Freitag, 25. August 2017

Ich ganz wichtig.



Die Identitätspolitik hat die amerikanische Linke in eine tiefe Krise geführt,

schreibt Mark Lilla am 17. 8. in einem längeren Essay für die Neue Zürcher, in dem er die Gedanken des Interviews mit der Wiener Presse ausführt, das ich vorgestern wiedergegeben habe.

Ronald Reagan machte praktisch im Alleingang die Ideale des New Deal zunichte, an denen wir uns so lange orientierten. Franklin Roosevelt hatte uns ein Land vor Augen gestellt, dessen Bürger sich zusammenschlossen, um gemeinsam eine starke Nation aufzubauen und einander gegenseitig zu schützen. Die Schlüsselworte waren Solidarität, Chancen und Engagement. Reagan stand für ein individualistischeres Amerika, dessen Bürger, von den Fesseln des Staats befreit, prosperieren würden; Eigenverantwortlichkeit und minimale Lenkung von oben waren nun die Devise. 

"Die Linke", schreibt er, habe dem nicht widerstehen können, weil sie der damals aufkommenden Losung Das Private ist politisch erlegen war.

Geprägt wurde der Satz von Feministinnen der 1960er Jahre, und er fing die damalige Denkweise der neuen Linken perfekt ein. Ursprünglich wurde er dahingehend ausgelegt, dass alles, was rein privat erscheint – die Sexualität, die Familie, der Arbeitsplatz –, faktisch politisch ist und dass es keine Lebensbereiche gibt, die frei von Machtkämpfen sind. Das machte die Formulierung so radikal; sie elektrisierte diejenigen, die ihr zustimmten, und verstörte alle anderen.

Aber es gab auch eine romantischere Lesart: dass nämlich das, was wir für politisches Handeln halten, tatsächlich nur eine persönliche Aktivität ist, ein Ausdruck dessen, was ich bin und wie ich mich definiere. Wie wir heute sagen würden: eine Ausprägung meiner Identität.

Im Lauf der Zeit gewann diese romantische Auslegung die Oberhand über die radikale. In der Linken setzte sich die Idee fest, dass – um die Formel umzukehren – das Politische das Persönliche ist. Linksliberale und Progressive kämpften weiterhin für soziale Gerechtigkeit in der Welt. Aber nun verlangten sie auch, dass es keine Trennung mehr geben sollte zwischen dem, was sie innerlich fühlten, und dem, was sie draussen in der Welt taten. Sie wollten, dass ihr politisches Engagement abbildete, wie sie sich als Individuen verstanden. Und sie wollten, dass diese Selbstdefinition anerkannt wurde. 

Traditionell habe "die Linke" die Mensch vereinen und nicht unterteilen wollen 

All das begann sich zu ändern, als in den 1970er Jahren die neue Linke zu Bruch ging – auch und gerade wegen Identitätsfragen. Schwarze beklagten sich, dass die weissen Führer der Bewegung rassistisch seien, Feministinnen warfen ihnen Sexismus vor, Lesben fanden die heterosexuellen Feministinnen homophob. Die grossen Feinde waren nicht mehr der Kapitalismus und der militärisch-industrielle Komplex. Es waren Mitstreiter, die, salopp gesagt, nicht genügend auf Zack waren. 

In einer poltischen Partei wirkten die unterschiedliche Kräfte zentripetal und letzten Endes zusammen. 

Bei politischen Bewegungen sind die Kräfte allesamt zentrifugal, führen zur Aufsplitterung in immer noch kleinere Faktionen, die von einzelnen, genau definierten Zielsetzungen und ideologischem Superioritätsdenken besessen sind. Symbole gewinnen eine unverhältnismässige Bedeutung.

Die Resultate dieses Wandels sind nun evident: Das klassische demokratische Konzept, Menschen unterschiedlichster Herkunft hinter ein einziges gemeinsames Anliegen zu scharen, ist einer Pseudopolitik gewichen, die sich in Selbstbespiegelung und Selbstbehauptung erschöpft. Und was diese Tendenz am Leben hält, ist die Tatsache, dass sie an den Colleges und Universitäten kultiviert wird, wo die linksliberale Elite ihre Ausbildung erhält.

Nach Reagans Wahlsieg im Jahr 1980 schwärmten konservative Aktivisten aus, um das neue Evangelium des Individualismus, des Small Government und des freien Marktes zu predigen; sie setzten ihre Energien daran, an abgelegenen Orten Regional-, Bundesstaats- und Kongresswahlen zu gewinnen. Auch einstige Aktivisten der neuen Linken waren unterwegs; die allerdings nahmen andere Abzweigungen vom Highway und peilten die Städte an, wo Universitäten und Colleges zu finden waren.

