache eines um seinen freien Inneren Markt siegreich kämpfenden Bürgertums. Es waren aber die deutschen Städte, die vom dreißigjährigen Krieg verwüstet und entvölkert waren. Was an Bürger- tum übrig war, duckte sich ängstlich unter den Stand der Duodez-”Reichsfürsten”, denen eine deutsche Nation ein Gräuel war. Das Problem der deutschen Verspätung war das Problem unserer rachitischen Bourgeoisie. An Emanzipation war nicht zu denken, als höchstes Lebensziel konnte unser Bürger davon träumen, “bei Hofe zugelassen” zu werden. Und wie ging das? Durch Anbiederung an das höfische Beamtentum. Und das Mittel dazu war Bildung! In den Salons, in den Theatern, Museen und Musiksälen konnten sich deutsche Bürger “gleichrangig” fühlen mit den Edelleuten, und – wer weiß? – vielleicht wurde man wie Goethe und Schiller sogar geadelt. Bildung war der deutsche Ersatz für bürgerliche Befreiung.
Nein, der deutsche Michel ist nicht das ganze Deutschland. Dazu gehören noch Kant und Fichte, Marx und Engels, Schopenhauer und Nietzsche – lauter, mit Verlaub, radikale Denker! Diese Radikalität ist sicher nicht für jeden Deutschen typisch geworden. Aber sie kommt doch nur bei uns vor. Nämlich immer da, wo sich deutscher Tiefsinn mit abendländischem Scharfsinn paart.
Aber dann – ja, dann wird man selbst zum Ironiker.
September bis November 2008
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