aus Süddeutsche.de,
Die Geheimnisse der Varus-Schlacht
Am Anfang der Erzählung "Der kleine Prinz" von
Antoine de Saint-Exupéry steht ein Bilderrätsel: Man sieht ein buckliges
Gebilde, das vielleicht einen Hut darstellen könnte - aber es ist kein
Hut, sondern eine Riesenschlange, die einen Elefanten verschluckt hat.
Was Marc Rappe, Masterstudent der Archäologie,
auf dem Bildschirm präsentiert, sieht für den Laien ähnlich rätselhaft
aus: so wie der Querschnitt durch eine Schwarzwälder Kirschtorte, deren
Schichten etwas durcheinandergeraten sind. Nur eine Schicht zieht sich
kontinuierlich durch das Bild; sie ist hellgelb, nach links und rechts
schlank auslaufend, aber in der Mitte etwas verdickt. Wie eine Schlange,
die vielleicht eine Ratte verschluckt hat.
Varus, Spross einer der ältesten und vornehmsten Patrizierfamilien Roms, war 55 oder 56 Jahre alt, als er in den Wäldern Germaniens den Tod fand. Arminius, sein Gegenspieler, war gerade mal Mitte 20. Fast könnte man Salvatore Ortisi und Marc Rappe für Wiedergänger jener Protagonisten halten, die hier vor mehr als 2000 Jahren aufeinandertrafen: Ortisi, 52, Sohn eines Sizilianers, und Rappe, 28, mit breitem Brustkorb und mächtigem blonden Vollbart - ein Ostwestfale, der auch einen prächtigen Cherusker abgäbe. Aber Ortisi und Rappe führen keine Schlachten. Sie arbeiten gemeinsam daran, die letzten Rätsel um jenes Ereignis zu lösen, das als die "Schlacht im Teutoburger Wald" im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhundert ein nationaler Mythos wurde.
Noch bis vor 30 Jahren wusste man von der Vernichtung der römischen Legionen nur von antiken Autoren. Der ausführlichste Bericht stammt von dem Senator und Konsul Cassius Dio, dem Autor einer 80 Bücher umfassenden Geschichte Roms von den Anfängen bis ins zweite nachchristliche Jahrhundert. Er schildert, wie Varus, der 7 n. Chr. den Oberbefehl über die am Rhein stationierten römischen Truppen übernommen hatte, durch sein herrisches Auftreten den Zorn der Germanen erregte: "(Er) erteilte ihnen nicht nur Befehle, als wenn sie römische Sklaven wären, sondern trieb sogar von ihnen wie von Unterworfenen Steuern ein."
Statt sich aber offen zu empören, schreibt
Cassius Dio, hätten sich die Germanen "höchst friedlich und
freundschaftlich" gezeigt, und die Römer
so "weit vom Rhein weg in Cheruskerland und bis an die Weser" gelockt.
Arminius, selbst römischer Bürger und sogar Ritter, sei dabei "Varus'
dauernder Begleiter und sogar Tischgenosse" gewesen, schreibt Cassius.
Auf dem Rückmarsch zum Rhein sei Arminius mit seinen Cheruskern dann über die Römer hergefallen. Drei Legionen, 15 000 bis 18 000 Soldaten, dazu, wie Cassius schreibt, "viele Wagen und Lasttiere, zahlreiche Kinder und Frauen, und noch ein stattlicher Sklaventross". Es muss ein kilometerlanger Zug gewesen sein, der sich bei Regen und Sturm den Weg durch den germanischen Urwald bahnte. Vier Tage lang zogen sich die Kämpfe hin, immer mehr Römer fielen den Überfällen der Germanen zum Opfer, bis Arminius mit seinen Truppen schließlich die schon deutlich dezimierten Römer umzingeln und Mann für Mann niedermachen konnte.
Über den Ort dieser Schlacht macht Cassius Dio nur vage Angaben: "Undurchdringliche Wälder", "Berge, ohne Ebenen, von Schluchten durchzogen". Eine etwas genauere Ortsangabe findet sich in den Annalen des Tacitus. Er beschreibt nicht die Varusschlacht selbst, sondern den Rachefeldzug des Germanicus im Jahr 15 n. Chr., also sechs Jahre nach Varus. Germanicus, schreibt Tacitus, "führte sein Heer bis zur äußersten Grenze der Bructerer, und das ganze Gebiet zwischen den Flüssen Amisia und Lupa, nicht weit entfernt vom Teutoburger Wald, in dem, wie es hieß, die Überreste des Varus und seiner Legionen unbegraben lagen, wurde verwüstet." "Amisia" ist die Ems, "Lupa" die Lippe.
