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aus derStandard.at, 6. August 2017, 12:02
Wachstum ohne Biss:
Warum Ökonomen den Wohlstand bedroht sehen
Die Welt kämpft mit dem langsamsten Produktivitätsanstieg in 60 Jahren.
Experten streiten darüber, was die genaue Ursache dafür ist. Vier Thesen
zu einer globalen Herausforderung
Bericht von András Szigetvari
Manuel Bruschi hat der Selbsttäuschung den Kampf angesagt und dafür 1,2
Millionen Euro aufgetrieben. Der 28-jährige Südtiroler hat mit drei
Kollegen "Zei" entwickelt. Dem achtseitigen Würfel lassen sich
verschiedene Aktivitäten zuordnen, wie Teambesprechung, Recherche,
Kaffeepause, Kollegentratsch.
Jedes Mal, wenn der faustgroße Würfel gedreht wird, überträgt er die
Zeit für die aktuelle Tätigkeit auf eine App oder ein Computerprogramm.
Damit lässt sich exakt bestimmen, wie wir den Arbeitstag verbringen. Der
Würfel soll den Büroalltag produktiver machen. "Was wir nicht messen,
können wir schlecht verbessern", sagt Bruschi. Wer seinen Tag erst
später dokumentiert, tendiere dazu, sich selbst zu belügen.
Das Grazer Start-up hinter dem Würfel hat bereits besagte 1,2 Millionen
von Investoren aufgetrieben, ist mit Auszeichnungen überhäuft worden und
expandiert gerade in die USA. Zei trifft den Nerv der Zeit. Kaum eine
Frage gibt Ökonomen weltweit derzeit so viele Rätsel auf wie jene, wie
wir wieder produktiver werden können. Die Welt kämpft mit dem
langsamsten Produktivitätsanstieg in 60 Jahren.
Kaum Innovation
Das Problem wirkt auf den ersten Blick nicht akut. Zuletzt sind die
Wachstumsraten in Europa wie in den USA gestiegen. Die Konjunktur in
Österreichs zieht sogar kräftig an. Doch glaubt man Ökonomen, sind
Nachzieheffekte am Werk: Nach Ausbruch der Krise 2008 investierten
Unternehmen jahrelang wenig. Viele holen das nun nach. Damit steigt die
Beschäftigung. Wenn mehr Menschen arbeiten, produzieren sie mehr
Computer, Pkws, Smartphones; die Wirtschaftsleistung steigt. Das
niedrige Zinsniveau und das billige Öl stützen die Konjunktur
zusätzlich.
Doch der Beitrag von Innovation zum Aufschwung tendiert gegen null.
Ökonomen können das Wirtschaftswachstum in Einzelteile zerlegen und
jenen Teil des Zuwachses herausrechnen, der nur entsteht, weil mehr
Menschen arbeiten gehen oder Investoren mehr Geld für Maschinen
ausgeben. Der Rest des Wachstums beruht darauf, dass Unternehmen bessere
Maschinen einsetzen, Arbeitnehmer und Management mehr Know-how
erwerben, dass die Gesellschaft also innovativer wird.
Strohfeuer
Ökonomen messen diesen Fortschritt mit einer Kennzahl, der Totalen
Faktorproduktivität (TFP). Das TFP-Wachstum ist weltweit eingebrochen.
In Österreich stieg die TFP zwischen 1961 und 1970 im Schnitt um 3,3
Prozent pro Jahr an. Das Jahrzehnt darauf waren es nur noch 1,3 Prozent –
zuletzt trat Stagnation ein. In den USA, Deutschland, Italien, Japan
ist die Entwicklung ähnlich.
Für die Industrieländer ist das ein Problem. Wachstum entsteht, wenn die
TFP zulegt oder die Zahl der Beschäftigten wächst. Letzteres ist aus
demografischen Gründen nur moderat möglich. Daher ist heute unklar, wie
Wirtschaftskraft und Wohlstand steigen können, wenn das aktuelle
Strohfeuer vorbei ist.
"Wenn wir über die kommenden zehn Jahre die Produktivität nicht deutlich
erhöhen können, werden unsere Gesellschaften massive Schwierigkeiten
haben, für Gesundheitsversorgung und Pensionen zu bezahlen", sagt die
Chefökonomin der OECD, Catherine Mann, im STANDARD-Gespräch.
Wer das Produktivitätsproblem lösen will, muss die Ursache kennen. Das
ist schwierig, weil die Entwicklung nicht vorhergesagt wurde. Noch vor
ein paar Jahren wurde für die Zukunft ein Innovationsschub
prognostiziert. Vier Thesen für Entwicklung lassen sich dennoch
ausfindig machen. Die erste These führt nach Washington, in die Zentrale
des Internationalen Währungsfonds (IWF).
