Mittwoch, 16. April 2014

Was heißt denn Romantik?

J. C. C. Dahl, Blick auf Schloss Pillnitz

Zeit für eine neue Romantik? 

Die Idee einer ganzen, umfassenden Kunst ist relativ jung. Sie ist eine Schöpfung der europäischen Renaissance. Sie galt als Königsweg zur Wahr- heit. Denn anders als die theoretischen Wissenschaften – denen sie erst den Weg ebnete – erfasst sie den “ganzen Menschen”. Die vollendete Gestalt wird, als Bild der Idee, zum Leitstern der Kunst. Malerei und Skulptur werden zu ihrem Inbegriff, und Harmonie wird zum Synonym des Schönen. Eine chaotische Natur nach den Gesetzen der Harmonie formieren – das war der Sinn des Fortschritts und galt als Zweck der Geschichte.

Aus dem Geist der Konstruktion entstanden die Wissenschaften und aus ihr die Industrie. Deren Triumphe rechtfertigten sich selbst. Auf die Idee, auf das Schöne und das Wahre kann die praktische Welt des Bürgertums seither verzichten. Der Welt ihre Geheimnisse abjagen und sie verfügbar machen – das war ihr Programm genug. „Das Wahre ist das Wirkliche“, lautet das Bekenntnis des Positivismus: Was ist, trägt nun seine Bedeutung in sich selbst, denn ihr gemeinsamer tragender Grund ist – die Arbeit.
 
 

Das war der Punkt, wo die Kunst in einen rebellischen Gegensatz zur Wirklichkeit trat. Sie wurde „rein“ und zweckfrei. Es ist die Stunde der Romantik. Das Bizarre wird interessanter als das Harmonische. Das Schöne nimmt einen subversiven Charakter an: das radikal Andere, das unter Umständen sogar hässlich sein darf – wenn es nur der Wirklichkeit spottet. Der Grundcharakter der romantischen Kunst ist ausdrücklich: Ironie. Sie macht die Unwahrheit, die logische Indifferenz des Wirklichen sichtbar. Ein besseres Verhältnis zur Wahrheit hat sie nicht. Seither wird auch, anstelle der Malerei, immer mehr die Musik zum Inbegriff der Künste – als die am wenigsten „positive“ unter ihnen. 
Denn das Wahre ist kein Etwas, das „ist“; sondern das, was schlechthin gelten soll. Es bezieht sich gar nicht auf die Dinge, sondern auf das, was ich tue. Es ist keine theoretische Kategorie, sondern eine ethische. Und eine ästhetische: „Die Gesetze der Moral sind auch die der Kunst“, schrieb Robert Schumann, und sprach das Programm der Romantik aus, die am Anfang der “Moderne” steht. 


Und jetzt, am Abend der “Moderne”, am Ende der “Post”-Moderne? Ist die Zeit für eine neue Romantik “reif”?



Woher kommt “romantisch”? 

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Das Wort romantic ist in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgekommen und bezeichnet die Charakteristiken der – damals spezifisch französischen – Literaturgattung le roman. Es wird eine Geschichte erzählt mit klarem Anfang und klarem Ende, in ungebundener Form, mit womöglich mehreren Handlungssträngen, Verwicklungen und überraschenden Wendungen. Der Roman unterscheidet sich vom herkömmlichen Epos dadurch, dass das Geschehen aus der Perspektive einer Hauptperson, oder doch mit Perspektive auf eine Hauptperson berichtet wird, so dass ein „roter Faden“ erkennbar bleibt. 

Das Wort selbst bezeichnet seine französische Herkunft: Eine romantz war im Mittelalter eine Erzählung, die in der „romanischen“ Umgangssprache des Volks geschrieben war – statt im gelehrten Latein. Zwar wurde sie auch – von den Troubadouren etwa – in der Versdichtung verwendet; typisch war sie aber für den formal ungebundenen erzählenden Prosatext, der in Latein nicht vorkam. So ist etwa der Perceval des Chrétien de Troyes nicht gereimt, im Unterschied zu Wolframs (jüngerem) Parzival (der vermutlich zunächst nur mündlich vorlag).