Die Konservativen konzentrierten sich darauf, Wähler der Arbeiterklasse für sich zu gewinnen, die einst den Demokraten nahegestanden hatten – eine Bottom-up-Strategie. Die Linke dagegen fokussierte darauf, die Meinungen der Kader und der Parteielite zu transformieren – eine Top-down-Strategie. 

"Die Linke", das ist für Lilla offenbar die Demokratische Partei, die sich während der Großen Depression mit den Gewerkschaften verbandelt hatte und ihre Wähler unter den städtischen Arbeitern suchte. 

Ihre politische Erziehung findet heute auf dem Campus statt, in sozialer wie geografischer Hinsicht fern vom Rest des Landes – und insbesondere von ebenjenen Leuten, die einst das Fundament der Demokratischen Partei bildeten. Und der politische Katechismus, der dort gelehrt wird, ist ein historisches Artefakt, das eher die spezifische Erfahrung der Achtundsechziger als die Realitäten heutiger Machtpolitik reflektiert.

Für diese Studenten – die künftige Elite – ist die Grenze zwischen Selbsterforschung und politischem Handeln diffus geworden. Ihr politisches Engagement ist aufrichtig, aber fest eingehegt in den Grenzen ihrer Selbstdefinition. Was diese Grenzen zu verletzen droht, wird als Bedrohung wahrgenommen, und weil Politik für diese jungen Leute etwas Persönliches ist, ist sie tendenziell absolutistisch. Angelegenheiten, die nicht ihre Identität tangieren oder ihresgleichen betreffen, werden kaum wahrgenommen. Und klassische linksliberale Ideen wie Bürgersinn, Solidarität und Gemeinwohl bedeuten ihnen wenig. 

In den letzten zehn Jahren hat sich eine neue und sehr aufschlussreiche Redewendung, die ihren Ursprung in den Universitäten hat, in den Massenmedien etabliert: «Ich als X . . .» Das ist keine leere Floskel; es errichtet einen Schutzwall gegen Fragen, die aus einer anderen als der X-Perspektive kommen. Früher hätte eine Diskussion im Klassenzimmer vielleicht mit den Worten begonnen: «Ich denke A, und dies aus den folgenden Gründen.» Heute heisst es: «Ich als X fühle mich beleidigt, weil du B behauptest.» Anstelle einer Auseinandersetzung findet eine Tabuisierung konträrer Denkweisen und Meinungen statt.

Aber kaum hatte diese Generation die Macht an den Hochschulen übernommen, begann sie die linksliberale Elite zu entpolitisieren. Der Gedanke ans Gemeinwohl wurde dieser ebenso fremd wie die Frage, auf welche Weise es in der Praxis zu gewährleisten wäre – und noch ferner lag ihr das zähe und glanzlose Bemühen, ganz anders denkende Menschen davon zu überzeugen, sich hinter ein gemeinsames Anliegen zu stellen.

Jeder Fortschritt des linksliberalen Identitätsbewusstseins bedeutet also – dies sei in aller Deutlichkeit gesagt – einen Rückschritt des linksliberalen politischen Bewusstseins.

Black Lives Matter ist ein Paradebeispiel dafür, wie man Solidarität zerstört statt aufbaut. Die Bewegung hatte die Misshandlung von Afroamerikanern durch die Polizei angeprangert: Das war ein Weckruf für jeden Amerikaner, der ein Gewissen in sich trägt. Aber als die Bewegung diese Misshandlungen zur Basis einer grundsätzlichen Anklage gegen die amerikanische Gesellschaft machte und öffentliche Beicht- und Bussrituale zu fordern begann, spielte sie damit lediglich den Republikanern in die Hände.

Ich bin kein dunkelhäutiger Autofahrer, und ich werde nie wissen, wie er sich am Steuer fühlt. Umso wichtiger wäre es, dass ich mich auf irgendeine Weise mit diesen Menschen identifizieren kann; und die Tatsache, dass wir beide amerikanische Bürger sind, ist das Einzige, was wir mit Sicherheit gemeinsam haben. Je mehr die Differenzen zwischen uns herausgestrichen werden, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass ich mich empöre, wenn er misshandelt wird.

Die Identitätspolitik hat einzig bewirkt, dass die Konservativen unsere Institutionen immer fester im Griff haben. Es wäre höchste Zeit, dass die Linksliberalen eine Spitzkehre machen und sich wieder zu ihren Kernprinzipien bekennen: Solidarität und gleiche Chancen für alle. Nie hat das Land dies mehr gebraucht.

Mark Lilla ist Professor für Ideengeschichte an der Columbia University, New York. Der Text beruht auf seinem Buch «The Once and Future Liberal», das eben im Verlag Harper erschienen ist. Aus dem Englischen von as.