These 1: Die Altlasten sind's
Der Ökonom Romain Duval sitzt im hinteren Eck der IWF-Lobby in der 19th
Street. Vor ihm liegen Unterlagen mit zahllosen Grafiken. Sie sind das
Ergebnis einer monatelangen Suche.
Duval und seine Kollegen vom IWF haben Daten aus hunderten Ländern
zusammengetragen. Sie haben Experten aus aller Welt einfliegen lassen
und ihren Thesen über Innovation gelauscht. Heute glauben Duval und
seine Kollegen, einen Schuldigen für die Entwicklung der vergangenen
Jahre gefunden zu haben: die Finanzkrise.
Je stärker der Bankensektor in einem Land kollabiert ist, umso stärker
war der Produktivitätseinbruch. Das zeigen die Auswertungen Duvals. Die
mögliche Erklärung: Wo Banken nur mehr mit Aufräumarbeiten in ihren
Bilanzen beschäftigt waren, haben sie kaum noch Kredite vergeben.
Unternehmen waren jahrelang von Finanzierung abgeschnitten.
Sie haben Kosten gesenkt, anstatt Geld in neue Software und Maschinen zu
stecken. Eine andere Analyse zeigt, dass der Technologiefortschritt
dort am stärksten einbrach, wo Staaten stark gespart haben. Deshalb
entwickelt sich die Produktivität in Europas Süden, in Italien und
Spanien, schleppender als im Norden.
Das IWF-Rezept lautet: Wo es möglich ist, muss wieder mehr investiert
werden. Banken, die immer noch Bilanzen reparieren, sollten dazu
gebracht werden, schneller voranzukommen.
Doch Duvals Thesen sind lückenhaft. Der messbare Schöpfergeist in der
Wirtschaft hat lange vor der Krise zu sinken begonnen, die Entwicklung
hat sich bloß beschleunigt. Duval sagt, dass seine Ergebnisse nur ein
Drittel der Entwicklung seit 2008 erklären können. Zudem sind auch
Schwellenländer wie China und Indien davon betroffen, dass die
Produktivität langsamer steigt, obwohl Banken dort nicht kollabierten.
These 2: Elite bleibt unter sich
Die Suche nach weiteren Antworten führt nach Paris, zur
OECD-Chefökonomin Mann. Ihre Mitarbeiter haben Millionen von
Unternehmensdaten ausgewertet und dabei eine erstaunliche Entdeckung
gemacht.
Zwischen Unternehmen ist eine Kluft entstanden, die vor wenigen Jahren
nicht existierte. Es gibt eine globale Elite, Marktführer in ihrer
Branche, die heute größere Innovationszuwächse verbuchen als in den
vergangenen Jahren. Google und Amazon wären solche Unternehmen.
Demgegenüber stehen immer mehr Firmen, die nicht vom Fleck kommen.
"Weltweit gibt es in 95 Prozent der Unternehmen kein
Produktivitätswachstum mehr", sagt Mann.
Sie ist der Überzeugung, dass der Mechanismus zusammengebrochen ist,
durch den kleinere und mittlere Unternehmen von den großen Playern
lernen können.
Die OECD hat ausgerechnet, dass die Produktivität der 100 dominierenden
Dienstleister aus diversen Branchen seit dem Jahr 2000 im Schnitt um
fünf Prozent gestiegen ist. Unter allen anderen Firmen ist die
Produktivität um 0,1 Prozent pro Jahr gesunken.
Eine mögliche Ursache dafür ist, dass zu viele unproduktive Unternehmen,
die am Rande des Zusammenbruchs stehen, gerade noch überleben. Diese
Firmen saugen Kapital und Arbeitnehmer auf, investieren aber kaum. Sie
erschweren neuen Firmen den Markteintritt. In manchen Branchen fehlt der
Wettbewerb, glaubt die OECD, und zwar dort, wo Monopole den Markt
kontrollieren oder der Staat ganze Branchen abschottet.
Die OECD-Experten untersuchen gerade, wie Marktführer wie Google und
Apple ihre Gewinne einsetzen. Investieren sie genügend in Innovation,
oder kaufen sie primär kleinere IT- und Techunternehmem auf und nutzen
deren Produkte? Der zweite Fall wäre eine weitere Erklärung für aktuelle
Entwicklungen.
Die OECD glaubt aber auch, dass manche Länder es nicht schaffen,
Unternehmen hervorzubringen, die am Weltmarkt führend mithalten können.
Ein Beispiel dafür wäre Italien. In andere Staaten fehlt Arbeitnehmer
oft die Ausbildung, die von den innovativsten Firmen nachgefragt werden.