hoffmannlebensansichten1855bd2Den Brüdern Schlegel kam der Roman wegen all dieser Eigenschaften als die typische Kunstgattung der „Moderne“ vor, weshalb sie den Terminus romantisch selbstverständlich auf ihre eigenen Produktionen anwendeten. Charakteristische Weise hat es den romantischen Roman dann nie gegeben. Die Lucinde ist formal und inhaltlich schwach auf der Brust, im Ofterdingen fehlt es an jeglicher Verwicklung und jedem Funken Ironie (von andern Schwächen nicht zu reden; Novalis war ein besserer Philosoph als ein Dichter); der Godwi ist eine ebenso virtuose wie schülerhafte Stilübung „nach allen Regeln der Kunst“. Am ehesten dem ‚vollendeten’ Typus des romantischen Romans kommt der Kater Murr nahe – der, um das romantische Maß voll zu machen, Fragment geblieben ist; aber nicht, wie es scheinen mag, weil der Dichter die Handlungsknoten nicht mehr zu entwirren wusste, sondern weil er – mit der Auflösung fertig im Kopf  -  unterm Schreiben verstorben ist.

Allerdings schrieb der Verfasser des Katers Murr schon früh: Die Musik sei „die romantischste aller Künste, da ihr Vorwurf nur das Unendliche“ ist.* 

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*) E. Th. A. Hoffmann in: Fantasie- und Nachtstücke, München 1960; S. 39 

 

Ironie ist das Wesen des Romantischen.

Dass ein gelehrtes Werk wie Rüdiger Safranskis Buch über “Romantik – eine deutsche Affäre” bis an die vorderen Plätze der Bestellerlisten vordringen konnte, war selbst schon ein Zeitzeichen! 

 Safranskis Buch präsentiert sich als das Panorama einer Epoche: der deutschen Romantik. Was die Fachkritik bemängelte, nämlich dass ihm ein bisschen der rote Faden und die besondere Pointe fehle, war sicherlich die Voraussetzung für dessen Erfolg beim großen Leserpublikum. Es werden keine schwindelerregenden Interpretationen entwickelt, kein extravagantes Garn gesponnen, sondern mit kräftigen Strichen das Bild einer geistigen Bewegung entworfen, die wie keine andere die Kultur der Deutschen bis heute geprägt hat.
 
 
Im guten oder auch in einem schlechten Sinn? 
 
Dass diese Frage eine vieltausendköpfige Leserschaft bewegen konnte, eignet sich selber zu jener besonderen Pointe, an der es Safranskis Darstellung fehlt! Wenn man es nämlich als eine Antwort auffasst auf die Frage, ob unsere Zeit für eine neue Romantik “reif” ist.

Der spezifische Charakter des Romantischen sei das Ungewisse, wird Oscar Wilde zitiert. In der voran gegangenen Epoche der Aufklärung und des Rationalismus hatte es nur “noch”-Ungewisses gegeben: Morgen schon würde es gewiss geworden sein; oder doch wenigstens gewisser. Die Romantiker, die ab 1794 in Jena auftraten, meinten hingegen, dass gerade das, worauf es am meisten ankommt, seinem Wesen nach ungewiss ist.
 
Die Grundüberzeugung vom ebenso grenzenlosen wie unaufhaltsamen Fortschreiten der Erkenntnis teilen die positiven Wissenschaften mit dem Rationalismus, und müssen es. Sie haben den Siegeszug der Großen Industrie ermöglicht, dem die romantische Ungewissheit nicht lange widerstehen konnte. Dennoch war die romantische Grundhaltung der wesentlichen Ungewissheit das Moderne an der Moderne. Das positivistische Selbstvertrauen des Industriezeitalters war eine kostspielige Täuschung.
 
Wir stehen am Ende des industriellen Zeitalters und wissen nicht, was nachher kommt. Mehr Ungewissheit war nie. Kein Wunder, dass das Romantische neue Zuwendung findet. 
 
“Anything goes”?!
 
Die ‘Postmoderne’, die uns die wieder wachsenden Ungewissheiten der Welt zu einer permanenten Casting-Show verharmlosen wollte, hat fertig. Das Ungewisse ist eine ernste Sache. 

