Dienstag, 5. November 2019

Muss China zusammenbrechen?

aus nzz.ch, 5.11.2019                                                         

Auch die chinesische Mauer bröckelt: 
Warum der Einparteistaat des Reichs der Mitte keine Zukunft hat
Der Fall der Berliner Mauer hat zu einer neuen Ära der Freiheit in Europa geführt, während die Herrscher Chinas ein auf Unterdrückung aufbauendes ökonomisches Kraftzentrum schufen. Doch gerade die Ereignisse von 1989 zeigen, dass der Einparteistaat zum Scheitern verurteilt ist.

von Niall Ferguson

30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist zu konstatieren, dass wir 1989 auf kindische Weise falsch lagen.

Wir hatten geglaubt, dass freie Märkte und freie Bürger Hand in Hand marschierten. Als Ronald Reagan seinem russischen Kollegen zurief: «Mr Gorbachev, tear down this wall», hatten wir gejubelt. Und nur zwei Jahre nach dieser Rede sahen wir uns bestätigt. Doch während wir den Zusammenbruch des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa fröhlich feierten, unterschätzten wir die Bedeutung seines Überlebens in China vollkommen.

Inzwischen scheinen die Erweiterung der EU und jene der Nato – ja sogar der Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 – historisch weit weniger bedeutsam zu sein als Chinas spektakulärer Aufstieg nach 1989. Zur Erinnerung: 1989 betrug das Bruttoinlandprodukt Chinas 8,2 Prozent des amerikanischen BIP. Heute liegt es laut Internationalem Währungsfonds bei 66 Prozent.

Kaufkraftbereinigt ist Chinas Wirtschaft tatsächlich grösser als die der USA – und das seit 2014. Die Sowjetunion erreichte nie auch nur annähernd einen solchen Wert. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges Mitte der 1970er Jahre lag ihre Wirtschaftsleistung bei 44 Prozent des amerikanischen BIP.
Jahrelang redeten wir uns ein, China werde schliesslich der Umarmung des Westens erliegen. Das Internet, träumten wir, werde den Ausschlag geben. Falls China versuchen würde, es zu regulieren, käme diese Bemühung dem Versuch nahe (in Anlehnung an Bill Clintons berühmten Spruch), «einen Pudding an die Wand zu nageln». Das hat sich als absolut falsch erwiesen.
 
Die sieben Lektionen

Doch ich glaube den Leuten einfach nicht, die uns heute erzählen, China sei mithilfe von Big Data, Gesichtserkennungstechnologie und künstlicher Intelligenz (KI) dabei, den Totalitarismus – ganz zu schweigen von der Planwirtschaft – wiederzubeleben. Diese Sichtweise verkennt sicherlich die sieben zentralen Lektionen von 1989.

1. Das Sowjetreich war unangreifbar, solange es zu wachsen imstande war. Als in den 1970ern mit schrumpfender Produktivität Stagnation einsetzte, begann das System zu verfallen. Zwischen 1973 und 1990 verlief das Wachstum pro Kopf negativ. Wenn China langsamer wird, was entsprechend dem demografischen und finanziellen Gegenwind zwangsläufig eintreten muss, wird es ebenfalls zur Desillusionierung der Bevölkerung kommen – genau wie im damaligen Ostblock.

2. Wachstum bringt gewöhnlich eine Mittelklasse hervor, und diese Mittelklasse will mehr als hohle Phrasen – selbst wenn sie keine Demokratie erwartet. Von ein paar Arbeitern abgesehen – am offenkundigsten Lech Walesa – waren die Dissidenten, die das anführten, was Timothy Garton Ash als «Refolution» (eine Mischung aus Revolution und Reform) beschrieb, bürgerliche Intellektuelle: beispielsweise Vaclav Havel in der Tschechoslowakei oder Bronislaw Geremek in Polen. Auch im heutigen China gibt es solche Leute – man denke nur an den Künstler Ai Weiwei –, und ihre tiefe Unzufriedenheit mit dem Einparteistaat ist im Grunde wesensgleich mit der ihrer mitteleuropäischen Vorläufer.


3. Korruption, Ineffizienz und Umweltzerstörung sind zentrale Merkmale eines Einparteistaats ohne rechtsstaatliche Kontrolle. In einem grundlegend korrupten System ohne echte Verantwortlichkeit wird sogar eine Antikorruptionskampagne korrupt. Was der Harvard-Ökonom Andrei Shleifer als «raffende Hand» bezeichnet hat, wird immer raffen. Wenn die Partei über dem Gesetz steht, wird sie zur Gesetzlosigkeit tendieren.

4. Einen Staat, der an Legitimation verliert, wird keine noch so umfassende Überwachung am Leben erhalten. Die Stasi brauchte keine KI, um so ziemlich alles zu wissen, was in der DDR vor sich ging: Dort verliess man sich auf ein ausgedehntes Netzwerk von Teilzeitspionen und Schnüfflern, die mit wahrhaft Orwellschem Euphemismus als «inoffizielle Mitarbeiter» bezeichnet wurden. Doch das Wissen darum, was die Leute in der vermeintlichen Privatsphäre ihrer Wohnungen dachten, konnte das System nicht retten. Im Gegenteil.