Die Ökonomin Mann sagt, dass die zunehmende Ungleichheit bei den
Lohneinkommen wesentlich durch die Produktivitätskluft erklärbar ist.
Wenige Topfirmen zahlen immer besser, die anderen können sich das nicht
leisten. Das OECD-Rezept lautet: Jedes Land muss eine Strategie
entwickeln. Für viele gilt es, mehr Wettbewerb zu erlauben und
abgeschottete Sektoren zu öffnen. Zielgerichtetere Ausbildungspolitik
und rasche Konkursverfahren sollten helfen.
These 3: Die Ideen fehlen
Die Thesen der OECD teilen nicht alle. Der Ökonom Robert Gordon von der
Northwestern University in Illinois gilt als Sprachrohr für eine Gruppe
von Experten, die denken, dass der Menschheit die wachstumsbringenden
Ideen ausgegangen sind.
Die ständig neuen Produkte in der Unterhaltungselektronik, die vielen
Start-up-Erfindungen, hätten nicht das Potenzial, das Wirtschaftsleben
umzukrempeln, so die These. Es gebe nichts mehr, was das Leben ähnlich
revolutioniert wie die Entdeckung der Elektrizität oder des Flugzeuges.
Gordon sagt, die OECD liege falsch: Innovation sei schon immer auf
einige Marktführer konzentriert gewesen. So war einst Ford das
Epizentrum des technischen Fortschritts. Die OECD-Zahlen reichen
tatsächlich nur in die 1980er-Jahre zurück, decken also nur jüngste
Entwicklungen ab.
Dass es ein Problem bei der Übertragung neuer Technologien auf das
Wirtschaftsleben gibt, sagen auch Ökonomen wie Klaus Weyerstrass vom
Institut für Höhere Studien, der Gordons Thesen nur begrenzt etwas
abgewinnen kann. In Österreich etwa ist das Produktivitätswachstum
niedrig, während Forschungsausgaben noch nie höher waren.
Gordons Rezept: Statt Innovation zu forcieren, muss die Welt ärmere und
vom Wirtschaftsleben ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen einbinden,
damit sie zu mehr Wachstum beitragen.
These 4: Die Löhne sind's
Die vierte These schlägt aktuell hohe Wellen. Der Ökonom Joshua Mason
vom New Yorker Roosevelt Institute, einem liberalen Thinktank, hat ein
Paper veröffentlicht, in dem er alle bisherigen Theorien auf den Kopf
stellt. Gordon, der IWF, die OECD untersuchen, warum Unternehmen nicht
mehr Innovation anbieten. Mason dagegen meint, das wahre Problem sei die
schwache Nachfrage.
So wäre in den USA die verhaltene Lohnentwicklung für die desaströse
Produktivitätsentwicklung verantwortlich. "Unser Problem ist nicht, dass
Maschinen die Arbeit ersetzen, weil Löhne zu hoch geworden sind.
Vielmehr ist es so, dass Maschinen Arbeit nicht ersetzen, weil die Löhne
zu niedrig sind", schreibt Mason.
In der Zeit nach 1945 seien Unternehmen immer dann produktiver geworden,
wenn zuvor die Löhne angestiegen sind und Arbeit ersetzt werden
mussten. Dann kamen neue Entwicklungen auf den Markt. Menschen verloren
zunächst ihre Jobs. Weil der Wohlstand aber insgesamt stieg, fanden sie
in der Regel sogar besser bezahlte Arbeit. Dieser Mechanismus
funktioniere nicht mehr. Die Pro-Kopf-Löhne sind in den USA zuletzt kaum
noch gestiegen, der Lohnanteil an der Wirtschaftsleistung ging zurück.
In vielen europäischen Ländern waren die Entwicklungen ähnlich, wenn
auch nicht so drastisch.
Masons Rezept lautet: Die Löhne müssen über die kommenden Jahre stärker
steigen, als dies dem Wachstum entspricht, um die Entwicklung zu
korrigieren.
Auch gegen diese These lässt sich etwas einwenden. Ökonom Weyerstrass
meint, dass Unternehmen in Technologien investieren, um sich von
Mitbewerbern abzugrenzen und Märkte zu erobern. Die Lohnentwicklung sei
einer von vielen Faktoren, der den jüngsten Trend nicht erklärt.
Die Produktivitätsentwicklung hat zuletzt eine Spur angezogen, auch in
Österreich. Ein richtiger Aufschwung ist das aber noch nicht. Die
Spurensuche wird also weitergehen. Das Umfeld bleibt für Produkte wie
Zeit, die versprechen uns effizienter werden zu lassen, günstig.
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