Aber nur mit Ernst, nur in Ungewissheit lässt sich das Leben nicht aushalten. Würde ich tatsächlich an Allem und Jedem zweifeln, das mir begegnet, würde ich kaum die nächste Viertelstunde über die Runden bringen. “Wohl wissend”, dass ich in einer Welt lebe, in der “nichts gewiss” ist, muss ich doch immer so tun, als ob.  Und das Bewusstsein davon, dass dies so ist, nannten die Romantiker Ironie.   

Der im Alltag eingerichtete Normalmensch, der seinen Geschäften nachgeht und auf seinen Vorteil achtet – wissend, dass, wer nehmen will, auch geben muss -; also derjenige, den die Romantiker einen Philister nannten: der kennt Ironie nur als ein Stilmittel, das ihm gelegentlich gute Dienste leistet. Der hält sich unter der Woche die Ungewissheiten auch sorgsam vom Hals und hebt sie auf für die Rateshow am Samstagabend (und es ist wahr, ihrer sind noch viele). Ironie verwenden sie nur als List, und darum misstrauen sie ihr bei allen Andern. 

Romantische Ironie ist aber eine Weltsicht. Im Wortlaut der Sätze muss sie sich gar nicht zu erkennen geben. Sie ist vielmehr die Folie, vor der sie überhaupt erst ihren… na ja, ihren “Sinn” erhalten, der eben nicht Ja ja, nein nein lautet, sondern sozusagen “in der Schwebe” ist. Und fragt man: “Meinst du das ernst?”, dann heißt es: “Wie man’s nimmt.” Den alltäglichen Verkehr erleichtert es nicht. Das war auch nicht der Ehrgeiz der Romantiker. Denn die Ungewissheit war ihnen ja nicht nur Verlust an Berechenbarkeit – den begrüßten sie gar noch! Sie war ihnen vor allem: der Gewinn neuer Möglichkeiten. Und die fangen immer erst einmal mit neuen Denkmöglichkeiten an:
 
“Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es”, lautet ein Satz von Novalis, den Safranski immer wieder zitiert. Und als den vollendeten dichterischen Vertreter dieser Ironie (die Theoretiker waren Novalis und Fr. Schlegel) nennt er völlig richtig E.T.A. Hoffmann, bei dem ein Archivarius auch mal als Salamander und eine Alraune auch als Minister auftritt. Es ist nicht so; aber wenn es so wäre?
  
Es ist witzig. Aber ist es Scherz und Laune? “Witz ist eine ernste Sache”, sagte Johann Gottlieb Fichte, in Jena der philosophische Leuchtturm der frühen, der wahren Romantik. Denn wer immer es ganz, ganz ernst nimmt mit den Sachen, findet “im Grunde” – wenn überhaupt – nur ein Paradox. Was ist ‘das Wahre’? “Wie sollte nicht jeder Satz über das Absolute und Transzendente nur unter ironischem Vorbehalt gesprochen werden dürfen? Endliches zu sagen [andere Wörter haben wir ja nicht, J.E.] über das Unendliche kann und darf nur ironisch sein. Ironie gehört deshalb in jede Philosophie, die das Ganze zu begreifen versucht”, schreibt Safranski, und schließt mit dieser Frage Friedrich Schlegels: “Ist sie nicht wirklich die innerste Mysterie der kritischen Philosophie?” 
  
Bei der Epoche, die derzeit untergeht, handelt es sich nicht bloß um zweihundert Jahre Kapitalismus und Industriezeitalter. Das Eindringen der Neuen Medien und Informationstechniken in die materiellen Fertigungsvorgänge selbst kündigt das Ende von zehn-, zwölftausend Jahren Arbeitsgesellschaft an. Doch wie bei den alten Griechen zwischen zwei Tragödien zur Erholung eine Komödie geschoben wurde, haben wir zunächst einmal die Farce der “Postmoderne” erlebt. Da war nur Geistreichelei und keine Ironie – die wäre ihr “zu ernst” gewesen. Die Frage nach dem Wahren führt nämlich erst dann in ein Paradox, das nur in Ironie zu ertragen ist, wenn man sie sich stellt. 