Nota. - Links und Rechts sind in Amerika wie so vieles andere Importe aus Europa. In Europa war die Linke durch ihre Nähe zur Revolution definiert, der Großen Französischen zuerst und der roten proletarischen ab Juni 1848; rechts waren die Antirevolutionäre. Die beiden großen Parteien der USA berufen sich dagegen beide gleichermaßen auf ihre, die Amerikanische Revolution, den Unabhängigkeitskrieg gegen die britische Krone. Eine Unterscheidung zwischen (gesellschaftlich) konservativ und (gesellschaftlich) fortschrittlich gabe es gar nicht, sondern eher zwischen Befürworten einer starken Zentralregierung und den Anhängern lokaler Autonomie.

Denn was in Europa die Soziale Frage war, war an den Städten der Ostküste ein Problem der armen und rechtlosen Einwanderer; sozialistische und anarchistische Gruppen gediehen nur dort, aber die offene frontier war das Ventil, durch das die Energien der Klassenkämpfe - so gewaltsam sie auf lokaler Ebene auch immer wieder waren - ins Go west! umgeleitet wurden. Progressive nannten sich dagegen die Vertreter der ländlichen Volksgruppen, die isolationistisch, imperialistisch und rassistisch gestimmt waren - und in der Wirtschaftspolitik auf regulierenden Eingriff des Staates hofften.

Die andere, akutere Soziale Frage war die Sklaverei im Süden. Abraham Lincoln war der erste Präsident, der aus den Reihen der - damal noch neuen - Republikaner kam. Die Demokraten dagegen, die es unter wechselnden Namen seit Thomas Jefferson gibt, waren ein Sammelbecken der Sklavenhalter und Rassisten, und so in den Südstaaten bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts.

Und eine Trennung in Links und Rechts hat auch nach dem Ersten Weltkrieg, auf den eine neue Welle des Isolationismus folgte, nicht staatfinden können: Die Oktoberrevolution hat in der Tiefe der amerikanischen Gesellschaft lediglich the Red Scare hervorgerufen, die Stimmung war in allen Lagern - cf. den Fall Sacco und Vanzetti - so reaktionär und repressiv wie selten zuvor. Was Mark Lilla "die Linke" nennt, ist überhaupt erst als Folge der Großen Depression der 30er Jahre entstanden, als sich  Industriegewerkschaften bildeten, die nicht ständisch-exklusiv waren und sich für Ungelernte und... Schwarze öffneten: Das Rassenproblem war im Lauf der Great Migration von einem lokal südstaatlichen zu einem national amerikanischen Problem geworden.

Die politische Antwort war die Politik des New Deal unter dem demokratischen Präsidenten F. D. Rosoevelt, ihr Vordenker war der Pädagoge und pragmatistische Philosoph John Dewey. Er prägte das Schlagwort von New Liberalism, der, anders als der traditionelle Wirtschaftsliberalismus der Demokraten, einsah, dass ein Staat auf der Freiheit des Individuums nur dann aufgebaut sein kann, wenn die Individuen die sachlichen Mittel haben, sich ihrer Freiheit zu bedienen. Es heißt, es sei die amerikanische, klassenlose Variante der europäischen Sozialdemokratie gewesen. Leo Trotzki erkannte dagegen im massiven Staatsinterventionismus des New Deal und der Kumpanei mit den Apparaten des Gewerkschaftsbunds CIO das gesellschaftspolitische Pendant zu den Programmen der europäischen Faschismen: letzte Verteidígungslinien gegen die drohende Weltrevolution.*

Anders als in Europa war die Linke in Amerika nie die politische Form einer realen Klassenbewegung, sondern der ideologische Firnis einer besonderen Spielart bürgerlicher Politik. In Europa ist mit der Arbeiterbewegung die eine untergegangen, in Amerika mit dem Ende des Vietnamkriegs die andre. Übrig bleibt das Lamento und die Selbstbespiegelung.

Um die "kleinen Leute" buhlen wie eh und je Populisten aller Couleur, und wenn sie sonst auch in den verschiedensten Nuancen schillern: Sie eint, dass die Farbe der Liberalität bei ihnen fehlt. Auch die europäische Arbeiterbegung war libertär** nur dort und solange, wie sie revolutionär auftrat; der refomistischen Sozialdemokratie lag der fürsorgliche Staat immer näher als die Selbstbestimmung der Individuen. Mark Lilla trauert einer Illusion hinterher.

Ansonsten hat er Wort für Wort Recht. 
JE

*) Das hat John Dewey nicht gehindert, in Mexico-Stadt dem Gegenprozess vorzusitzen, der Leo Trotzki von den Anschuldigungen der Moskauer Prozesse freigesprochen hat.

**) Diese ursprünglich europäische Vokabel bezeichnete die politische Philosophie des Anarchismus. Seit dem New Deal gilt in Amerika als liberal ein Sozialdemokrat. Den dortigen Marktradikalen reichte die Wortschöpfung neoliberal nicht aus, libertarians nennen sich dort heute die entschieden staatsfeindlichen Altliberalen.



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