Wo allerdings genau der "Saltus Teutoburgiensis" zu verorten ist, bleibt ungewiss. Der heutige Teutoburger Wald wurde erst im 17. Jahrhundert, eben in Anlehnung an den Tacitustext, so benannt.
Kaum einem Problem haben sich deutsche Berufs- und
Amateurhistoriker mit größerem Eifer gewidmet als der Suche nach dem
Schauplatz der Varusschlacht. Um die 700
Orte sollen es sein, die im Lauf der Jahre in Betracht gezogen wurden,
allen fehlte der archäologische Beleg. Das änderte sich erst 1987, als Tony Clunn, ein Offizier der britischen Rheinarmee, sich im Gebiet von Kalkriese, etwa 20
Kilometer nordöstlich von Osnabrück, mit einer Metallsonde auf die
Suche machte, angeleitet von Wolfgang Schlüter, dem örtlichen Stadt- und
Kreisarchäologen. Die Kalkrieser-Niewedder Senke schien gut zu passen
zu der Schlachtbeschreibungen, wie sie Cassius Dio und Tacitus geliefert
hatten: Auf der einen Seite begrenzt vom "Großen Moor", auf der anderen
vom Kalkrieser Berg, der bei starkem Regen von Sturzbächen durchzogen
und sehr unwegsam ist.
Clunn fand einen größeren Hort römischer Silbermünzen sowie einige Schleuderbleie, ein untrügliches Indiz für die Anwesenheit römischer Soldaten. In den nächsten Jahren wurde das Gelände systematisch abgesucht, der Erfolg war überwältigend: Mehr als 4000 Metallteile kamen zutage, die meisten klein und unscheinbar, aber alle römischen Militäreinheiten zuzuordnen: Gürtelschnallen und Panzerschienen, Schildbuckel, Lanzenspitzen, Zeltheringe, Sandalennägel, Maultierglocken, aber auch Küchenutensilien und chirurgische Instrumente. Im Boden fanden sich Spuren einer Wallanlage, die sich über 400 Meter verfolgen ließ, nicht geradlinig, sondern im Zickzack. Und man fand mehrere Gruben, in denen offensichtlich lange nach der Schlacht Knochen beigesetzt worden waren, darunter mehrere Schädel, die deutliche Spuren von Gewalteinwirkung aufwiesen. So viele Indizien, die nahelegen, dass dies tatsächlich der Ort ist, an dem vor 2000 Jahren die drei Legionen des Varus vernichtet wurden. Dennoch blieben Zweifel.
Den Wall, der das mutmaßliche Schlachtfeld in Ost-West-Richtung begrenzt, interpretierten die meisten Archäologen als eine germanische Anlage. Dahinter, so die Vermutung, lauerten die Cherusker den Römern auf, die wegen des dahinterliegenden Moores nicht ausweichen konnten. Aber wären, fragt Marc Rappe, die Römer wirklich in einen so plumpen Hinterhalt gelaufen, nachdem sie schon tagelang den Überfällen durch die Cherusker ausgesetzt waren? Sie schickten doch immer Spähtrupps aus, die das vor ihnen liegende Gelände erkundeten. Und der Wall lag auch, wie man noch heute gut erkennen kann, nicht unmittelbar an der Böschung des Kalkrieser Berges, sondern mitten in der Senke, die den Durchgang zwischen Berg und Moor ermöglicht. Die Römer hätten den Wall doch einfach hinterlaufen können. War der Wall vielleicht eher eine Verteidigungsanlage, wie sie römische Berufssoldaten immer aufwarfen, wenn sie ein Lager aufschlugen?