In diesem Sinne – dass die Zeitenwende, die auf uns zu kommt, ernst genug wird, um uns zu der Frage nach dem Wahren zu veranlassen, für deren paradoxalen Gang wir uns schon jetzt in Ironie rüsten sollten – glaube ich wirklich, dass uns eine “neue Romantik” und, wenn man es so will, eine Neue Moderne bevor steht.
    
Und weil wir Deutschen eben eine romantische, will sagen zwiespältige und paradoxale Nation sind, müssen wir uns vielleicht wieder einmal hervor tun.





Zwiespalt ist unser Nationalcharakter


Romantik ist allerdings “eine deutsche Affäre”, denn nirgends ist Ironie so nötig und in der Geschichte so gegenwärtig, wie bei uns! 

Der hervorragende Zug im deutschen Nationalcharakter ist, spätestens seit dem dreißigjährigen Krieg, seine Zerrissenheit. Was ‘das Deutsche’ sei, war daher immer umstritten. Was hat nicht alles schon – und mit demselben Recht! – als “typisch deutsch” gegolten: Pedanterie und Überschwang, Plumpheit und Poesie, Innerlichkeit und Aggression, gemütliches Selbstgefallen und himmelstürmender Größenwahn, Tiefsinn und Technik, Dumpfheit und Dialektik, Romantik und Realpolitik, der gottergebene Fleiß des Ackerviehs ebenso wie faustisches Genie; Beamtendünkel und versonnene Philosophen, Kunst und Ursprung, Dämon und Philister; Weltanschauung und Schrebergarten, Todesverachtung und Vollwertkost. Aber alles gründlich! 

Gegensätze gibt es wohl auch bei den andern. Doch als typisch wird dort jeweils nur eins von beiden gelten. Bloß für uns sind die zwei Extreme immer gleich-charakteristisch: “Dass der Deutsche doch alles zum Äußersten treibet / Für Natur und Vernunft selbst, die nüchterne, schwärmt!” heißt es in Goethes Zahmen Xenien, und die zwei Seelen, ach, in seiner Brust kann ein Deutscher gar nicht mehr nennen, ohne dass es abgedroschen klingt. ‘Das Deutsche’ ist immer auch… das Gegenteil; seinem Wesen nach offenbar unbestimmt, aber das mit aller Schärfe.
 
Die andern großen Nationen schauen sich selbst in einem lebendigen verbindlichen Menschenbild an, in dessen charakteristischen Zügen die Spuren der gemeinsamen Geschichte lesbar sind. Der englische gentleman personifiziert die historische Vereinigung von Adel und Großbürgertum zur typisch britischen Oligarchie, im französischen citoyen verbinden sich der plebejische Stolz des Sansculotten mit römischer Staatsvergötzung, der amerikanische pioneervereinigt den beengten Blickauf den nächstliegenden Vorteil mit einer kontinentalen Weite des Horizonts.

Die tausendfach zersplitterten Deutschen haben als Nationaltype lediglich den Michel hervorgebracht, und zu ihrem legitimen Repräsentanten stieg er eben nach dem dreißigjährigen Krieg auf! Michel ist das anschauliche Symbol für die Verspätung der deutschen Nationwerdung. Er verkörpert die Selbst- verachtung und das Selbstmitleid der Deutschen, er ist eine Negativfigur, derer man sich schämen muss.

Kein Wunder! Denn die Bildung eines Volkes zur Nation ist Sache eines um seinen freien Inneren Markt siegreich kämpfenden Bürgertums. Es waren aber die deutschen Städte, die vom dreißigjährigen Krieg verwüstet und entvölkert waren. Was an Bürger- tum übrig war, duckte sich ängstlich unter den Stand der Duodez-”Reichsfürsten”, denen eine deutsche Nation ein Gräuel war. Das Problem der deutschen Verspätung war das Problem unserer rachitischen Bourgeoisie. An Emanzipation war nicht zu denken, als höchstes Lebensziel konnte unser Bürger davon träumen, “bei Hofe zugelassen” zu werden. Und wie ging das? Durch Anbiederung an das höfische Beamtentum. Und das Mittel dazu war Bildung! In den Salons, in den Theatern, Museen und Musiksälen konnten sich deutsche Bürger “gleichrangig” fühlen mit den Edelleuten, und – wer weiß? – vielleicht wurde man wie Goethe und Schiller sogar geadelt. Bildung war der deutsche Ersatz für bürgerliche Befreiung.
 
Genau 200 Jahre nach dem westfälischen Frieden hat dann die Pariser Juniinsurrektion dem Professorenparlament in der Paulskirche einen solchen Schrecken eingejagt vor der “roten” Revolution, dass unserer Bourgeoisie nichts anderes übrig blieb, als unter Bismarck dem preußischen Leutnant die Stiefel zu küssen. Das waren unsere Nationaltypen: der preußische Leutnant und der deutsche Professor, und dazwischen – wankend – der Korpsbursche; Vater, Sohn und hl. Geist: die Dreieinigkeit des deutschen Gesamtphilisteriums.
 
Dagegen erwuchs vor guten hundert Jahren der Wandervogel, der zur Jugendbewegung ausuferte, zu der Jugendbewegung, die das Beiwort “deutsch” nicht braucht, weil sie sowieso einzig war. Sie knüpfte direkt und ausdrücklich an die Romantik an, und Ironie war ihr neben der Blauen Blume – wer weiß das schon noch? – gar nicht fremd; war doch ihr Ideal das vogelfreie Fahrende Volk, “ehrlos bis unter den Boden”!

Denn katzbuckelnde Spießer, rüpelnde Leutnants und dün- kelhafte Akademiker waren nie das ganze Deutschland. Nur – während die kraft- strotzenden Bourge- oisien der andern Nationen ihre produktive Energie frei in ihre Tagesgeschäfte verausgaben konnten, musste das gedemütigte niedere Volk in Deutschland seinen Drang gegen sich selber kehren, musste ‘das Ich sich setzen, indem es sich sich-selbst als Nicht-Ich entgegensetzt’! Später sollte Marx spotten, bei den Deutschen fänden Revolutionen immer nur im Geiste statt. Aber immerhin – dort fanden sie statt; statter als sonst wo!
 
Nein, der deutsche Michel ist nicht das ganze Deutschland. Dazu gehören noch Kant und Fichte, Marx und Engels, Schopenhauer und Nietzsche – lauter, mit Verlaub, radikale Denker! Diese Radikalität ist sicher nicht für jeden Deutschen typisch geworden. Aber sie kommt doch nur bei uns vor. Nämlich immer da, wo sich deutscher Tiefsinn mit abendländischem Scharfsinn paart.
 
Auch der Hang zu Endlösungen stammt freilich aus dieser Mischung, er vereint Radikalität mit Pedanterie, und das nennt er gründlich. Aber da liegt der Abgrund: Er vereint! Wirft sie zusammen in einen Topf und verrührt sie zu einer trägen Masse. Sie gehören zusammen, allerdings – aber so wie Licht und Schatten, nicht als Grauton, sondern als Spannung, als Konflikt. Und das macht uns wiederum noch ein bisschen abendländischer als unsere Nachbarn.  
Selbstverständlichkeit kennzeichnet nämlich nicht den Reichtum abendländischer Kultur, sondern die Fülle ihrer konkurrierenden Werte. Die reichste Kultur ist eine solche, wo die Anordnung, die Umordnung der Werte prozessierend immer wieder neu geschieht – im Meinungskampf der Öffentlichkeit. Es sind die Problematizität und der Widerstreit mannigfaltiger Gebote, die dieser Kultur ihren Tonus verleiht und dem Einzelnen die eigne Wahl, nämlich eine persönliche Bildung (da ist sie wieder!) zumutet. Das gibt es nur im Abendland, und in diesem Sinne kann man sagen, nirgends sei das Abendland abendländischer als zwischen Rhein und Oder, zwischen Baum und Borke; bei uns. Da, wo alles, was gilt, stets voll und ganz gelten will, und sich ipso facto in der Schwebe hält. Ich sage nicht, dass jeder Deutsche zum Ironiker taugt, ach herrje. Aber die deutsche Kultur als Ganze, ich meine: als ganzer Strom, ist selbst ironisch. Wenigstens, wenn man sie mit Abstand betrachtet.   

Aber dann – ja, dann wird man selbst zum Ironiker.

September bis November 2008

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