5. In einem Überwachungsstaat gewöhnen sich alle daran, zu lügen. Doch wenn alle lügen, kommt es zu Katastrophen wie der von Tschernobyl am 26. April 1986 – der Totenglocke für das Sowjetsystem – oder zu dem Fiasko der Öffentlichkeitsarbeit, das den Fall der Berliner Mauer nach sich zog: eine stümperhafte Pressekonferenz des Politbüro-Mitglieds Günter Schabowski, der verschwommen zu verstehen gab, dass Reisen ins Ausland «für alle Bürger möglich» seien, was «sofort, unverzüglich» in Kraft trete.

Die Historikerin Mary Elise Sarotte hat in ihrem brillanten Buch «The Collapse: The Accidental Opening of the Berlin Wall» auf einen wichtigen Punkt hingewiesen: Das Fehlen von Vertrauen innerhalb der Parteielite und des Sicherheitsapparates verhinderte eine effektive Rücknahme dieser fatalen Anordnung. Und es veranlasste Harald Jäger, einen hohen Stasi-Offizier, die entscheidende Grenzkontrollstelle lieber zu öffnen, als auf die Menge schiessen zu lassen, die sich nach dem Bekanntwerden von Schabowskis Aussage angesammelt hatte.

6. Zunächst zerfiel die Sowjetmacht an der Peripherie. Deshalb sind Hongkong, Xinjiang und Taiwan die entscheidenden Regionen, auf die zu achten sein wird, und nicht Peking. Die Berliner Mauer fiel im Zuge einer Kettenreaktion, die im Sommer 1988 in Polen begonnen und sich dann nach Ungarn und nach Leipzig (dem zentralen Ort, der zum deutschen Tiananmen-Platz hätte werden können) fortgesetzt hatte, ehe sie Berlin erreichte. Und im Anschluss an Berlin breitete sie sich noch weiter aus: nach Sofia, Prag, Timisoara, Bukarest und weiter nach Vilnius, wo im März 1990 die Unabhängigkeit Litauens proklamiert wurde, und schliesslich 1991 nach Moskau. Ein ähnlicher Prozess wird am Ende auch die «Great Firewall» in China zu Fall bringen.

7. Doch es gibt noch einen weiteren Punkt zu beachten. Nach Ansicht der Wissenschaft (die Ronald Reagan nie besonders ins Herz geschlossen hatte) fiel die Berliner Mauer eher infolge inneren als aufgrund äusseren Drucks. So sagte etwa die ostdeutsche Dissidentin Marianne Birthler, sie hätten zunächst für ihre Freiheit gekämpft und deshalb sei dann die Mauer gefallen.
 
Besser als die Sowjetunion

Als Lehre aus 1989 sollte man sicherlich nicht auf ein Regime wetten, das im Wesentlichen immer noch auf Lenins und Stalins Einparteistaat beruht. Gut – 70 Jahre nach ihrer Gründung ist die Volksrepublik zweifellos in besserer Verfassung als die Sowjetunion 70 Jahre nach der bolschewistischen Revolution. Zudem sind ihre Führer fest entschlossen, die Fehler der Sowjetunion nicht zu wiederholen. Deshalb wird es in China keine politische Transparenz («Glasnost») geben – nicht einmal in Hongkong, und entsprechend in nicht allzu ferner Zukunft auch nicht in Taiwan.

Nichtsdestoweniger möchte ich mit einer weiteren Vorhersage schliessen. Gegenwärtig verbringe ich mehr Zeit in Peking als in Berlin, und Folgendes sehe ich voraus: Das System des Sozialkredits mit seiner Rund-um-die-Uhr-Überwachung wird nicht verhindern können, dass China im Lauf der nächsten 10 oder 20 Jahre zusammenbrechen wird – aufgrund der Kombination aus sich verlangsamender Wirtschaft, einer wachsenden und anspruchsvollen Mittelklasse, einem chronisch korrupten politischen System, einer zersetzenden Kultur der Heuchelei und einer Fragmentierung, die an der Peripherie bereits eingesetzt hat.

Die «Great Firewall» Chinas bröckelt. Und wie in Berlin vor 30 Jahren wird der Prozess durch Druck von aussen beschleunigt werden.

Niall Ferguson ist Senior Fellow am Zentrum für europäische Studien in Harvard und forscht gegenwärtig als Milbank Family Senior Fellow an der Hoover Institution in Stanford, Kalifornien. Der obenstehende Essay ist eine Kolumne, die Ferguson für die britische «Sunday Times» verfasst hat – sie erscheint hier exklusiv im deutschen Sprachraum. Wir danken der «Sunday Times» für die Möglichkeit des Wiederabdrucks. – Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Reuter.

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