Auch Germanicus geriet bei seinem Rachefeldzug unter Druck
Um das herauszufinden, legte der Archäologe Salvatore Ortisi mit seinem Team im Sommer 2016 einen neuen Sondierungsschnitt, diesmal auf der nördlichen, dem Moor zugewandten Seite des Geländes. Denn wenn die Römer hier gelagert hätten, hätten sie sicherlich nicht nur auf einer Seite einen Schutzwall aufgeworfen. Und tatsächlich: Da war diese Schicht gelben Sandes, an einer Stelle verdickt, nach Norden und Süden zerfließend, die für das Archäologenauge den Überrest einer von Menschen verursachten Aufschüttung darstellt. In einer dünnen Schicht lag ein Holzstück, das sich mit der C-14-Methode auf das erste nachchristliche Jahrhundert datieren ließ. In diesem Sommer wird Salvatore Ortisi einen zweiten Schnitt anlegen, etwas weiter westlich. Wenn seine Vermutung stimmt, müsste er auch dort auf eine Spur der Wallanlage stoßen. "Wenn wir da nichts finden", sagt er, "ist die Sache erledigt. Aber wenn da was kommt, dann muss man umdenken."
Dann bleibt aber immer noch die Frage, ob es auch wirklich die Truppen des Varus waren, die sich hier mit den Germanen eine Schlacht lieferten. Denn Tacitus berichtet davon, dass auch die Legionen des Germanicus auf ihrem Rachefeldzug sechs Jahre später in heftige Gefechte mit den Cheruskern verwickelt wurden. Germanicus hatte seine Truppen getrennt: Vier Legionen fuhren in Schiffen die Ems abwärts zur Nordsee, die anderen vier marschierten unter dem Kommando des Legaten Caecinus nach Westen zum Rhein. Diese wurden, wie Tacitus berichtet, bei den pontes longi , den "langen Brücken" von Arminius attackiert und konnten sich nur unter schweren Verlusten zurückziehen.
Könnte die Kalkrieser Senke nicht auch der Schauplatz dieses Rückzugsgefechts gewesen sein? Die pontes longi waren Knüppeldämme, die von den Römern über die Sumpfgebiete Germaniens angelegt wurden - das würde also auch gut zu dem Kalkrieser Schauplatz passen. Aber es gab bisher keine Möglichkeit, Metallgegenstände so präzise zu datieren, dass sich zeitlich so nahe Daten wie 9 und 15 n. Chr. unterscheiden lassen. Die gängige Methode der Datierung über Münzfunde funktioniert hier nicht. Die Soldaten des Germanicus hatten die gleichen Asse, Sesterzen und Denare in ihrem Geldbeutel wie die des Varus.
Aber Stefan Burmeister und Heidrun Derks, der Ausstellungskurator und die Museumsleiterin im Varusschlacht-Museum in Kalkriese, haben einen Plan, wie man dem Geheimnis der römischen Legionen auf die Spur kommen kann. Viele Ausrüstungsgegenstände der Truppen waren aus Buntmetallen in verschiedenen Legierungen hergestellt. "Wir können davon ausgehen, dass an jedem militärischen Standort der Römer eigene Schmiedewerkstätten für die Instandhaltung von Waffen und Ausrüstung zuständig waren", sagt Burmeister. Dort wurden unbrauchbar gewordene Metallteile eingeschmolzen und wiederverarbeitet.
Je länger eine Einheit an einem Standort lag, desto deutlicher bildete sich eine Art metallurgischer Fingerabdruck heraus, der sich heute durch massenspektrometrische Analysen abbilden lässt. Die Legionen des Varus waren zum Teil schon seit Jahrzehnten am Rhein stationiert. Die Truppen des Germanicus dagegen kamen nach der Vernichtung der Varus-Legionen aus weit entfernten Gebieten, aus Hispanien und Pannonien. "Wir hoffen, dass wir durch metallurgische Analysen die Frage nach der Herkunft der in Kalkriese untergegangenen römischen Einheiten beantworten können", sagt Burmeister.
In einem von der VW-Stiftung finanzierten Forschungsprojekt sollen jetzt 600 Fundstücke aus Kalkriese im Bergbaumuseum Bochum analysiert und mit Buntmetallproben von anderen Fundplätzen verglichen werden. Wenn die Ergebnisse vorliegen, dann ist, so hoffen es die Archäologen, das Rätsel der Varusschlacht seiner Lösung einen Schritt näher gekommen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen